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Selbststeuerung als Voraussetzung von Muße

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Academic year: 2022

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Joachim Bauer

„Muße ist freies Verweilen in der Zeit jenseits von Zweckrationalismus und Utilitarismus. Sie zielt auf Freiheit von Zeitzwängen und unmittelbarer Leis- tungserwartung […].“ Diese Feststellung beschreibt den Wesenskern der Muße, sie war daher der Tagung Muße und Gesellschaft mit Recht vorangestellt. Das Erleben eines Zustandes der Muße hat die Person im Blick. Sie ist der Ort – oder der potentielle Akteur – der Muße. Die Person ihrerseits ist jedoch kein auto- nomes System, sie ist – und sie erlebt sich – in einem sozialen Gefüge, welches ihr einerseits einen Lebens-, Handlungs- und Entfaltungsraum bieten kann, welches sie aber auch einbindet und begrenzt. Freiheit von Zeitzwängen oder die Abwesenheit von Leistungserwartungen, beide Kriterien der Muße haben nicht nur eine personale, sondern immer auch eine soziale Dimension. Per- sonales Erleben und das Erleben sozialer Verbundenheit sind eng miteinander verknüpft. Ich möchte in diesem Beitrag die Navigationsmöglichkeiten – und ihre Grenzen – erkunden, die der Person zur Verfügung stehen, um Vorausset- zungen für das Erleben von Muße zu schaffen. Ich werde mich bei der Unter- suchung dieser Navigationsmöglichkeiten auf einen besonderen Aspekt, auf die sogenannte Selbststeuerung konzentrieren.1

Personen navigieren nicht nur zwischen dem Erleben von Individualität einer- seits und sozialer Verbundenheit oder Gemeinschaft andererseits. Beachtung verdient eine weitere Dimension. Wir Menschen sind nicht nur seelisch erleben- de und geistig aktive, sondern auch biologische Wesen. Die Kunst der Navigation ist daher nicht nur gefragt, wenn wir uns im Spannungsfeld zwischen persona- len und sozialen Belangen zurechtfinden müssen, sondern auch bei der Suche nach einer Balance, die wir intrapersonal zwischen unseren seelischen, geistigen und biologischen Belangen finden müssen. Wenn die Muße im nachfolgenden Beitrag auch in Beziehung zu einigen neurobiologischen Gegebenheiten gesetzt werden soll, dann wird das nicht in dem naiven reduktionistischen Versuch enden, die Muße mit einem neurobiologischen Zustand oder gar mit einer an- geblichen neurobiologischen „Ursache“ zu erklären. Dass Geisteswissenschaftler bei Naturwissenschaftlern und Medizinern die Sorge eines solchen Reduktionis- mus haben müssen, ist bedauerlich, aber nur zu gut nachvollziehbar angesichts

1 Joachim Bauer, Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens, München 2015.

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des seit Langem und bis heute immer wieder zu beobachtenden Bestrebens im Bereich von Medizin und Biologie, das Subjekt und mit ihm den Geist ab- zuschaffen und Lebewesen – nicht nur den Menschen – auf ihre materiellen Aspekte zu reduzieren, und das heißt, sie – mehr oder weniger – als biologische Maschinen zu betrachten.

Wer die Erkenntnisprozesse Revue passieren lässt, die in den letzten etwa 20 Jahren in einem Forschungsgebiet vonstatten gingen, welches als „soziale Neurowissenschaften“ – im Englischen als social neurosciences – bezeichnet wird, der wird feststellen können, dass zumindest hier dem biologischen Reduktionis- mus geradezu der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Der inzwischen fest etablierte Begriff des social brain bedeutet nicht nur, dass wir biologisch mit neuronalen Systemen ausgestattet sind, die uns zum sozialen Zusammenleben, zur Empathie, zum Perspektivwechsel und zur zwischenmenschlichen Koope- ration befähigen.2 Der Begriff des social brain bedeutet weit mehr, nämlich:

Soziale Erfahrungen verändern, indem sie auf neurobiologische Empfänger- Systeme treffen, die biologischen Abläufe, die sich in diesen Systemen abspielen.

Soziale Erfahrungen verändern Gen-Aktivitäten und neuroanatomische Struk- turen.3 Eine große Zahl von Untersuchungen hat in den letzten Jahren deutlich werden lassen, wie soziale Erfahrungen das Gehirn verändern. Fast scheinen diese Befunde nachträglich dem Schiller-Wort Recht zu geben, dass es der Geist sei, der sich den Körper baue.

