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Heinrich Zimmer
(1890—1943)
Von Helmuth von Glasenapp, Tübingen
Heinrich Zimmer wurde am 6. Dezember 1890 in Greifswald geboren.
Die ersten Eindrücke für sein späteres Studium der Indologie empfing er
bereits im Elternhause: sein Vater (1850—1907), der auch Heinrich mit
Vornamen hieß, war Professor des Sanskrit und der indogermanischen
Sprachwissenschaft an der Universität Greifswald; durch seine Preis¬
schrift „Altindisches Leben. Die Kultur der vedischen Arier" (1879) ist
er weit über die Fachkreise hinaus bekannt geworden. In semen späteren
Jahren wandte sich Heinrich Zimmer sen. immer intensiver der Er¬
forschung des Keltischen zu und vmrde 1901 auf den keltologischen Lehr¬
stuhl nach Berlin berufen. In der Reichshauptstadt empfing der junge
Zimmer am Joachimsthalschen Gymnasium seine Ausbildung, die er 1909
mit dem Abiturium abschloß. Mit Ausnahme von einem Semester in
München hat er auch in Berlin studiert und einjährig-freiwiUig gedient,
hierher kehrte er auch aus dem ersten Weltkriege, den er vom ersten
Tage an im Felde erlebte, zurück. Der Umstand, daß er die entscheiden¬
den Jahre seiner Jugend in der Stadt an der Spree verbracht hatte,
prägte sich in vielen Zügen seines Wesens aus, nicht zuletzt in dem
eigenwilligen Humor und dem schlagkräftigen Witz, die ihm eigen
waren.
Als Schüler von Heinrich Lüders promovierte er 1913 mit einer
Schrift ,, Studien zur Geschichte der Gotras". Er habilitierte sich 1920 in
Greifswald mit einer (nicht gedruckten) Arbeit über in Turfan gefundene
buddhistische Texte und erhielt 1922 (als Nachfolger von Bruno
Liebich ) in Heidelberg einen Lehrauftrag für Indologie. Dort entfaltete
er als ao. Professor bis 1939 eine reiche und fruchtbare akademische
Wirksamkeit. Seit 1928 war er mit Christiane v. Hofmannsthal, einer
Tochter des Dichters, verheiratet. 1939 vnirde ihm deshalb von den
Machthabern des Dritten Reiches seine Stellung entzogen. Er ging zu¬
nächst nach Oxford, wo er am BaUiol College Vorlesungen hielt, im Mai
1940wanderte er mit seiner Familie nach Amerika aus. Er ließ sich in der
Nähe von New York nieder und wirkte an der Columbia University als
,, visiting Professor". Am 20. März 1943 setzte eine akute Lungenentzün¬
dung seinem arbeitsreichen Leben ein Ende.
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Mit Heinbich Zimmer hat die deutsche Indologie einen ihrer eigen¬
artigsten und selbständigsten Vertreter verloren. Ursprünglich von
streng philologischen Studien ausgegangen, hatte er sichin immer höherem
Maße der Darstellung indischen Wesens zugewendet. Drei Momente
waren es neben anderen, die seine Arbeit vorzugsweise bestimmten :
1. Zimmer besaß eine in dieser Vollständigkeit seltene umfangreiche
Kenntnis der Literaturen der verschiedensten Völker und eine ungewöhn¬
liche Fähigkeit, sich in fremde Wesensart einzufühlen. Dies ermöglichte
es ihm, sich liebevoll in die Erzeugnisse der Kultm- des Gangeslandes zu
versenken und sie im größeren Gesamtzusammenhang der Weltliteratur
zu betrachten. 2. Seine Aufgeschlossenheit für die mannigfaltigen Er¬
scheinungen des Daseins hatte ihn dazu geführt, die heiligen Texte der
Hindus nicht als Objekte für trockene theoretische Untersuchungen
sondern als Dokumente einer lebendigen Wirklichkeit zu sehen. Durch die
Bekanntschaft mit den Arbeiten Sir John Woodboffe's (Aethub
Avalon's) war er zu einem eindringenden Verständnis der Tantra-Werke
vorgedrungen, deren Triebkräfte und geistesgeschichtliche Stellung bisher
oft verkannt worden sind. 3. Die eingehende Beschäftigung mitder Tiefen¬
psychologie C. G. Jungs erschloß ihm die Hintergründe indischer Mythen
und machte ilm zu ihrem nachschaffenden Deuter. Zu bedauern bleibt,
daß es Zimmer vom Schicksal nicht vergönnt war, das Land, dem er alle
Kräfte seines reichen Geistes gewidmet, mit eigenen Augen zu sehen und
dort das, was er mit dichterischer Intuition geschaut, nachzuprüfen, zu
ergänzen imd auszuwerten.
