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Nachruf auf Elisabeth Pfeil

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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 4, Heft 4, Oktober 1975, S. 4 0 3 -4 0 5

Nachruf auf Elisabeth Pfeil 9.7.1901-25.7.1975

Am 25. Juli ist Elisabeth Pfeil gestorben. Sie leb­

te zuletzt zurückgezogen in einem Altenwohn­

heim in Dießen am Ammersee, ohne jedoch von ihrer wissenschaftlichen Arbeit getrennt zu sein.

Sie war bis zuletzt damit beschäftigt, begonnene Arbeiten fortzusetzen. Dazu gehören der in die­

sem Heft ab gedruckte Aufsatz über „Männliche und weibliche Rolle“ und die nicht vollendete Überarbeitung zu einer Neuauflage ihrer Studie

„Familie im Gefüge der Großstadt.“

Begonnen hat Elisabeth Pfeü ihre wissenschaft­

liche Arbeit als Mediävistin. Ihre Dissertation über „Die fränkische und deutsche Romidee des frühen Mittelalters“ ist eine seit der Publikation im Jahre 1930 bis heute in Fachkreisen geschätz­

te Arbeit. Sie arbeitete nach ihrer Promotion als Assistentin in Berlin bei ihrem Lehrer Al­

bert Brackmann, Ordinarius für Mittelalterli­

che und Neuere Geschichte an der Berliner Uni­

versität.

Eine Habilitation ausschlagend, hat sie sich dann unter historischen und systematischen Gesichts­

punkten mit der Bevölkerungswissenschaft be­

schäftigt. Sie arbeitete von 1930 an in der Schriftleitung der Zeitschrift „Archiv für Be­

völkerungswissenschaft“ und war von 1941 bis 1945 Referentin am Institut für Bevölkerungs­

wissenschaft in München. Daran schlossen sich von 1945 bis 1951 zahlreiche Forschungsaufträ­

ge, u. a. für die Akademie für Raumforschung in Hannover, das Bayerische Statistische Landes­

amt, das Institut für Raumforschung in Bonn, das Sozialpolitische Seminar an der Universi­

tät Köln an. Gleichzeitig entstanden mehrere Arbeiten zum Problem der Flüchtlingsforschung, so z. B. „Der Flüchtling“ (1948), zusammen mit W. Swoboda „Die Vertriebenen in Bayern“

(1950) und „Soziologische und psychologische Aspekte der Vertreibung“ , schließlich als letzte Arbeit zu diesem Themenkreis zusammen mit W. Buchholz „Eingliederungschancen und Ein­

gliederungserfolge. Eine regionalstatische Ana­

lyse“ (1957).

Zu dieser Zeit, nämlich von 1952 bis 1956, ar­

beitete Frau Pfeil als wissenschaftliche Ange­

stellte und Gruppenleiterin an der Sozialfor­

schungsstelle Dortmund der Universität Mün­

ster. Hier wirkte sie an der Studie „Die Wohn- wünsche der Bergarbeiter“ (1954) mit, hier entstand auch der Artikel „Soziologie der Groß­

stadt“ zu dem Lehrbuch „Soziologie“ (1955) von A. Gehlen und H. Schelsky, einem Standardwerk der folgenden Jahre.

Längst hatte sie Zugang zur Soziologie über die empirische Sozialforschung gewonnen, aber auch ihr Thema, die Stadtforschung, gefunden. Was ihre Arbeiten durchgängig kennzeichnete, war die Beschäftigung mit aktuellen Problemen ei­

nerseits, ihr Gespür für wichtige wissenschaftli­

che Themen andererseits. Dies kennzeichnet die Studie „Neue Städte auch in Deutschland“

(1954), der wohl ersten deutschen Arbeit, in der versucht wurde, die Erfahrungen mit den englischen New Towns auf die Bundesrepublik zu übertragen, um soziologische und raumpla­

nerische Empfehlungen zu entwickeln, wie neue Städte angelegt und ob sie reine Flüchtlings­

städte sein sollten. Hierzu gehört aber auch der Aufsatz „Zur Kritik der Nachbarschaftsidee“

(1963), in dem sie erneut der romantischen Großstadtkritik die veränderten, u. a. in der Nachbarschaft vorhandenen, sozialen Beziehun­

gen des Großstädters entgegensetzte. Diese Über­

legungen zur sozialen Integration des Großstäd­

ters durch Nachbarschaft und Verkehrskreis hat Elisabeth Pfeil fortgesetzt in ihren Aufsät­

zen „Nachbarkreis und Verkehrskreis in der Großstadt“ (1959), der sozialtopografischen Analyse „Die Familie im Gefüge der Großstadt“

(1965) und dem gemeinsam mit J. Ganzert publi­

zierten Aufsatz „Die Bedeutung der Verwandten für die großstädtische Familie“ (1973).

