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Umbrüche im Nahen Osten - Hintergründe und Handlungs- optionen für westliche Politik und Zivilgesellschaft

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Umbrüche im Nahen Osten - Hintergründe und Handlungs-

optionen für westliche Politik und Zivilgesellschaft

9/2011 Jan Hanrath

Inef Policy Brief

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INEF Policy Brief 9/2011 

Einleitung:  

Die Entwicklungen im Nahen Osten beförderten die Region seit Be‐

ginn des Jahres 2011 einmal mehr ins Rampenlicht der Weltpolitik –  wenngleich mit zunächst positiveren Vorzeichen als in der Vergan‐

genheit. Nach Jahren der Stagnation und der Verkrustung in autoritä‐

ren  Strukturen  begannen  Demokratiebewegungen,  breite  gesell‐

schaftliche Mobilisierungen und in einzelnen Fällen aufständische  Gruppen plötzlich und zunächst erfolgreich gegen diese Zustände  aufzubegehren. Obwohl es bereits seit Jahren in den Gesellschaften  der Region unter der Oberfläche brodelte, überraschten der Zeit‐

punkt, die Geschwindigkeit und vor allem der schnelle Erfolg der  Bewegungen in Tunesien und Ägypten fast alle Beobachter. Begin‐

nend mit dem Sturz Ben Alis in Tunesien war vermeintlich eine Dy‐

namik in Gang gekommen, die nach und nach auf die meisten Länder  der Region überzugreifen schien und erwarten ließ, dass oftmals seit  Jahrzehnten herrschende Eliten gestürzt würden. Doch schon der  beginnende Bürgerkrieg und die darauf folgende internationale Mili‐

tärintervention in Libyen sowie die gewaltsamen Entwicklungen in  Ländern wie Jemen, Bahrain oder ganz aktuell Syrien machten deut‐

lich, dass die Protestbewegungen weder automatisch und schnell in  demokratischen Verhältnissen münden, noch dass diese Revolutio‐

nen identisch verlaufen würden.  

So war auch das häufig bemühte Bild des „Dominoeffekts“ nicht  stimmig, denn es impliziert eine Zwangsläufigkeit und Gleichför‐

migkeit der politischen Umbrüche, die der Realität nicht entspricht. 

Zwar teilen die Länder des Nahen Ostens eine Reihe von Gemein‐

samkeiten  und  durchleben  mitunter  parallele  Entwicklungen.  Sie  unterscheiden sich jedoch in Form und Entwicklung des Staatswe‐

sens, ihren gesellschaftlichen und politischen Strukturen, dem Grad  der sozioökonomischen Entwicklung und dem Status der Zivilgesell‐

schaft erheblich. 

Die deutsche Regierung wie auch zivilgesellschaftliche Akteure sehen  sich aktuell mit einer veränderten Situation konfrontiert, die die Su‐

che nach angemessenen Reaktionsmöglichkeiten und mitunter eine  strategische Umorientierung notwendig macht. Vor allem in den Be‐

reichen der Wirtschafts‐ und Migrationspolitik sowie bei der Bewer‐

tung von und dem Umgang mit gesellschaftlicher Akteuren in der  Region besteht dabei besonderer Reformbedarf. 

Im vorliegenden INEF Policy Brief werden zunächst einige Charakte‐

ristika der gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen Osten zusam‐

Neben einer Reihe  von Gemeinsamkei‐

ten ist der Nahe Osten  durch große Unter‐

schiede geprägt. 

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Jan Hanrath 

mengefasst und besonders das Zusammenspiel von regionalen und  nationalen bzw. lokalen Faktoren analysiert. Nach einer Betrachtung  der Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Politik und Interessen  westlicher Regierungen, wird der Frage nachgegangen, welche Chan‐

cen und Herausforderungen die Umbrüche in der Region für die  deutsche Politik und zivilgesellschaftliches Engagement bedeuten. 

1 Die Staaten im Nahen Osten – 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede 

Die Aneinanderreihung von Protesten und Aufständen unterstützte  einmal mehr die gängige Wahrnehmung, dass es sich bei den Staaten  des Nahen Ostens um eine weitgehend einheitliche, eng verbundene  und geschlossene Region handelt. Die Staaten von Marokko bis O‐

man werden häufig einem politisch‐kulturellen Raum zugeordnet,  der vermeintlich vor allem durch den Islam geprägt ist. Und tatsäch‐

lich beeinflussen sich Entwicklungen in diesem Teil der Welt oftmals  gegenseitig. Auch historisch betrachtet gleicht die Region „einem  gewaltigen Klangkörper, in dem Gedankenströmungen und Informa‐

tionen  weithin  zirkulierten  und  sich  erheblicher  Resonanz  über  Staatsgrenzen hinweg erfreuten“ (Noble 2010: 92, eigene Überset‐

zung). Dies spiegelt sich auch in einer ausgeprägten arabischen Iden‐

tität wider. Gerade  in  den  vergangenen  zwei  Jahrzehnten haben  sich – auch dank der erfolgreichen panarabischen Medien – ein neues  Gemeinschaftsgefühl und eine neue arabische Öffentlichkeit entwi‐

ckelt. Nicht zuletzt, weil die einzelnen nationalen Ideologien – wel‐

cher Art auch immer – mittlerweile völlig diskreditiert sind. Die je‐

weiligen nationalen Kontexte unterscheiden sich jedoch erheblich,  sodass sich regionale Entwicklungen und Ideen mit lokalen Macht‐ 

und Konfliktkonstellationen vermengen. Die Ursachen der jüngsten  Ereignisse dürften daher im Zusammenspiel lokaler und regionaler  Entwicklungen zu finden sein. 

Wenn wir uns die Staaten der Region betrachten, so fallen einige Un‐

terschiede direkt ins Auge. Sie unterscheiden sich erheblich in Größe,  Bevölkerungszahlen und ‐dichte. Auf der einen Seite haben wir große  Flächenstaaten mit teilweise recht geringer Bevölkerung wie z. B. 

Libyen oder Saudi‐Arabien, auf der anderen Seite kleine Staaten und  Territorien mit hoher Bevölkerungsdichte wie z. B. der Libanon, Ku‐

wait oder die palästinensischen Autonomiegebiete. 

Die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung sind extrem  stark  ausgeprägt  und  die jeweiligen gesellschaftlichen  Strukturen  und Lebensbedingungen klaffen entsprechend auseinander. So weist 

Ursachen der jüngs‐

ten Ereignisse liegen  im Zusammenspiel  lokaler und regionaler  Entwicklungen. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

ein bevölkerungsreiches Land wie der Jemen – das häufig auch als  das Armenhaus Arabiens bezeichnet wird – ein Bruttosozialprodukt  pro Kopf und Jahr von nur etwas über 1000 $ auf, während bevölke‐

rungsschwache, aber ölreiche Golfstaaten wie die Vereinigten Arabi‐

schen Emirate oder Katar auf rund 50.000 $ bzw. fast 70.000 $ pro  Kopf und Jahr kommen (World Bank 2011). 

Bezogen auf die politischen Systeme stehen Republiken wie Tunesi‐

en, Ägypten oder Syrien Monarchien wie Marokko, Jordanien oder  Bahrain gegenüber, die jeweils sehr unterschiedlich legitimiert sind  und sehr verschiedene Regierungsstrukturen aufweisen. Die offiziel‐

len Staatsideologien reichen von verschiedenen Formen des säkula‐

ren arabischen Sozialismus und Nationalismus bis hin zu religiösen  Begründungen und Rechtfertigung politischen Handelns. 