In immer neuen Variationen hat Zimmer das große Thema ,, Indien"
imter den verschiedensten Aspekten behandelt. Seine Hauptwerke in
deutscher Sprache sind: ,, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild"
(1926), ,, Ewiges Indien. Leitmotive indischen Daseins" (1930), , .In¬
dische Sphären" (1935), ,,Maya, der indische Mythos" (1936), ,, Weisheit
Indiens, Märchen und Sinnbilder" (1938). Sein letztes deutsches, I944
postum in der Schweiz von C. G. Jung herausgegebenes Buch ,,Der Weg
zum Selbst" war dem Leben und der Lehre des indischen Heiligen
Raman Maharschi von Tiruvannamalai gewidmet. Zu diesen Schriften
treten zahlreiche Aufsätze. Manche von diesen erschienen in der ,, Corona"
(München bzw. Zürich) und im ,,Eranos-Jahrbuch" (Basel) und sind
später in seine Bücher eingegangen; von anderen seien in diesem Zu¬
sammenhang nur genannt : ,,Zur Rolle des Yoga in der indischen Geistes¬
geschichte" (Deutsche Vierteljahrsschrift IV 1, [1926]). ,,Der König der
dunklen Kammer" (ZDMG 83 [1929]), ,, Some Aspects of Time in Indian
Art" (Journal of the Indian Society of Oriental Art 1 1933). Im 1. Bande
der , .Neuen Propyläen-Weltgeschichte" (1940) behandelte er (S. 463—
494) ,,Die Inder bis zum Einbruch des Islam" ; der ihm erteilte Auftrag,
Heinrich Zimmer
Ik.
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die weitere Geschichte der Inder bis zum Anbruch der englischen Herr¬
schaft für den 4. Band dieses Werkes zu bearbeiten, konnte infolge der
politischen Verhältnisse nicht mehr ausgeführt werden.
Zimmer ist auch mit zahlreichen Übersetzungen hervorgetreten.
Auf den ,, buddhistischen Legendenkranz" aus dem Divyävadäna, den
er 1925 unter dem Titel ,, Karman" veröffentlichte, folgten 1929 in der
von ihm herausgegebenen Serie ,,Der indische Geist" Übertragungen der
Astävakragitä (,,Anbetung mir") und der Mätaiigalilä (,, Spiel um den
Elefanten"). 1937 ließ er eine Übersetzung von Sir George Dünbars
,, Geschichte Indiens" erscheinen, und 1939 gab er eine Bearbeitung aus¬
gewählter Abschnitte aus Daisetz Teitaro Suzuki's ,, Essays on Zen
Buddhism" unter dem Titel ,,Die große Befreiung" in deutscher Sprache heraus.
In seiner geistvollen Art hat Zimmer gelegentlich auch nichtindologi-
sche Artikel gesclirieben. Sein in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg im
,, Querschnitt" erschienener humoristischer Aufsatz ,, Winke zur Katzen¬
zucht", in welchem er die Geburt des europäischen Kulturkaters launig
schildert, erregte damals großes Aufsehen. Reich an feinen Bosheiten ist
auch die Würdigung Arthur Schopenhauers, die er für die von
Wilh. v. Scholz und Willy Andreas herausgegebene Sammlmig
Große Deutsche" (Band III, S. 236—251) heferte.
mt der Aufnahme seiner Vorlesungstätigkeit in den USA begann für
Zimmer eine neue Schaffensperiode von erstamilicher Produktivität.