1956 ging Elisabeth Pfeil von Dortmund nach Hamburg an die Forschungsstelle der Akademie für Gemeinwirtschaft, heute Hochschule für Wirtschaft und Politik. Hier arbeitete sie bis zu ihrer Versetzung in den Ruhestand im Juli

1968. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit an der Forschungsstelle war sie Lehrbeauftrag­

te am Seminar für Sozialwissenschaften der Uni­

versität Hamburg. Dort führte sie mehrere em­

pirische Praktika durch, stets zu Problemen der Stadtforschung: Es entstanden u. a. Studien über die Neubausiedlung Großlohe und die Kom­

merzialisierung des citynahen Stadtteils Harve­

stehude in Hamburg.

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404 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 4, Heft 4, Oktober 1975, S. 4 0 3 -4 0 5 Elisabeth Pfeil hat es mit Rücksicht auf ihr

Alter und die Belastungen eines Universitäts­

betriebes vorgezogen, an der Forschungsstelle zu arbeiten. In einem kleinen, karg möblier­

ten Zimmer, das mit Büchern und Manuskrip­

ten überhäuft war, entfaltete sie ihre Produkti­

vität. Diese spartanische Umgebung entsprach ihrer preußischen Erziehung; der überfüllte Raum hatte allerdings die Folge, daß ihre As­

sistenten (H. Peisert, später S. Hausschildt- Arndt, zuletzt auch der Unterzeichnete) gele­

gentlich mit ihr Suchaktionen nach Manuskripten und Büchern durchzuführen hatten.

In der Forschungsstelle entstand auch die Neu­

auflage ihres 1950 erschienenen Buches „Groß­

stadtforschung“ , das den Beginn ihres Rufes als Stadtsoziologin bewirkt hat. Die erste Auf­

lage dieses Buches war zu Ende der Nachkriegs­

zeit, praktisch ohne Bibliothek, nur aus dem Gedächtnis und wenigen Notizen entstanden;

gleichwohl ist es für lange Zeit das einzige deut­

sche Standardwerk zur Stadtforschung geblie­

ben. Demgegenüber war die 1967 begonnene Arbeit an der Neuauflage ein fast unmögliches Unterfangen: die Literatur war inzwischen kaum noch zu übersehen und systematisch schwer zu verarbeiten. Zudem schienen sich die breiten historischen Interessen und Kenntnisse mit den Anforderungen einer Systematik nicht immer vereinbaren zu lassen, so daß in zahlreichen Diskussionen,die Frau Pfeil während der Arbeit an dem Buch mit dem Unterzeichneten geführt hat, immer neue Formen der Organisation des Materials entwickelt werden mußten. Manchmal schien Elisabeth Pfeil allein der Gedanke, daß dieses Buch ein wichtiger Bestandteil ihres Le­

benswerkes sei,und der Zuspruch vieler Kolle­

gen, nur sie könne dieses Buch schreiben, an der Fortsetzung der Arbeit zu halten. Als das Buch 1972 erschien, hatte sie ihr Ziel erreicht, noch einmal den Versuch unternommen zu. ha­

ben, einen in deutscher Sprache geschriebenen Überblick über Stand und Entwicklung der Groß­

stadtforschung zu geben. Das Buch, im klassi­

schen Sinne eine „Summe“ einer lebenslangen wissenschaftlichen Forschung, ist geprägt von ihrem Denkstil: dem Wunsch nach dem, was sie „Zusammenschau“ nannte, und einer diffe­

renzierten, vorsichtigen Interpretation von Er­

gebnissen. An die Stelle methodologischer Stren­

ge und dem Ziel einer Theoriebildung setzte sie ein abwägendes, pragmatisches Zusammenfugen

von Einzelergebnissen. Zugleich besaß sie ei­

nen undogmatischen Zugang zur Literatur, setz­

te sie sich mit großer Offenheit allen neueren Forschungsergebnissen aus. Dieser Offenheit ist auch ihr kritischer später Aufsatz über „Stadt­

randsiedlungen und Großwohnanlagen“ (1973) zu verdanken, in dem sie die Kritik an Neubau­

siedlungen mit den (positiveren) Ergebnissen der empirischen Forschung konfrontiert.