1. Muße-relevante neurobiologische Konstruktionsmerkmale des Gehirns

Unabhängig davon, ob wir Muße alleine oder in Gemeinschaft erleben, setzt sie ein erlebendes Subjekt voraus. Insoweit hat die Muße einen biologischen Ort, auch wenn sie auf diesen nicht reduziert, durch einen biologischen Ort nicht erklärt werden kann. Die Muße ist eine Sache des erlebenden Subjekts und seines Seelen- und Geisteszustandes. Doch dieses Subjekt sieht sich auch und besonders dann, wenn wir die Muße suchen, dem eigenen Körper und den von ihm aus- gehenden Impulsen gegenübergestellt. Von Sigmund Freud stammt der luzide Gedanke, dass der eigene Körper vom erlebenden Subjekt – zumindest manch- mal – wie ein Teil der äußeren Realität wahrgenommen wird. Jede Person muss, wie ich schon sagte, zwischen ihren seelischen, geistigen und biologischen – also

2 Joachim Bauer, Warum ich fühle was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Ge- heimnis der Spiegelneurone, München 2006; Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren, München 2008; Joachim Bauer, Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München 2013.

3 Joachim Bauer, Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München 2013.

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körperlichen – Belangen navigieren. Eine zentrale Bedeutung für dieses Navigie- ren haben zwei Fundamentalsysteme, mit denen wir uns vertraut machen sollten.

Die beiden Fundamentalsysteme sind uns nicht nur aus unserem Erleben gut vertraut, sie haben auch neurobiologische Korrelate, die neurowissenschaftlich inzwischen sehr gut untersucht und die in Abb. 1 schematisch dargestellt sind.

Die beiden genannten Systeme bilden zwei Pole, zwischen denen das Subjekt in uns sozusagen navigieren kann – und muss. Den einen Pol bildet ein evolu- tionär altes Bottom-Up-System. Dieses System ist der Quell-Ort spontan auf- tauchender Impulse. Die Impulse zielen im Falle des sogenannten Belohnungs- systems auf die Stillung von basalen körperlichen und sozialen Bedürfnissen; im Falle des Angst- und Aggressionssystems geht es um Impulse, die der Gefahren- erkennung und Schmerzabwehr dienen. Soweit dieser eine Pol. Den anderen Pol bildet ein evolutionär jüngeres Top-Down-System. Es ist ein System, zu dem die Fähigkeit des Menschen gehört, längerfristige – anstatt nur kurzfristige – Ziele und Strategien zu favorisieren und zu diesem Zwecke im eigenen Innern Abb. 1: Schematische Darstellung des Zusammenspiels zwischen zwei neuro- biologischen Systemen: Bottom-Up-System (Belohnungssystem, Aggressions- system) einerseits und dem im Stirnhirn (präfrontaler Cortex) verorteten Top- Down-System

Hemmung der Sucht nach Nahrung, Geltung

und Ablenkung Hemmung der Sucht nach Nahrung, Geltung

und Ablenkung

Kontrolle von Reizbarkeit, Angst

und Aggression

Belohnungssystem:

Suche nach Befriedigung Kurzfristige Perspektive (Gier, Sucht)

Amygdala:

Gefahrenerkennung und -abwehr Angst, Aggression Präfrontaler Cortex PFC:

Perspektive Anderer Langfristige Ziele

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auftauchende Impulse zu reflektieren und zu inhibieren. Die neurobiologische Adresse des Bottom-Up-Systems sind Strukturen des Mittel- und des Stamm- hirns, die neurobiologischen Korrelate des Top-Down-Systems finden sich im Stirnhirn, im sogenannten Präfrontalen Cortex. Subjektiv können diese beiden Systeme einerseits als impliziter Teil der eigenen Person erlebt werden. Anderer- seits können sie der über sich selbst reflektierenden Person begegnen, so als wären sie ein Teil der äußeren Realität.