Die meisten Länder im Nahen Osten sind sowohl ethnisch als auch  religiös stark heterogen, was sich in unterschiedlichem Maße in der  innergesellschaftlichen Machtverteilung widerspiegelt. Mal dominie‐

ren Machthaber aus einer religiösen Minderheit, wie in Syrien oder  Bahrain, oder es wird umgekehrt wie in Saudi‐Arabien einer Minder‐

heit politische und gesellschaftliche Teilhabe verwehrt, und manch‐

mal sind diese Trennlinien Anlass für immer wiederkehrende Kon‐

flikte und wechselnde Allianzen wie im Libanon. Ähnliches gilt auch  für Stammesstrukturen, die z. B. in Libyen, dem Jemen oder Saudi‐

Arabien von großer Bedeutung für die Innenpolitik sind, während sie  in Ländern wie Ägypten, Palästina oder Tunesien kaum eine Rolle  spielen (Hippler 2008). 

Gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch bildet die Region also  keine Einheit. Allerdings gibt es eine Reihe von Merkmalen und Ent‐

wicklungen, die alle Länder und Systeme dieser Region betreffen –  wenngleich in unterschiedlichem Maße. 

Vielleicht entscheidendste Gemeinsamkeit ist das Demokratiedefizit. 

Keine Region der Welt hat sich in der Vergangenheit so nachhaltig  einem allgemeinen Trend zur Demokratisierung widersetzt. In der  jüngsten Studie von Freedom House wird von den 20 Staaten, die der  Region zugerechnet werden – Israel ist hier ein Sonderfall – kein ein‐

ziges als frei eingestuft, lediglich vier als  ʺteilweise freiʺ (Freedom  House 2011). Hier ist nun nicht der Ort, um auf all die möglichen  Gründe für diese Demokratieresistenz einzugehen, aber einige we‐

sentliche Ursachen liegen sicherlich im kolonialen Erbe, im Vorhan‐

densein von Ölrenten (Beblawi/Luciani 1987) – d. h. von finanziellen  Zuwendungen, denen keine Investitions‐ oder Arbeitsleistungen der  Empfänger gegenüberstehen – sowie in der langjährigen Unterstüt‐

zung der autoritären Regime durch den Westen. Damit mangelt es in  allen Ländern der Region an politischen Partizipationsmöglichkeiten,  Demokratiedefizit als 

Gemeinsamkeit nah‐

östlicher Staaten. 

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Jan Hanrath 

sind  Menschen‐ und Bürgerrechte teilweise massiv  eingeschränkt  und sind die Bürger oft heftiger staatlicher Repression ausgesetzt. Die  politischen Systeme der Region, deren Führungspersonal mitunter  seit Jahrzehnten an der Macht ist, sind zudem von Korruption, Klien‐

telpolitik und Ineffizienz geprägt. 

Bereits 2004 analysierte der Arab Human Development Report die  Abwesenheit von Demokratie und Good Governance in der Region  (UNDP 2005). Den Autoren zufolge sind die arabischen Staatsappara‐

te charakterisiert durch repressive Staatsstrukturen, Fehlen von freien  und fairen Wahlen, korrupte Führungseliten, massive Beschränkun‐

gen der Presse‐ und Versammlungsfreiheit, Menschenrechtsverlet‐

zungen und eine Instrumentalisierung der Justiz durch die Machtha‐

ber. Weiter heißt es: ʺIn einem solchen Regime wird selbst die regie‐

rende Partei zu einem bloßen Teil des Verwaltungsapparates, der von 

‚Beamten geführt wird, die weder über Energie noch Effizienz’ ver‐

fügen. (…) Wir können dieses Modell mit einem ‚Schwarzen Loch’ 

vergleichen, also  mit  dem  astronomischen  Phänomen  erloschener  Sterne, die sich zu einem Materieball verdichten und zu gigantischen  Magnetfeldern werden, aus denen nicht einmal Licht entkommt. Der  moderne arabische Staat nähert sich in einem politischen Sinn diesem  Modell, bei dem der Verwaltungsapparat einem ‚Schwarzen Loch‘ 

gleicht, das seine soziale Umgebung so umformt, dass sich nichts  mehr bewegt und dem nichts entrinnen kannʺ (UNDP 2005: 126 ff.,  eigene Übersetzung). Dieses Grundmodell gilt nicht für alle Staaten  der Region im gleichen Maße, beschreibt aber doch präzise die Reali‐

tät – unabhängig davon, ob es sich um Monarchien oder Republiken  handelt, um  ʺlinkeʺ, säkulare oder religiös legitimierte Regime. In  einigen Ländern, wie z. B. dem Jemen, kommt es dadurch zu Abwei‐

chungen, dass der Staat die Gesellschaft weniger durchdrungen hat,  etwa weil Stämme noch Bereiche und Regionen besetzen, in denen  der Staatsapparat keine durchgreifende Kontrolle ausübt, oder wie  im Libanon die Fragmentierung der Gesellschaft eine umfassende  Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat erschwert oder verhindert. 

In solchen Fällen beschränkt sich die überwältigende Rolle des Staa‐

tes entweder auf Teile des eigenen Landes oder wird durch ein star‐

kes Element der Instabilität ergänzt, das immer wieder in Gewalt  umschlagen kann (Hippler 2011). Insgesamt ist die Distanz zwischen  den Herrschenden und ihren Bevölkerungen heute so groß wie nie  zuvor. Im Gegensatz zu den verkrusteten Machtstrukturen und Herr‐

schaftsapparaten haben  sich  die Gesellschaften  nämlich erheblich  weiterentwickelt.  

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INEF Policy Brief 9/2011 

In vielen Ländern entstand in den letzten Jahrzehnten eine zuneh‐

mend selbstbewusst auftretende Mittelschicht, die nach mehr politi‐

schen  Partizipationsmöglichkeiten  und  gesellschaftlicher  Teilhabe  strebt. Häufig stieg das Bildungsniveau deutlich an (UNDP 2010). 

Gerade der Bevölkerungsanteil mit Universitätsabschlüssen wuchs  lange Zeit als Folge einer Kombination aus einem kostenfreien Hoch‐

schulzugang und einer Jobgarantie im öffentlichen Sektor. Da die  Regime aber immer weniger in der Lage sind, diese Jobs bereit zu  stellen, wächst unter der jungen Bevölkerung und gerade bei Hoch‐

schulabsolventen die Arbeitslosigkeit. Wie auch in anderen Teilen  der Welt machen eine große Jugendbevölkerung, ein steigendes Bil‐

dungsniveau, hohe Jugendarbeitslosigkeit, somit kaum Chancen auf  den Erwerb  von  gesellschaftlichem Status, sowie eine  allgemeine  wirtschaftliche Wachstumsschwäche wesentliche Kriterien von Kri‐

senherden aus (Apt 2011) und bilden so eine der zentralen Grundla‐

gen für die derzeitigen Entwicklungen im Nahen Osten. 

2 Nationale Kontexte und regionale 

Gemeinsamkeiten der Protestbewegungen  und Aufstände 

So unterschiedlich die Länder und ihre politischen Strukturen sind,  so unterschiedlich sind auch die einzelnen Demokratisierungs‐ und  Protestbewegungen und ihre Aktionsmöglichkeiten und Forderun‐

gen. Die jeweiligen Bewegungen tragen daher zunächst einen natio‐

nalen Charakter. Es gibt also kein gemeinsames „gesamtarabisches  Projekt“. Auch kann man nicht sagen, dass die eine Revolution ur‐

sächlich für Aufstände im nächsten Land ist. Aber erfolgreiches Auf‐

begehren dient durchaus als Inspiration für andere Bewegungen, es  finden Lernprozesse statt und teilweise gibt es auch grenzüberschrei‐

tenden Austausch zwischen den Aktivisten. 