Der Wunsch, zu einem abwägenden Urteil zu gelangen, wird neben den Forschungen über Ver­

triebene und über die Großstadt an dem drit­

ten Thema ihrer Arbeiten besonders deutlich:

der Rolle der Frau. Hier verbanden sich die wissenschaftliche Arbeit über objektive gesell­

schaftliche Probleme der Frau mit starken per­

sönlichen Interessen. Angefangen von der ersten deutschen empirischen Studie über die Doppel­

rolle der berufstätigen Mutter („Die Berufstä­

tigkeit von Müttern“ , 1961) hat Elisabeth Pfeil später durch kleinere Publikationen und ihre Mitarbeit im wissenschaftlichen Beirat für Familien­

fragen beim Bundesministerium für Jugend, Fami­

lie und Gesundheit (s. d. Familienbericht 1967) bis zu dem in diesem Heft abgedruckten Aufsatz über die Rolle der Frau gearbeitet. (Hierzu ha­

ben das Ungedruckte, nämlich die zahllosen Gespräche über dieses Thema,wohl ebenso gro­

ßes Gewicht zur Beurteilung ihrer Person wie die publizierten Arbeiten.) Sie hat ständig ver­

sucht, sich mit den insbesondere seit dem Ende der 60er Jahre aufkommenden Diskussionen über weibliche Emanzipation auseinanderzu­

setzen. Dabei bestand ein merkwürdiger Kon­

trast zwischen ihrer Unabhängigkeit und ihrem Status und ihrem spezifischen Mißtrauen ge­

genüber jenen Formen weiblicher Emanzipation, die auf Kinderlosigkeit und Berufstätigkeit als notwendigen Bedingungen zumindest gegenwär­

tiger weiblicher Emanzipation beharrten. Es scheint, als sei es ihr leicht gefallen, aus ihrer Lebensweise als unverheiratete Frau mit hohem Ansehen mehr Zutrauen zu einer nicht-berufs­

tätigen Mutter als zu den gesellschaftlich er­

zwungenen Belastungen jener Doppelrolle auf­

zubringen.

Die demografischen Interessen von Elisabeth Pfeil kamen nochmals in dem Aufsatz über Kohortenanalyse (1967) und dem mit mehre­

ren Mitarbeitern durchgeführten Forschungs­

projekt „Die 23-jährigen“ (1968) zum Aus­

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Nachruf auf E. Pfeil 405 druck. Den Abschluß der Forschungsarbeiten

an der von ihr initiierten zweiten Stufe dieser Längsschnittuntersuchung hat sie nicht mehr erlebt.

Ihr Altern hat sie akzeptiert: ein schrittweiser Rückzug, geplant und sich auf wenige Arbei­

ten konzentrierend. Dabei kam ihr zugute, daß mit dem seit einigen Jahren steigenden Interesse an der Stadtforschung ihr wissenschaftlicher Beitrag noch zunehmend gewürdigt wurde. Dies mag ein historischer Zufall und ein individuel­

ler Glücksfall gewesen sein — es ist indessen auch die Folge jenes erwähnten Gespürs für wissen­

schaftliche Probleme und deren Behandlung.

Sie hatte nicht nur eine Reihe bedeutsamer Bücher und Aufsätze publiziert und sich einen Ruf durch ihre empirischen Arbeiten erwor­

ben, sondern war darüber hinaus Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Vereinigungen und Beiräten. Daß Ehrungen wie die Verlei­

hung der Cornelius-Gurlitt-Denkmünze sie in ihrem Alter erreichten, hat sie darin bestärkt, weiter wissenschaftlich zu arbeiten.

Über den wissenschaftlichen Beitrag von Eli­

sabeth Pfeil hinaus wird denjenigen, die sie ge­

kannt haben, der Eindruck eines Lebens für die Wissenschaft bleiben, das zugleich subjektiv erfüllt war.

Jürgen Friedrichs Universität Hamburg

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