In welcher Beziehung stehen die beiden Fundamentalsysteme zur Muße? Un- abhängig davon, ob wir das Bottom-Up-System als einen psychischen oder als einen neurobiologischen Ort betrachten, lässt sich sagen: Es ist der Ort, dem spontane Impulse ihre Herkunft verdanken. Es sind Impulse, die auf die Reduk- tion von Bedürfnisspannung, also auf Befriedigung zielen. Dazu gehören zum Beispiel Impulse wie der der Nahrungsaufnahme. Für den Menschen ließ sich zeigen, dass zu den Bedürfniszielen, auf die unsere Impulse gerichtet sind, auch die soziale Anerkennung durch andere zu zählen ist. Soziale Verbundenheit ist beim Menschen ein Triebziel. Thomas Insel, einer der weltweit führenden Neurowissenschaftler, ging so weit, als Überschrift eines berühmt gewordenen Übersichtsartikels die Frage zu formulieren, ob der Wunsch des Menschen nach sozialer Verbundenheit vielleicht so etwas wie eine Suchtkrankheit sei („Is social attachment an addictive disorder?“). Dies bedeutet  – dies sei nur am Rande angemerkt – natürlich keineswegs, dass der Mensch „gut“ sei. Eher im Gegenteil, Menschen sind bekanntlich manchmal bereit, alles – auch Böses – zu tun, um ihre Triebziele zu erreichen.

Was hat dies alles mit der Muße zu tun? Anzunehmen ist, dass ein subjektiv sehr stark erlebter Bedürfnisdruck  – also zum Beispiel starker Hunger oder krasse, ungewollte Einsamkeit – Impulse verstärken wird, die auf die Behebung des jeweiligen Mangels zielen. Ein Zustand der Muße ist dann, wenn uns starke Impulse imperativ treiben, wohl kaum möglich. Auch materielle Armut zum Beispiel ist daher ein Feind der Muße. Warum es fortwährende materielle Über- sättigung vermutlich ebenso ist4, darauf werde ich später noch zurückkommen.

Untersuchungen zeigen, dass nicht nur physischer Schmerz das Angst- und Aggressionssystem anspricht, sondern auch soziale Ausgrenzung oder Zurück- weisung. Wenn das Angst- und Aggressionssystem stark aktiviert wird, wird es starke, imperative Impulse hervorbringen, die darauf gerichtet sind, den Schmerz zu beseitigen. Daher sind auch Schmerzen oder soziale Isolation als Feinde der Muße anzusehen.

Richten wir den Blick jetzt auf das Top-Down-System: Schlecht mit einem Zustand der Muße vereinbar sein dürfte ein überstrenges, das eigene Innere überkontrollierende, jeden spontanen Impuls verbietende Top-Down-System.

4 Vgl. dazu den Aufsatz von Jochen Gimmel, „Mußevolle Arbeit oder ruheloser Müßiggang“, in diesem Band.

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Wer alle seine Kräfte damit verbrauchen muss, seine Bottom-Up-Impulse ständig und radikal zu reglementieren, dürfte es schwer haben, Muße zu erleben. Beim völligen Ausfall des Top-Down-Systems wird sich allerdings auch keine Muße einstellen, weil das Top-Down-System – es hat, wie erwähnt, seinen neurobio- logischen Sitz im Stirnhirn – nicht nur der neurobiologische Ort der Fähigkeit zur Reflexion und Inhibition ist, sondern auch die Grundlage dafür, dass wir überhaupt Gedanken entwickeln können, die über den Zeithorizont einer akuten Situation hinausreichen. Begünstigend für das Erleben von Muße dürfte, wenn wir uns die beiden Fundamentalsysteme nochmals anschauen, also ein Zustand nahe an der sogenannten Homöostase sein, das heißt ein Zustand nahe am Zustand der Befriedigung. Am besten dürfte eine Einstellung knapp unterhalb der Sättigung sein, da ein solcher Zustand die vegetativen Bedürfnisse in den Hintergrund treten lässt, ohne dass eine vollständige Sättigung des Körpers die Tätigkeit des Geistes lähmt.

Ich möchte später, im dritten und letzten Teil meines Beitrages auf die beiden dargestellten Fundamentalsysteme zurückkommen und dann reflektieren, wie gesellschaftliche Einflüsse sozusagen auf dieser Klaviatur spielen, und welche Herausforderungen sich dadurch für die Selbststeuerung der Person – und für ihre Suche nach Muße  – ergeben. Zuvor möchte ich jedoch im zweiten Teil meines Beitrages Ergebnisse einer empirischen Untersuchung vorstellen. Wir haben im Rahmen einer repräsentativen Befragung von über 2.500 Personen erkundet, wie in unserer Gesellschaft lebende Menschen zwischen den beiden dargestellten Fundamentalsystemen navigieren. Ich bin weit davon entfernt, die Ergebnisse dieser Untersuchung und ihre Aussagekraft zu überschätzen. Die Ergebnisse geben lediglich wieder, wie in unseren Breiten lebende Menschen ihre Situation vor dem Hintergrund des Navigationsfeldes, das ich dargestellt habe, subjektiv erleben.