Neben der national sehr unterschiedlichen Ausprägung der Proteste  lassen sich allerdings einige Gemeinsamkeiten identifizieren. Ein we‐

sentliches Charakteristikum der Massenmobilisierungen liegt in ihrer  sozialen und ideologischen Breite. An den erfolgreichen Protesten in  Tunesien und Ägypten, aber auch in Bahrain, Jemen und Syrien be‐

teiligen sich wirtschaftlich und sozial benachteiligte und schwache  Bevölkerungsgruppen ebenso wie Intellektuelle, Staatsbeamte, alte  und neue Mittelschichten und Teile der Unternehmerschaft. Städti‐

sche und ländliche Bevölkerung, Männer und Frauen, Junge und Alte  sind genauso vertreten wie rechte, linke, religiöse und säkulare Strö‐

mungen.  

Eine zunehmend  selbstbewusste Mit‐

telschicht und die  steigende (Jugend‐)  Arbeitslosigkeit bil‐

den wesentliche  Grundlagen der der‐

zeitigen Entwicklun‐

gen. 

Die einzelnen Demo‐

kratisierungs‐ und  Protestbewegungen  tragen einen nationa‐

len Charakter. Es gibt  kein „gesamtarabi‐

sches Projekt“. 

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Jan Hanrath 

Dabei sind Islamisten zwar ein Teil der Protestbewegung, spielen  aber bisher – entgegen häufig geäußerter westlicher Befürchtungen –  keine führende Rolle. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten spran‐

gen islamistische Bewegungen auf den fahrenden Zug der Ereignisse  auf, waren jedoch weder eine treibende noch dominante Kraft. Zu‐

dem machten sie klar, dass es auch ihnen um demokratische Refor‐

men geht und sie einen zivilen Staat fordern. 

Als der iranische Oberste Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei  die Massendemonstrationen schlicht zu einer  ʺislamischen Revoluti‐

onʺ erklärte und sie so politisch vereinnahmen wollte, reagierten die  ägyptischen Muslimbrüder prompt. Sie wehrten sich gegen derlei  Vereinnahmungen  und  erwiderten,  dass  es  sich  um  eine  anti‐

diktatorische  und  demokratische  Bewegung  handele  (Ikhwanweb  2011).  

Auch wenn die Proteste in manchen Ländern aufgrund einer hohen  Beteiligung von Frauen mit Kopftüchern oder islamisch formulierten  Parolen stärker religiös geprägt scheinen, bleiben sie im Kern zivil  und auf säkulare, politische Forderungen ausgerichtet. Solche Protes‐

te sind dann eher Ausdruck allgemein konservativerer Gesellschaf‐

ten, als dies z. B. in Tunesien der Fall war.  

Bezeichnend ist, dass sich bislang keine dominierenden Führungsfi‐

guren in den Protesten hausgebildet haben. Die Massenmobilisierun‐

gen fanden meist dezentral organisiert und spontan statt. Dabei se‐

hen die Protestbewegungen die Regime nicht nur als Gegner, sie wol‐

len auch ihr Gegenteil sein. Das heißt, es wird weitgehend auf nicht‐

gewaltsame Formen des Widerstands gesetzt, auf Transparenz und  oftmals auf basisdemokratische Entscheidungsstrukturen.  

Der Verlauf der Entwicklungen in Tunesien und Ägypten aber auch  jüngst in Syrien machen deutlich, dass die Peripherie eine wichtige  Rolle spielt und sich die Bewegungen häufig von dort aus erst auf die  klassischen politischen Zentren auswirken. Zwar haben zentrale Orte  wie der Tahrir‐Platz in Kairo oder der Perlen‐Platz in Manama eine  hohe Symbolkraft und stehen im Zentrum der medialen Öffentlich‐

keit. Die Massenproteste werden jedoch häufig erst möglich durch  die Unterstützung in abgelegeneren Teilen des Landes und weiten  sich so zur Revolution aus (Bamyeh 2011: 43).  

2.1 Die Rolle von Facebook, Twitter & Co 

Gerade westliche Beobachter der Proteste fasziniert in besonderem  Maße die Rolle, welche neue Kommunikationsmittel wie Facebook,  Twitter und Youtube bei der Organisation der Proteste und der Mo‐

Islamisten spielen  keine führende Rolle  in den Protestbewe‐

gungen. 

Die Bedeutung der  neuen Medien sollte  nicht überschätzt  werden. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

bilisierung der Massen spielen. Dabei sollte jedoch deren Bedeutung  nicht überschätzt werden. Sie sind eher ein Symptom grundlegender  Veränderung  als  deren  Ursache.  Die  Bezeichnung  „Facebook‐

Revolution“ trifft also nicht den Kern der Ereignisse. Für die regiona‐

le und weltweite Verbreitung von Informationen über aktuelle lokale  Ereignisse und Entwicklungen ist die Bedeutung von sozialen Medi‐

en von enormer Bedeutung. Durch Twitterfeeds und Statusmeldun‐

gen auf Facebook lassen sich die Geschehnisse vor Ort an jedem  Computer oder Handy auf der Welt mitverfolgen. Durch Blogs und  im Netz veröffentlichte Kurzvideos erfährt die Welt von den Protes‐

ten und den Reaktionen der Regierungen. Zudem greifen klassische  Medien auf das Internet zur Informationsbeschaffung zurück.  

Bereits bei den Protesten im Iran 2009 machte schnell das Schlagwort  von der „Twitter‐Revolution“ die Runde, wobei jedoch bald klar  wurde, dass hier manches Wunschdenken eine Rolle spielte. Denn  für die Organisation der Proteste vor Ort und die Mobilisierung der  Massen in den Städten waren klassische Kommunikationsformen wie  Mund‐zu‐Mund‐Propaganda und Flugblätter weit wichtiger als die  neuen sozialen Medien. In Tunesien und Ägypten stieg die Bedeu‐

tung von sozialen Netzwerken zur Organisation von Protesten zwar  deutlich an. In Ägypten fanden sich z. B. innerhalb kürzester Zeit  zehntausende Unterstützer der Facebook‐Seite „Wir sind alle Khaled  Said“, die zu Protesten aufrief. Doch auch hier waren es Flugblätter  und die Kommunikation über klassische Kanäle, die letztendlich zu  der massenhaften Mobilisierung führten. Interessanter Weise spielten  allerdings Internetcafés als real existente Orte eine wichtige Rolle als  Treffpunkte und Sammelplätze der Protestbewegung. Deutlich wird  das Ganze auch in Statistiken zur Mediennutzung in arabischen Län‐

dern. Studien zeigen, dass sich dort nach wie vor rund 85 % der Be‐

völkerung über das Fernsehen über internationale Nachrichten in‐

formieren. Das Internet liegt mit 8 % auf einem weit abgeschlagenen  zweiten Platz (Telhami 2010: 79 ff.). 

Ähnlich wie im Falle der Online‐Berichterstattung und der sozialen  Netzwerke können die Enthüllungen über nahöstliche Regime auf  der Internetplattform Wikileaks nicht als ursächlich für die Aufstän‐

de gesehen werden. An gewissen Punkten haben sie die Dynamik  jedoch unterstützt. Zudem legten sie schonungslos offen, wie be‐

wusst den westlichen Regierungen die Zustände und Machenschaf‐

ten der Regime im Nahen Osten waren. 