1940 veröffentlichte er bei der Johns Hopkins Press in Baltimore seine
an der dortigen Universität gehaltenen Vorträge über ,, Hindu Medicine",
die von Dr. Ludwig Edelstein bevorwortet wwden. Von seinem
Schüler John Campbell herausgegeben, erschienen in den ,, Bollingen
Series" als Band 6 und 11 zwei reich illustrierte Werke ,, Myths and Sym¬
bols in Indian Art and Civilization" (1946) und "The King and the
Corpse: Tales of the Soul's Conquest of Evil". In diesen hat er nicht nm
seine Untersuchungen über indische Mythen in beachtenswerter Weise
weitergeführt, sondern auch Überlieferungen der verschiedensten Völker
interpretiert. Der weitgespannte Bogen reicht von Märchen aus Tausend
und Einer Nacht bis zu Sagen des Arthus-Kreises, zu Richard Wagners
Musikdramen und den Karten des Tarock-Spiels.
Zimmer hinterließ auch ein Werk über Philosophie, dessen Veröffent¬
lichung vorbereitet wird. Eine deutsche Ausgabe seiner englisch geschrie¬
benen Werke soll bei Rascher in Zürich erscheinen.
4*
Stand und Aufgaben der Mongolistik
Von N. Poppe, Washington I.
Die Mongolistik ist im Vergleich zu gewissen anderen Gebieten der
Orientforschung eine junge Wissenschaft. Seit dem Erscheinen der ersten
wissenschaftlichen Werke, die zu ihrem Gegenstand Sprache, Literatur
und Geschichte der Mongolen hatten, sind nur etwas mehr als hundert
Jahre vergangen, in deren Verlauf die Mongolistik sich ziemlich un¬
gleichmäßig entwickelte.
Die mongolischen Völkerschaften bewohnen für die europäischen
Forscher schwer zugängliche Gegenden. Sie boten bis vor kurzem für
andere Staaten überhaupt kein oder ein nur geringes politisches und
wirtschaftliches Interesse. Eigentlich ist Rußland der einzige Staat ge¬
wesen, der sich für die Mongolen politisch interessieren konnte, schon aus
dem Grunde, weil zwei mongolische Völkerschaften, und zwar die Kal¬
mücken und die Bmjäten, einen Teil der Bevölkerung Rußlands bilden.
Dieser Umstand erklärt uns, warum die Mongolistik in Rußland ent¬
standen ist und sich lange Zeit hindurch fast ausschließlich dort ent¬
wickelte. Die russischen Mongolisten befanden sich in einer viel gün¬
stigeren Lage als ihre westeuropäischen Kollegen, weil sie die mon¬
golischen Sprachen an Ort und Stelle erforschen tmd große Material-
sammlimgen zustande bringen konnten. Von großer Bedeutung ist auch
der Umstand gewesen, daß der Staat zur Ausbildung von Beamten an
mehreren Hochschulen spezieUe Lehrstühle der mongolischen Sprache
unterhielt, die auch gelehrte Fachmänner ausbildeten. In Westeuropa
beschäftigte man sich dagegen mit der Mongolistik nur nebenbei. Auf
solche Weise ist es gekommen, daß die Mongolistik viele Jahrzehnte
hindurch ein russisches Monopolgebiet war. Das allein genügt, um zu
erklären, weshalb die Errungenschaften der Mongolistik sich nicht mit
denen solcher Wissenschaften wie die Sinologie, Indologie oder Ara¬
bistik messen können, erfreuen sich doch die letztgenannten Wissenschaf¬
ten schon längst der Mitarbeit der Gelehrten der ganzen Welt. Eine
Wendung trat ein, als zu Anfang dieses Jahrhunderts G. J. Ramstedt
seine mongolistische Tätigkeit begann und zu seinem Arbeitsgebiet die
Erforschung der damals noch völlig unbekannten mongolischen Umgangs¬
sprachen und der Beziehungen derselben sowie des Schriftmongolischen