2. Eine empirische, repräsentative Untersuchung zur Selbststeuerung im Alltag

Um approximativ zu erkunden, inwieweit Menschen überhaupt die Notwendig- keit sehen, im oben genannten Sinne im Leben navigieren zu müssen, haben wir einem repräsentativen Sample von über 2.500 Personen die folgenden Fragen vorlegen lassen (Abb. 2): „Sollte man es mit Grundsätzen nicht immer so ernst nehmen, also eher locker leben? – Oder sollte man sich bemühen, sich bei der Lebensführung an bestimmte eigene Grundsätze zu halten?“ Dass man sich bemühen sollte, sich bei der Lebensführung an bestimmte eigene Grundsätze zu halten, wurde nur von etwas mehr als 50 % der Gesamtpopulation mit Ja be- antwortet. Der Anteil derer, die diese Frage bejahen, liegt bei Jüngeren deutlich unter, bei Älteren deutlich über diesem Durchschnittswert.

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Abb. 2: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von > 2.500 Personen, ob man sich bemühen sollte, sich bei der Lebensführung an bestimmte eigene Grundsätze zu halten.

Abb. 3: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von > 2.500 Personen, inwie- weit es Menschen im Alltag gelingt, Verlockungen zu widerstehen und eigenen Vorsätzen zu folgen

90 80 70 60 50 40 30 20 10

0 Gesamt

%

Männlich Weiblich Hauptschule

oder nur Grundschule

Mittlere Reife, Abitur, Studium 14–24

Jahre 25–40

Jahre 61 und

älter 41–60

Jahre

„Sollte man es mit Grundsätzen nicht immer so ernst nehmen, also eher locker leben? – Oder sollte man sich bemühen, sich bei der Lebensführung an bestimmte eigene Grundsätze zu halten?“

„Man sollte sich bemühen,

sich an eigene Grundsätze zu halten.“

90 80 70 60 50 40 30 20 10

0 Gesamt

%

Männlich Weiblich Grundsätze

nicht so wichtig Grundsätze wichtig 14–24

Jahre 25–40

Jahre 61 und

älter 41–60

Jahre

„Wie gut gelingt es Ihnen im Altag, kurzfristigen Verlockungen zu widerstehen und ihren längerfristigen guten Vorsätzen treu zu bleiben?“

Es gelingt mir „meistens“ oder „immer“.

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Um einen approximativen Eindruck davon zu gewinnen, wie Menschen in ihrem Alltag zwischen den beiden genannten Fundamentalsystemen – also zwi- schen Bottom-Up- und Top-Down-System – navigieren, haben wir die Frage gestellt (Abb. 3): „Wie gut gelingt es Ihnen im Alltag, kurzfristigen Verlockungen zu widerstehen und ihren längerfristigen guten Vorsätzen treu zu bleiben?“.

Dass ihnen dies „meistens“ oder „immer“ gelinge, haben wiederum etwas mehr als 50 % der Gesamtpopulation angegeben, auch hier wieder mit einem Anstieg entlang dem Lebensalter. Interessant war, dass dieser Prozentsatz bei Menschen mit nur geringem Einkommen deutlich niedriger war als bei Personen mit mitt- lerem Einkommen. Ein sehr deutlicher Unterschied zeigte sich auch zwischen denjenigen, die die Frage, ob man überhaupt nach eigenen Grundsätzen leben solle, bejaht bzw. verneint hatten. Wer erst gar nicht der Meinung war, dass man im Leben navigieren müsse, hatte offenbar auch deutlich weniger Erfolg bei dem Bemühen, eigenen Grundsätzen gerecht zu werden.

Schließlich haben wir dann noch gefragt (Abb. 4): „Was sind die Gründe, die Sie abhalten, im Alltag das zu tun, was Sie selbst eigentlich für richtig halten?“

Die dazu gegebenen Antworten betrafen überwiegend Bereiche, von denen –

Abb. 4: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von > 2.500 Personen, was Menschen im Alltag abhält, das zu tun, was sie selbst eigentlich für richtig halten

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Verlangen, etwas zu essen

Männer Frauen

Alle Unterschiede sind signifikant

außer n. s. = nicht signifikant n. s.