Einen weitaus entscheidenderen Beitrag leisteten arabische Fernseh‐

sender wie Al Jazeera und Al Arabiya. Durch ihre Berichterstattung  verbreiteten sie Informationen über die Proteste in die gesamte Regi‐

on und zeigten, dass die Regime die Kontrolle verloren. So trugen sie  Klassische Kommuni‐

kationskanäle bleiben  wichtig für die Mas‐

senmobilisierung. 

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zu einem Übergreifen der Proteste auf weitere Länder bei. Durch ihre  weite Verbreitung über Satellit – und bis zum Eingreifen mancher  Machthaber auch über lokale Kabelnetze – sowie ihren Einfluss auf  die arabische Öffentlichkeit offenbarten die Sender, dass die Regime  der Region in Frage gestellt und überwunden werden können.  

Bereits seit der Mitte der 1990er Jahre erlebte ein gesamtarabisches  Denken eine Art von Wiedergeburt  ‐ diesmal jedoch nicht durch  staatliche Ideologien des Panarabismus, sondern durch die gestiege‐

ne Bedeutung arabischer Medien auf einer nicht‐staatlichen, indivi‐

duelleren Ebene (Valbjørn 2009: 163 ff.). Es entwickelte sich eine neue  arabische Öffentlichkeit, die nicht mehr durch ein staatliches Medi‐

enmonopol zu kontrollieren ist. Diese Medien brachen mit der Tradi‐

tion üblicher Hofberichterstattung. Sie waren zwar westlicher Politik  durchaus kritisch eingestellt – so etwa im Irakkrieg, nahmen aber  vorher  ungewohnte Themen auf und berichten  zunehmend  auch  über  Menschenrechtsverletzungen, sozioökonomische  Ungleichheit  und andere Defizite der autoritären Regime (Lynch 2006). Besonders  dem Sender Al Jazeera wurde und wird von diesen Regimen daher  immer wieder vorgeworfen, die Proteste anzuheizen und die Länder  spalten zu wollen.  

2.2 Nationale politische Gelegenheitsstrukturen 

Der Erfolg der einzelnen Aufstände und Protestbewegungen hängt  jedoch in hohem Maße vom jeweiligen nationalen Kontext ab. Also  dem, was in den Theorien der sozialen Bewegungen auch die politi‐

schen  Gelegenheitsstrukturen  genannt  wird  (Tarrow  1996:  54 ff.). 

Hier stellen sich z. B. Fragen nach einer möglichen Spaltung inner‐

halb der Eliten oder der Führungsclique und nach Machtverschie‐

bungen im System. 

Ein entscheidender Faktor beim Verlauf und Erfolg der Proteste lag  und liegt in der Rolle des Militärs. Wenn es den Herrschern gelingt,  die Repressionsapparate in der Hand zu behalten, eröffnet sich die  Möglichkeit, die Proteste trotz ihrer Breite und Verankerung gewalt‐

sam  niederzuschlagen. Auch das schnelle  Umschlagen friedlicher  Proteste in einen Bürgerkrieg in Libyen unterstreicht diesen Punkt: 

Solange die Regime also die Kontrolle über das Militär, die Polizei  und Geheimdienste nicht verlieren, behalten sie eine Chance, durch  Repression an der Macht zu bleiben. Ägypten und Tunesien haben  hingegen gezeigt: Sobald die Regime sich nicht mehr auf die Repres‐

sionsorgane stützen können, brechen sie in sich zusammen. 

Deshalb hängen die Erfolgsaussichten der Proteste in vielen Ländern  nicht allein vom Mobilisierungsniveau der Bevölkerung ab, sondern 

Sender wie Al Jazeera  oder Al Arabiya tra‐

gen in hohem Maße  zum Entstehen einer  neuen arabischen  Öffentlichkeit bei. 

Ein wichtiger Faktor  beim Verlauf der Pro‐

teste ist die Rolle des  Militärs. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

auch davon, ob die herrschenden Eliten gespalten werden können. In  einem solchen Fall kann dies entweder zu einer Lähmung des Re‐

gimes oder gar zum Anschluss eines Teils des alten Machtapparates  an die Opposition führen – im besten Fall dann zu einem Sturz des  Regimes durch übergelaufene militärische und zivile Eliten.  

Ein entscheidender Faktor, ob es den Regimen gelingt, sich dem  Druck aus der Bevölkerung heraus zu widersetzen, ist die Zusam‐

mensetzung der jeweiligen Gesellschaft. In der Vergangenheit wur‐

den immer wieder eine hohe innergesellschaftliche Fragmentierung  oder das Vorhandensein mehrerer Machtzentren als Ursachen für  schwache Staaten und Regierungen identifiziert (Buzan 1991: 96 ff.,  Ayoob 1995). Solche Strukturen und Dynamiken, die zunächst einen  destabilisierenden Effekt zu haben scheinen, können jedoch auch von  Vorteil für den Machterhalt der Regime sein. So ist es in solchen Fäl‐

len einfacher, unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen und In‐

teressengruppen nach dem altbekannten Prinzip „divide et impera“ 

gegeneinander auszuspielen. Zudem ist bei mehreren Machtzentren  die Gefahr geringer, dass Staatsversagen und korruptes Verhalten  einer einzelnen Person oder eng begrenzten Gruppe angelastet wird. 

So ist es für Protestbewegungen schwieriger, den Zorn auf ein be‐

stimmtes Hassobjekt zu kanalisieren. In Tunesien und Ägypten wa‐

ren es vor allem die Symbolfiguren Ben Ali und Mubarak, auf die  sich der Volkszorn richtete. Auch im Falle Libyens ist das ganze  Staatssystem in extremem Maße auf die Person Muammar Gaddafis  ausgerichtet, sodass sein Sturz gleichzeitig auch das Zusammenbre‐

chen des ganzen Staatsapparates bedeuten würde. In Algerien hinge‐

gen gibt es z. B. mit dem Präsidenten und einer Reihe von einflussrei‐

chen Militärführern mehrere konkurrierende Machtzentren. Die ge‐

ringere Personalisierung und die Ungewissheit, wer gerade die Kon‐

trolle über bestimmte Bereiche der Politik oder der Wirtschaft hat,  machen es einfacher, die Verantwortung auf andere abzuwälzen (As‐

seburg/Werenfels 2011: 2 f.). 

Es kommt folglich darauf an, wie flexibel die Regime auf den Druck  reagieren können. Neben dem Rückgriff auf einen Repressionsappa‐

rat oder aber auch der möglichen Unterstützung durch externe Ver‐

bündete spielt hier die Verfügbarkeit von Ressourcen eine entschei‐

dende Rolle. Das heißt welche Mittel eine  Regierung  aufwenden  kann, um bestimmte Bevölkerungsgruppen „einzukaufen“ und ruhig  zu  stellen.  Paradebeispiel  dafür  ist  König  Abdallah  von  Saudi‐

Arabien, der umgehend ein Investitionspaket von rund 36 Milliarden  US‐Dollar  auflegte, um  sich  der  Loyalität verschiedener  Bevölke‐

rungsgruppen zu versichern (Christian Science Monitor 23.2.2011). 

Doch auch in weiteren Staaten der Region wurden Geldzahlungen an  Wie flexibel die Re‐

gime auf Druck rea‐

gieren können, ist  entscheidend für den  Verlauf der Proteste. 

(11)

Jan Hanrath 

die Bevölkerung angewiesen und Programme zur Schaffung von Ar‐

beitsplätzen initiiert.  

Berücksichtigt man all diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede, so  bleibt es schwer vorherzusehen, welche Richtung die Entwicklungen  in der Region einschlagen werden. Nach einem optimistischen Be‐

ginn haben Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien je ganz unterschied‐

lich gezeigt, dass auch Eskalationen möglich sind und Demokratie‐

bewegungen auf erhebliche Widerstände stoßen. Doch auch in Tune‐

sien und Ägypten hat die Revolution noch nicht gesiegt. Es zeigen  sich mächtige Beharrungskräfte und es bleibt fraglich, wie weit sich  die politischen Systeme tatsächlich öffnen.  

Die politische Landschaft im Nahen Osten erlebt gerade den deut‐

lichsten Wandel der vergangenen Jahrzehnte. In welche Richtung  sich konkret die einzelnen Staaten entwickeln, ist schwer prognosti‐

zierbar und teilweise abhängig von Zufällen und Einzelereignissen. 

Es lassen sich jedoch aus den jüngsten Entwicklungen bereits einige  Tendenzen ablesen. So scheint das Zeitalter, in dem autoritäre Re‐

gime die einzige Regierungsform darstellten, vorbei zu sein und eine  Rückkehr zur Erstarrung der Vergangenheit höchst unwahrschein‐

lich. Auch wenn es noch zu früh ist, konkrete Prognosen anzustellen,  so ist bereits absehbar, dass sich das Spektrum der Regimeformen in  der Region erweitern wird. Möglicherweise werden auch Demokra‐

tien darunter zu finden sein. Doch trotz aller Veränderungen werden  autoritäre Strukturen in unterschiedlichem Ausmaß ein wesentliches  Merkmal der nahöstlichen Regime bleiben. 

3 Interessen und Politikziele westlicher  Regierungen im Nahen Osten 

Im  Gegensatz  zu  Demokratiebewegungen  in  anderen  Teilen  der  Welt, besonders in Osteuropa, wurden die Entwicklungen im Nahen  Osten seitens des Westens zunächst sehr zurückhaltend aufgenom‐

menen. Anstelle von Euphorie herrschte die Sorge vor Instabilität in  der Region. Teilweise gab es zunächst sogar Unterstützungsangebote  an die Machthaber, um mit den „Unruhen“ fertig zu werden. So bot  z. B. die französische Regierung dem tunesischen Präsidenten Ben Ali  zu Beginn der Aufstände noch militärische Hilfe an (Meier 2011). 

Immer schwangen Befürchtungen mit, dass ein Sturz der Regime in  den Staaten des Nahen Ostens zum einen den Islamisten Tür und Tor  öffnen und zum anderen unkontrollierbare Migrationsströme auslö‐

sen würde. Erst zögerlich erfolgte eine Parteinahme für die Protest‐

bewegungen in Tunesien und dann in Ägypten. Auch die ersten Re‐

Das Spektrum der  Regimeformen wird  sich erweitern. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

aktionen der deutschen Bundesregierung bekundeten zwar einerseits  ihre Solidarität mit den Demonstranten, vermieden es aber, sich klar  von den jeweiligen Machthabern zu distanzieren (Weiland 2011, Wes‐

terwelle 2011). 

Hier werden die Probleme deutlich, die sich aus dem breiten Interes‐

senspektrum der westlichen Regierungen ergeben. Die aus diesen  Interessen abgeleiteten Politikziele, konkrete wirtschaftliche und si‐

cherheitspolitische auf der einen Seite und wertebasierte auf der an‐

deren Seite, sind mitunter nicht einfach zu vereinbaren bzw. können  sich in der politischen Praxis widersprechen.  

Die wirtschafts‐ und sicherheitspolitisch motivierten Ziele lassen sich  folgendermaßen zusammenfassen: Erstens geht es um die Sicherung  der Energieversorgung durch das Öl und Gas der Region – und das  Ganze zu einem erträglichen Preis; zweitens um die Gewährleistung  der Kooperation in weiteren wirtschaftlichen und politischen Fra‐

gen – hier spielt die Migrationspolitik eine ganz besondere Rolle; drit‐

tens um den Schutz vor islamistischem Terrorismus und möglichst  bereits schon im Vorfeld die Vorbeugung eines Erstarkens radikaler  religiöser Bewegungen; viertens um die Sicherheit und Stabilität Isra‐

els – Deutschland sieht sich hier in einer besonderen historischen  Verpflichtung – sowie weiterer westlicher Partnerländer; und fünf‐

tens – nach den jüngsten Entwicklungen noch mehr als zuvor – die  Vermeidung von chaotischen Situationen in einzelnen Ländern bzw. 

die Förderung regionaler Stabilität. Hier spielt auch die Sorge vor  einer nuklear aufgerüsteten Regionalmacht Iran mit hinein. Als wer‐

tebasierte Ziele westlicher Außenpolitik gelten u.a. die Vermeidung  von  humanitären  Notsituationen,  die Förderung von  Demokratie  sowie die Achtung von Menschenrechten (Hippler i.E.). 

Diese Interessenlage hat sich durch die Umbrüche in der arabischen  Welt nur unwesentlich verändert, wenngleich nun über veränderte  Strategien diskutiert wird. In der Vergangenheit blieben die werteba‐

sierten Zielsetzungen meist im Bereich des Rhetorischen und wurden  den interessengeleiteten in der Regel untergeordnet oder als schmü‐

ckendes Beiwerk verstanden (z. B. im Falle von Waffenlieferungen an  autoritäre Regime wie Saudi‐Arabien oder Ägypten, der Zusammen‐

arbeit in Migrationsfragen mit Diktatoren wie Gaddafi oder der still‐

schweigenden Akzeptanz von Menschenrechtsverletzungen in ver‐

schiedenen arabischen Ländern im Zuge des Kampfes gegen den Ter‐

rorismus, um nur einige zu nennen). Dies hat dazu geführt, dass  westliche Regierungen vor allem auf Stabilität und eine Kooperation  mit den autoritären Regimen gesetzt haben. Letztere hatten sich im‐

mer wieder erfolgreich als einzige Garanten für Stabilität und vor  allem als verlässliche Partner im Kampf gegen den Terrorismus ver‐

Westliche Nahostpoli‐

tik steht vor der gro‐

ßen Herausforderung,  wirtschafts‐ und si‐

cherheitspolitische  Ziele mit wertebasier‐

ten zu vereinbaren. 

Die Interessenlage  westlicher Regierun‐

gen hat sich durch die  Umbrüche in der  arabischen Welt nur  unwesentlich verän‐

dert. 

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Jan Hanrath 

kaufen können. Nach Martin Beck können die Staatsbürokratien des  Nahen Ostens als „Agenturen von  Politikspezialisten“ bezeichnet  werden, „die es gelernt haben, auf diplomatischem Parkett kosmeti‐

sche Korrekturen als weitreichende Reformen und repressive Maß‐

nahmen als im kollektiven Interesse liegende Sicherheitspolitiken zu  vermitteln“ (Beck 2010: 39). 

Trotz anders lautender Erklärungen wurden bislang entweder die  autoritären Regime der Region im Interesse von Stabilität und Ko‐

operationsbereitschaft gestützt  oder aber versucht, die Ergebnisse  von Demokratisierungsprozessen im Vorfeld bereits vorzuschreiben  (erinnert sei z. B. an die Forderungen nach freien Wahlen in den pa‐

lästinensischen Autonomiegebieten und die darauf folgende Isolie‐

rung der Wahlsiegerin Hamas). Der Westen trägt daher eine Mitver‐

antwortung an den politischen und wirtschaftlichen Zuständen, die  nun zu den Aufständen und Protesten geführt haben. 