Wunsch nachSüßigk eiten

Verlangen, etwas

Alkoholisches zu trink

en Wunsch

zu rauchen Wunsch, fernzusehen Wunsch,

in’s

Internet zu gehenWunsch, auf’s Handy

zu schauen oder zu …Wunsch, Erwartungen

anderer zu entsprechen

%

„Was sind die Gründe, die Sie abhalten, im Alltag das zu tun, was Sie selbst eigentlich für richtig halten?“

Durch folgende Dinge lasse ich mich manchmal oder oft abhalten …

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neurowissenschaftlich betrachtet – bestens belegt ist, dass sie über ein Sucht- potential verfügen und im Menschen das Bottom-Up-System ansprechen. Einen besonderen Fall stellt der angegebene Verhinderungsgrund „Der Wunsch den Wünschen anderer zu entsprechen“ dar. Dahinter ist nicht nur der dem Bottom- Up-System zuzuschreibende Wunsch nach sozialer Verbundenheit zu vermuten, sondern auch der auf das Top-Down-System aus der sozialen Umwelt einwir- kende soziale Anpassungsdruck. Auch bei den Hinderungsgründen zeigen sich einige interessante Altersunterschiede (Abb. 5). Dies macht den großen Einfluss deutlich, den soziale und kulturelle Faktoren auf die Art und Weise haben, wie wir als Individuen zwischen den seelischen, geistigen und biologischen Belangen der eigenen Person navigieren.

Abb. 5: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von > 2.500 Personen, was Menschen im Alltag abhält, das zu tun, was sie selbst eigentlich für richtig halten, aufgeschlüsselt nach Altersstufen

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Verlangen, etwas zu essen

14 bis 24 Jahre 25 bis 40 Jahre 41 bis 60 Jahre 61 Jahre und älter

Alle Unterschiede sind signifikant

außer n. s. = nicht signifikant n. s.

Wunsch nachSüßigk eiten

Verlangen, etwas

Alkoholisches zu trink

en Wunsch

zu rauchen Wunsch, fernzusehen Wunsch,

in’s

Internet zu gehenWunsch, auf’s Handy

zu schauen oder zu …Wunsch, Erwartungen

anderer zu entsprechen

%

„Was sind die Gründe, die Sie abhalten, im Alltag das zu tun, was Sie selbst eigentlich für richtig halten?“

Durch folgende Dinge lasse ich mich manchmal oder oft abhalten …

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3. Muße-Kompetenz als Ergebnis eines Wechselspiels zwischen individuellen und sozialen Einflussfaktoren

Ich möchte abschließend nun nochmals einen Blick auf die beiden Fundamen- talsysteme werfen (Abb. 1), von denen eingangs die Rede war: Sie stellen nicht nur zwei Pole dar, zwischen denen wir als Subjekte navigieren. Sie sind zugleich die Klaviatur, auf der zahlreiche gesellschaftliche Einflüsse mitspielen. Soziale beziehungsweise gesellschaftliche Einflussfaktoren adressieren – in vielfältiger Weise – sowohl das Bottom-Up-System als auch das Top-Down-System. Gesell- schaftliche Gegebenheiten haben einen gewaltigen Einfluss darauf, ob und wie wir als Person in diesem Feld navigieren können, und diese sozialen Einfluss- faktoren entscheiden mit, ob Menschen bei der Suche nach Muße fündig werden können oder nicht. Ich möchte dies – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – an einigen wenigen Punkten konkretisieren.

Konsumangebote an Waren sowie an Lebens-und Genussmitteln adressieren das Bottom-Up-System und aktivieren es auch dann, wenn – biologisch oder medizinisch betrachtet – in einer konkreten Situation gar kein Mangelzustand herrscht. Die Intelligenz des Bottom-Up-Systems ist begrenzt. Dieses System will, wenn ihm keine Zügel angelegt werden, immer etwas haben. Wird es durch entsprechende Angebote ständig angeregt, sozusagen ständig leicht angekitzelt, dann lässt das System der Person keine Ruhe. Es können sich regelrechte Sucht- mechanismen – nicht im engeren psychiatrischen, sondern in einem allgemei- neren Sinne – entwickeln, die in der Person das Gefühl eines ständigen Mangels erzeugen, obwohl ein solcher gar nicht herrscht. Dies lässt sich – von Akteuren, denen daran gelegen ist, Konsum zu stimulieren – bekanntlich sehr gut ausnüt- zen. Besonders erfolgreich ist die Strategie, zu suggerieren, dass die Erfüllung von bestimmten Konsumwünschen zugleich zu mehr sozialer Verbundenheit führe.