4 Notwendigkeit einer Neuorientierung  westlicher Nahostpolitik 

Das Scheitern der autoritären Staaten im Nahen Osten macht die  Fortführung eines westlichen Ansatzes zunehmend problematisch,  wenn nicht unmöglich, der vermeintliche Stabilität durch die Unter‐

stützung dieser Regime zu erkaufen sucht. Wie weit auch immer ein  politischer Wandel in den einzelnen Ländern gehen wird, auch in  diesem Teil der Welt können sich die Herrschenden nicht mehr den  Stimmen aus der Gesellschaft versperren.  

Die wachsende innenpolitische Rolle (zivil‐)gesellschaftlicher Akteu‐

re und ihre Wahrnehmung der westlichen und deutschen Außenpoli‐

tik werden deshalb von eher peripheren zu zentralen Faktoren der  Politikformulierung  und  ‐implementation.  Neben  wirtschaftlichen  und militärischen Mitteln werden zunehmend Instrumente eine Rolle  spielen, die die Bevölkerungen als Adressaten in den Blick nehmen  und die Erreichung der gesetzten Ziele durch Attraktivität und Über‐

zeugung zu erreichen vermögen. Es wird darum gehen, auf die Ziele  und Präferenzen der politischen Akteure im Sinne der eigenen Inte‐

ressen einzuwirken, um so Einfluss auf die Entwicklungen in der  Region zu nehmen. Zentraler Punkt für die Wirksamkeit und die  Möglichkeiten  einer  solchen  Außenpolitik  wird  der  Grad  ihrer  Glaubwürdigkeit sein.  

Durch ihre wachsen‐

de innenpolitische  Rolle rücken zivilge‐

sellschaftliche Akteu‐

re in das Zentrum  westlicher Politikfor‐

mulierung und   –implementation. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

Die westliche Außenpolitik und besonders die Demokratieförderung  im Nahen Osten tragen aufgrund der in der Vergangenheit angeleg‐

ten doppelten Maßstäbe (z. B. im Falle der Missachtung von UN‐

Sicherheitsratsresolutionen durch Israel und arabische Staaten oder  der einseitigen Unterstützung pro‐westlicher Akteure in der Zivilge‐

sellschaft) und eines inkonsequenten Vorgehens die schwere Hypo‐

thek einer stark beschädigten Glaubwürdigkeit. Dementsprechend  gilt es, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen und so auch die  Möglichkeiten deutscher Politik zu stärken. Es müssen die passenden  Instrumente gefunden werden, die nicht nur kurzfristigen Erwägun‐

gen unterworfen sind, sondern auch langfristig eine positive Ent‐

wicklung unterstützen. Die Interessen der Bürgerinnen und Bürger  der Staaten in der Region sollten dabei stärker als bisher in den Mit‐

telpunkt gerückt werden. Das heißt außerdem, dass auch im Sinne  weiterer Interessen westlicher Regierungen den normativen Zielen  von Demokratieförderung und Einhaltung der Menschenrechte ein  höherer Stellenwert eingeräumt werden muss. Ein bloßer rhetorischer  Verweis auf die Wichtigkeit dieser Aspekte – wie in der Vergangen‐

heit so oft passiert – untergräbt die Glaubwürdigkeit und verengt den  politischen Handlungsspielraum. 

5 Anknüpfungspunkte für westliche  Demokratieförderung und 

zivilgesellschaftliches Engagement 

So groß die Vielfalt der Faktoren und Akteure ist, die eine Rolle in  den derzeitigen Umbrüchen im Nahen Osten spielen, so breit ist auch  das Spektrum der Anknüpfungspunkte, an denen deutsche und eu‐

ropäische Aktivitäten zur Unterstützung von Demokratisierungspro‐

zessen ansetzen können. Dies reicht von der wirtschaftlichen Zu‐

sammenarbeit und Hilfe über die Unterstützung bei der Reform von  Staatsapparaten und Regierungssystemen bis hin zur Förderung der  Zivilgesellschaft und  einer  demokratischen  politischen  Kultur.  In  vielen dieser Bereiche gibt es bereits positive Ansätze und Kooperati‐

onen, die weiter ausgebaut werden müssen. Selbst wenn die Aktivitä‐

ten westlicher Akteure im Bereich der Demokratieförderung bislang  zu eher dürftigen Ergebnissen geführt haben, bieten sie einen reichen  Erfahrungsschatz und die Möglichkeit, die Fehler der Vergangenheit  zu vermeiden (Hanrath 2008a). 

Will die deutsche und westliche Nahostpolitik allgemein und die  Unterstützung von Demokratie‐ und Reformbewegungen in der Re‐

Entscheidender Fak‐

tor für den Erfolg  westlicher Außenpoli‐

tik ist ihre Glaubwür‐

digkeit. 

(15)

Jan Hanrath 

gion im Besonderen glaubwürdig und nachhaltig sein, so muss es zu  einer Neuorientierung vor allem in drei Bereichen kommen:  

1.  muss die Abschottung Europas in wirtschafts‐ und migrationspoliti‐

scher Hinsicht abgebaut werden,  

2.  müssen die gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen sowie ins‐

besondere die zivilgesellschaftlichen Akteure in den Zielländern eine  stärkere Berücksichtigung finden und 

3.  muss die Kommunikation mit der arabischen Öffentlichkeit und die  Selbstdarstellung deutscher Nahostpolitik verbessert werden. 

5.1 Reform der Wirtschafts‐ und Migrationspolitik 

Um den Ökonomien im Nahen Osten tatsächlich langfristig zu hel‐

fen, müssen die europäischen Märkte für Produkte aus der Region  geöffnet und die Abschottung des europäischen Binnenmarktes ab‐

gebaut werden. Dies gilt vor allem gegenüber den Ländern, in denen  bereits ein Transformationsprozess begonnen hat. Hier ist es beson‐

ders wichtig, dass ein solcher Wandel auch von ökonomischen Ver‐

besserungen für breite Teile der Bevölkerung begleitet wird. Wie be‐

reits erläutert wurde, stellen wirtschaftliche Missstände und insbe‐

sondere die hohe (Jugend‐)Arbeitslosigkeit wesentliche Instabilitäts‐

faktoren in den Staaten der Region dar. Zwar war es dieser gesell‐

schaftliche Druck, der einen entscheidenden Beitrag zu den Aufstän‐

den  geleistet  hat.  Um  beginnende  Demokratisierungsprozesse  zu  konsolidieren, müssen diese Probleme nun angegangen werden. Der  europäische Agrarprotektionismus verschärft z. B. das Problem feh‐

lender Arbeitsplätze weiter und verhindert eine nachhaltige Entwick‐

lung. Die Märkte des Nahen Ostens werden mit subventionierten  Produkten überschwemmt, während der Zugang zum europäischen  Markt blockiert wird. Im Interesse einer lebensfähigen Wirtschaft  abseits  der  Rohstoffexporte  müssen  Handelsbarrieren  konsequent  abgebaut werden. Hier kann Deutschland als einflussreiches Mit‐

gliedsland der EU, das zudem in hohem Maße von den Subventionen  und der Abschottung profitiert, eine Vorreiterrolle spielen und sich  für einen Politikwandel einsetzen. Neben den direkten wirtschaftli‐

chen Auswirkungen würden deutsche und westliche Regierungen  weiter an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie in zentralen Politik‐

bereichen die Bereitschaft demonstrieren, die Interessen der sich de‐

mokratisierenden Länder stärker zu berücksichtigen. 

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch die Abschottung Eu‐

ropas gegenüber Migration aus dem Nahen Osten und Sub‐Sahara‐

Afrika zu lockern (für viele Migranten aus dem südlichen Afrika die‐

nen die Staaten Nordafrikas lediglich als Transitstaaten). Durch die 

Die Abschottung des  europäischen Bin‐

nenmarktes muss  abgebaut werden. 

Migration nach Euro‐

pa muss erleichtert  werden. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

effektive Abriegelung  der  EU‐Außengrenzen verschließt  sich  den  Ländern des Südens ein wichtiges Überdruckventil. Kernpunkte der  EU‐Strategie sind die Auslagerung der Migrationskontrolle und die  Rückführung der „illegalen“ Migranten. Hier setzte die EU zum ei‐

nen auf die Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimen, wie z. B. 

dem libyschen, dem rund 50 Millionen Euro dafür zugesagt wurde,  die Migranten an einer Weiterreise zu hindern (Borchardt 2011: 71 f.). 

Zum anderen auf den massiven Ausbau der Europäischen Agentur  für  die  operative  Zusammenarbeit  an  den  Außengrenzen  (FRONTEX), deren Budget von 2005 bis 2011 auf fast 90 Millionen  Euro mehr als vervierzehnfacht wurde (FRONTEX 2011). 

Dringend notwendig ist ein rationaler Umgang mit den Migrations‐

bewegungen, der vor allem auf den tatsächlichen Migrationszahlen  fußt  und  nicht  auf  den reißerischen  Diskursen  von „Flüchtlings‐

Tsunamis“ und „Migranteninvasion“. Die illegale Migration über das  Mittelmeer hat z. B. in keiner Weise ein bedrohliches Ausmaß oder  stellt gar eine Überforderung der europäischen Länder dar (Riedel  2011: 7 ff.). Die temporäre Emigrationsmöglichkeit kann jedoch für  viele Volkswirtschaften des Südens eine zeitweise Entlastung bieten  und durch die Rücküberweisungen der Migranten zur wirtschaftli‐

chen Entwicklung der nahöstlichen Staaten beitragen.  

Um Glaubwürdigkeit für Politiken zu gewinnen, die im Namen der  Menschenrechte geführt werden, muss auch auf die Einhaltung der  Menschenrechte in der europäischen Einwanderungspolitik geachtet  werden. Die Fehler vergangener Migrationspolitik sollten daher be‐

hoben und nicht die nordafrikanischen Regime für ihren menschen‐

unwürdigen Umgang mit Migranten belohnt werden, solange sie  diese von der Weiterreise nach Europa abhalten. Zudem muss auch  bei FRONTEX auf mehr Transparenz und die strikte Einhaltung von  menschenrechtlichen Standards gedrängt werden. 

Die Rolle der deutschen Zivilgesellschaft liegt im Bereich der Wirt‐

schafts‐ und Migrationspolitik vor allem in der Lobbyarbeit und im  Aufbau eines Drucks für einen solchen Politikwandel. Hier kann sie  für eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Themen wie Migration  und Entwicklung eintreten. 

5.2 Zivilgesellschaftliche Akteure in den Fokus nehmen 

Die Aufstände und Reformbewegungen haben die Bedeutung der  Bevölkerungen und der arabischen Öffentlichkeit deutlich gemacht. 

Um Einfluss auf die Entwicklungen in der Region nehmen zu kön‐

nen, müssen zivilgesellschaftliche Akteure daher stärker in den Fo‐

kus der deutschen Außenpolitik und der Aktivitäten der deutschen  Ein rationaler Um‐

gang mit Migrations‐

bewegungen ist drin‐

gend notwendig. 

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Jan Hanrath 

Zivilgesellschaft rücken. Das bedeutet einerseits, Gruppen, Zusam‐

menschlüsse und Einzelpersonen zu stärken und in ihren politischen  Aktivitäten zu unterstützen. Das heißt andererseits auch, sie als poli‐

tische Akteure ernst zu nehmen und sie als Adressaten deutscher  Außenpolitik und ihrer Vermittlung zu verstehen. 

Was die bislang sehr lose organisierten Protestbewegungen im Nahen  Osten angeht, können deutsche und europäische Akteure – seien sie  nun staatlich oder zivilgesellschaftlich – Hilfe bei deren Konsolidie‐

rung leisten, um sie bei der Durchsetzung ihrer Forderungen im an‐

stehenden Transitionsprozess zu unterstützen. Was sich während der  Proteste noch als Vorteil erwies – z. B. die dezentrale Organisation,  das Fehlen von Führungspersönlichkeiten etc. – kann sich nun nega‐

tiv auf eine Einflussnahme im politischen Prozess nach den Umbrü‐

chen auswirken. Gerade angesichts auf absehbare Zeit fortbestehen‐

der autoritärer Strukturen sollten  zivilgesellschaftliche Akteure in  ihrer  Rolle  als Kontrollorgan  und  kritischer Watchdog  unterstützt  werden. Um auch solche Organisationen und Zusammenschlüsse der  Zivilgesellschaft zu erreichen, die eben keinen hohen Organisations‐

grad aufweisen, ist auch auf europäischer Ebene die Rückkehr zum  Prinzip der dezentralen Kooperation notwendig. Zwar gab es nie eine  offizielle Abkehr  von diesem  Ansatz  in den diversen  Förderpro‐

grammen der EU, in der Praxis dominieren jedoch zentrale Koopera‐

tionsmechanismen und die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in  den Partnerländern (Hanrath 2008b). 

Demokratie beschränkt sich nicht allein auf die Durchführung von  Wahlen und einen möglichen Regierungswechsel. Vielmehr müssen  sich Partizipation der Bürger, solider öffentlicher Glaube an demo‐

kratische Prinzipien,  Verantwortlichkeit und Interaktion  zwischen  Staat und Gesellschaft umfassend und auf allen gesellschaftlichen  Ebenen entwickeln. Es ist daher notwendig, das Spektrum der Ko‐

operationspartner in den Gesellschaften zu erweitern und ideologi‐

sche Scheuklappen abzulegen. Es sollte vielmehr mit allen Kräften  zusammengearbeitet werden, die für einen friedlichen Wandel ein‐

treten. Ob es sich dabei um islamistische Gruppierungen, säkulare  Kräfte oder sonstige Bewegungen handelt, sollte dabei keine Rolle  spielen. 

Im Bereich der islamistischen Parteien und Bewegungen gibt es näm‐

lich eine Vielzahl von Akteuren, die aktiv im Demokratisierungspro‐

zess involviert sind. Sie sollten daher auch als Ansprech‐ und Koope‐

rationspartner ernst genommen und in einen kritischen Dialog einbe‐

zogen werden. Hier ist also eine differenzierte Betrachtung des is‐

lamistischen Lagers notwendig. 

Protestbewegungen  müssen bei ihrer Kon‐

solidierung unter‐

stützt werden. 

Unabhängig von ihrer  ideologischen Aus‐

richtung sollte mit  allen Kräften koope‐

riert werden, die für  einen friedlichen  Wandel eintreten. 

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INEF Policy Brief 9/2011 

Um den innergesellschaftlichen Dialog zu fördern und teilweise not‐

wendige Versöhnungsprozesse zu begleiten, sollten darüber hinaus  Runde Tische und Dialogforen mit breiter gesellschaftlicher Reprä‐

sentation initiiert und unterstützt werden. Hier können z. B. die poli‐

tischen Stiftungen oder NGOs eine positive Rolle als Organisatoren  und Mediatoren spielen. Ziel sollte es sein, den Rahmen für solche  Begegnungen zu schaffen, nicht jedoch die Agenden vorzugeben. 