Nur als Beispiel: Wer kann sich heute noch Geselligkeit ohne Alkohol vorstellen?

Wer auf Werbeplakaten einmal darauf achtet, wird fast überall die Suggestion entdecken, dass der Konsum des angepriesenen Produkts Gemeinschaft herstellt.

Wer, derart angekitzelt durch ständige Konsumangebote, in einer Dauersituation eines ständig gefühlten Mangels lebt, wird dementsprechend ständig an eigene Impulse erinnert und mit diesen konfrontiert, die auf die Befriedigung dieses angeblichen Mangels zielen. Der Weg zur Muße ist dann verstellt. Dieser Weg ist natürlich auch dort verstellt, wo nicht nur ein künstlich erzeugter, sozusagen nur ein gefühlter, sondern auch dort wo ein tatsächlicher Mangel herrscht. Soziale Not oder Armut können, wie schon erwähnt, den Weg zur Muße verstellen.

Nicht nur Konsumangebote, auch die heute ubiquitär auf uns einwirkenden medialen Reize sprechen das Bottom-Up-System an. Smartphones adressieren – wie Kokain und andere Suchtstoffe – das Bottom-Up-System. Die modernen Medien versprechen soziale Verbundenheit, von der ich bereits gesagt habe, dass sie – aus Sicht des Bottom-Up-Systems – zum basalen Bedürfnisarsenal des

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Menschen zählt. Soziale Verbundenheit ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, sie war sozusagen das evolutionäre Erfolgsticket des Menschen. Doch auch sie kann zu einer Sucht werden, nämlich dann, wenn das Bedürfnis nach ihr ständig sug- geriert, sozusagen angekitzelt wird, auch wenn an ihr tatsächlich gar kein Mangel besteht. Die modernen Kommunikationsmedien sind dabei, uns in dieser Weise süchtig zu machen, uns sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privatleben ständig in Unruhe zu halten und uns den Weg zur Muße zuzustellen. Die Möglich- keit zu Muße ist jedoch nicht nur dann erschwert, wenn Menschen einen nur gefühlten, sondern auch dann, wenn sie einen tatsächlichen Mangel an sozialer Verbundenheit erleben. Zwei wichtige Voraussetzungen für ein hinreichendes Maß an sozialer Verbundenheit – und damit für das Erleben von Muße – sind zum einen die Freiheit von sozialer Not, zum anderen ein hinreichendes Maß an Selbstbildung bzw. Reife.

Damit kommen wir zum letzten Punkt meiner Betrachtungen, nämlich zum Einfluss, den soziale bzw. gesellschaftliche Faktoren auf das Top-Down-System haben. Zum Top-Down-System des Menschen gehören die Fähigkeit, voraus- schauend zu denken, Pläne zu entwerfen, die Fähigkeit die Perspektive anderer zu berücksichtigen und die Möglichkeit, spontan auftretende, auf umgehende Befriedigung zielende Bottom-Up-Impulse zu reflektieren, zurückzustellen oder zu inhibieren. Diese Kompetenzen sind kein gegen die eigene Person gerichtetes Programm – auch wenn sie sich manchmal dahin entwickeln –, sondern können der mittel- und langfristigen Optimierung von Bedürfnisbefriedigungen dienen.

Wie ich schon ausführte, ist der neurobiologische Ort des Top-Down-Systems das Stirnhirn, also ein – evolutionär betrachtet – junger Teil des Gehirns. Im Gegensatz zum Mittelhirn und Stammhirn, der neurobiologischen Heimat des Bottom-Up-Systems, ist das Stirnhirn bei der Geburt des Menschen in einem hochgradig unreifen und noch völlig funktionsuntüchtigen Zustand. In Funk- tion gebracht wird das Top-Down-System durch einen über viele Jahre gehenden Dialogprozess, den wir „Erziehung“, „Ausbildung“ und „Bildung“ nennen. Nir- gendwo wird die biologische Formung des Gehirns durch soziale – und damit auch durch gesellschaftliche – Faktoren so deutlich wie im Falle der Entwicklung des Stirnhirns.