5.3 Kommunikation und Außendarstellung verbessern 

Neben der inhaltlichen Neuausrichtung der deutschen Nahostpolitik  und der Ausweitung des Spektrums an Kooperationspartnern sollte  die Bundesregierung auch ihre Außendarstellung und ihre Kommu‐

nikation mit den dortigen Gesellschaften verbessern. 

Noch vor wenigen Jahren hatte die neue arabische Öffentlichkeit, in  der sich wie erläutert kritische Meinungen und politischer Dialog auf  einer medialen Ebene entwickeln konnten, die Grenzen ihrer Mög‐

lichkeiten erreicht. Weitgehend losgelöst von den lokalen Beschrän‐

kungen und der staatlichen Kontrolle konnten sich auf einer eher  regionalen Ebene Diskussionen gegenseitig befruchten und Reform‐

vorstellungen herausbilden. Es gelang jedoch nicht, diese Dynamik  wieder zurück auf die Ebene der einzelnen Staaten zurückzuführen  und dort einen politischen Wandel auszulösen (Lynch 2006). Die aus  den Bevölkerungen erwachsenen und von einer großen Bandbreite  gesellschaftlicher Akteure getragenen Reformbewegungen – und in  einzelnen Fällen gar der Sturz der Machthaber durch diese – zeigen  nun jedoch die Vitalität und Handlungskraft der Öffentlichkeit ge‐

genüber ihren Regierungen. Daher ist es für die Bundesregierung  wichtig, die Bevölkerungen in das Zentrum ihrer Politik zu nehmen,  gesellschaftliche Dynamiken zu verstehen und mit „der arabischen  Straße“ zu interagieren. 

Das heißt sie muss stärker als bisher den Dialog mit gesellschaftlichen  Akteuren suchen, um die Öffentlichkeiten dieser Länder im Interesse  deutscher Politiken zu gewinnen und ein positives Deutschlandbild  zu stärken. Dabei sollten zunehmend interaktive Ansätze verfolgt  werden. Die neue arabische Öffentlichkeit zeichnet sich vor allem  durch Partizipation und Dialogorientierung aus (Lynch 2006: 32). 

Deutsche politische Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation  mit  den ausländischen Gesellschaften sollten daher  wechselseitig sein  und die Ziele und Vorstellungen der Bundesregierung klar vermit‐

teln. Neue Medien und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter  bieten dabei eine Vielzahl von Möglichkeiten, wobei sie jedoch nicht  lediglich als neue Kanäle zur einseitigen Verbreitung von Informati‐

Westliche Politik  muss stärker den  Dialog mit der arabi‐

schen Öffentlichkeit  suchen. 

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Jan Hanrath 

on missverstanden werden dürfen. Vielmehr geht es darum, über  diese Medien mit dem Zielpublikum in Kontakt und Austausch zu  kommen. Vertreter der Bundesregierung sollten zudem öfter  Ge‐

brauch von den vielfältigen Talkshow‐ und Call‐in‐Programmen der  arabischen Nachrichtensender wie Al Jazeera oder Al Arabiya ma‐

chen, um ihre Standpunkte zu vertreten. Dies birgt zwar immer auch  einen gewissen Grad von Kontrollverlust, da nicht immer nur vorge‐

fertigte Statements verlesen werden können. Allerdings ließe sich so  ein in der Mediennutzung durchaus versiertes Publikum eher gewin‐

nen und deutsche Perspektiven vermitteln. 

Die Heterogenität des Nahen Ostens und die vielen Unterschiede der  politischen Entwicklungen in den einzelnen Ländern der Region stel‐

len die westliche Politik vor neue Herausforderungen. Weder können  alte Strategien wie bisher fortgeführt werden noch gibt es einen „O‐

ne‐size‐fits‐all‐Ansatz“. Die Bundesrepublik befindet sich wie ihre  westlichen Partner auf der Suche nach einem neuen Strategieansatz,  bei dem die Eigeninteressen weiter gewahrt werden können, der sich  aber als offener und fördernder in Bezug auf gesellschaftliche Umge‐

staltungen in Richtung Demokratisierungen erweist. Eine Neuorien‐

tierung westlicher Außenpolitik gegenüber der Region erfordert da‐

her eine stärkere Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingun‐

gen und Strukturen in den Zielländern allgemein, und insbesondere  der  zivilgesellschaftlichen  Akteure.  Für  eine  solche  Politik  wird  Glaubwürdigkeit als eine bestimmende Größe zunehmend an Bedeu‐

tung gewinnen und muss bei allen Strategieplanungen mitgedacht  werden. 

   

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INEF Policy Brief 9/2011 

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Herausgeber:

© Institut für Entwicklung und Frieden, INEF Lotharstraße 53 D - 47057 Duisburg Phone +49 (203) 379 4420 Fax +49 (203) 379 4425

E-Mail: inef-sek@inef.uni-due.de Homepage: http://inef.uni-due.de

Jan Hanrath, Dipl. Soz.-Wiss., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind der Nahe und Mittlere Osten, Demokratie- und Zivilgesellschaftsförderung, Public Diplomacy sowie Migration und Integra- tion.

Kontakt: jan.hanrath@inef.uni-due.de

FAKULTÄT

FÜR GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN

Umbrüche im Nahen Osten - Hintergründe und Handlungsoptionen für westliche Politik und Zivilgesellschaft

Die politische Landschaft im Nahen Osten erlebt gerade den deutlichsten Wandel der vergangenen Jahr- zehnte. Nach Jahren der Stagnation und der Verkrustung in autoritären Strukturen begannen Demokra- tiebewegungen, breite gesellschaftliche Mobilisierungen und in einzelnen Fällen aufständische Gruppen gegen diese Zustände aufzubegehren. Die deutsche Regierung wie auch zivilgesellschaftliche Akteure sehen sich aktuell mit einer veränderten Situation konfrontiert, die die Suche nach angemessenen Reak- tionsmöglichkeiten und mitunter eine strategische Umorientierung notwendig macht. Vor allem in den Bereichen der Wirtschafts- und Migrationspolitik sowie bei der Bewertung von und dem Umgang mit gesellschaftlicher Akteuren in der Region besteht dabei besonderer Reformbedarf. In diesem INEF Policy Brief werden Charakteristika der gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen Osten zusammengefasst und besonders das Zusammenspiel von regionalen und lokalen Faktoren analysiert sowie konkrete Empfeh- lungen für zukünftige deutsche und westliche Nahostpolitik formuliert.

Das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF)

Das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), das im Jahr 1990 gegründet wurde, ist eine Forschungs- einrichtung der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen am Campus Duisburg. Es kooperiert eng mit der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF), Bonn. Das INEF verbindet wissenschaftliche Grundlagenforschung mit anwendungsorientierter Forschung und Politikberatung in folgenden Bereichen: Global Governance und menschliche Sicherheit, fragile Staaten, Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung sowie Entwicklung, Menschenrechte und Unternehmensverantwortung.

Direktor des INEF ist Prof. Dr. Tobias Debiel und Wissenschaftliche Geschäftsführerin ist Dr. Cornelia Ulbert.

Die Reihe INEF Policy Brief

In den INEF Policy Briefs werden wichtige aktuelle Ereignisse und Forschungsthemen in prägnanter Form aufgegriffen und im Hinblick auf politische Handlungsempfehlungen diskutiert. Sie erscheinen in unregelmäßigen Abständen.

Jan Hanrath: Umbrüche im Nahen Osten - Hintergründe und Handlungsoptionen für westliche Politik und Zivilgesellschaft.

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