Die Entwicklung der Fähigkeit, vorausschauend denken, planen, handeln und eigene Impulse steuern zu können – die Entwicklung des Stirnhirns also – ist eine entscheidende Voraussetzung für den Zugang des Menschen zur Muße. Ich verwende hier einen erweiterten, nicht auf unsere Schul-Curricula eingeengten Bildungsbegriff. Bildung im erweiterten Sinne bedeutet, die Kompetenzen er- werben zu können, sich in einer jeweils gegebenen Umwelt gut zurechtzufinden, sich kreativ betätigen und eine soziale Identität entwickeln zu können. Bildung in diesem Sinne kann auch ein in einem afrikanischen Dorf lebendes Mädchen entwickeln. Menschen, die keinen Zugang zu einem hinreichenden Maß an Bildung hatten oder haben, haben daher auch keinen Zugang zur Muße. Welchen

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Zugang Menschen zu Bildungschancen haben, entscheidet sich nicht so sehr am Wollen des einzelnen Kindes oder jungen Menschen, sondern ist primär eine gesellschaftliche Frage.

Mit der Frage des Zugangs zu Bildungschancen ist die Bedeutung der Gesell- schaft für die Möglichkeiten des Einzelnen, Muße zu erfahren, jedoch noch nicht erschöpft. Gesellschaftliche Faktoren üben ihren Einfluss auch dann weiter aus, wenn die Entwicklung des Top-Down-Systems abgeschlossen ist. Sie spielen dann auf diesem System wie auf einer Klaviatur. Die vonseiten der Gesellschaft an die einzelne Person herangetragenen Erwartungen, sich nützlich zu machen, zu arbeiten, dies unter Zeitvorgaben zu tun und sich – ganz allgemein – an- zupassen, hätten keinen Adressaten, wenn es das Top-Down-System nicht gäbe.

Moderne Gesellschaften sprechen dieses System heute – fast überall in der Welt – nicht nur intensiv an. Sie zwingen diesem System ein Maß an Aktivität auf, das den Einzelnen immer mehr zwingt, vitale Bedürfnisse zurückzudrängen – vor allem den Wunsch nach Ruhe, Entspannung und Erholung, in unteren sozialen Schichten und in armen Ländern sogar das Bedürfnis nach einer hinreichenden Existenzsicherung. Und schließlich gibt es auch hier den Mechanismus der sug- gestiven Beeinflussung des Systems, des „Ankitzelns“, wie ich es genannt habe.

Die Suggestion besteht hier darin, dass wir uns durch Arbeit ständig nützlich machen und uns durch sie für unser Dasein ständig rechtfertigen müssten. Die- ser Mechanismus steht hinter dem, was wir in unseren westlichen Ländern weit verbreitet antreffen, nämlich der Arbeitssucht.

4. Zusammenfassung

Die Fähigkeit des Menschen zur Selbststeuerung ist nicht nur gefragt bei der Suche nach einer Balance zwischen den personalen und sozialen Belangen des Lebens. Der menschlichen Selbststeuerung stellt sich darüber hinaus auch die Aufgabe, seelische, geistige und biologische Belange innerhalb der eigenen Per- son auszubalancieren und miteinander in Einklang zu halten. Die Herausfor- derung einer gelingenden Navigation stellt sich dem Einzelnen in einem Feld, welches – psychologisch und neurobiologisch betrachtet – von zwei Fundamen- talsystemen abgesteckt wird.

Einem Bottom-Up wirkenden, auf umgehende Bedürfnisbefriedigung und Affektabfuhr zielenden System steht ein Top-Down-System gegenüber, welches den Menschen befähigt, innezuhalten, zu reflektieren, die Perspektive anderer zu berücksichtigen und eigene Impulse zu moderieren oder zu inhibieren. Beide Systeme sind muße-relevant. Zugang zu Muße zu finden, erfordert die Fähigkeit der Person, sich selbst zu steuern, was konkret heißt, zwischen den beiden in- neren Systemen eine Balance zu finden. Ohne eine solche Balance lässt sich kein Zugang zur Muße finden. Ein das Muße-Erleben in besonderer Weise begüns-

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tigender Zustand ist dann gegeben, wenn von beiden Systemen keine imperati- ven Impulse ausgehen, sondern wenn sie in einer spielerischen Balance gehalten werden können. Optimal für die Entfaltung von Muße dürfte – mit Blick auf das Bottom-Up-System – ein Zustand knapp unterhalb der Sättigung sein.

Beide genannten Systeme sind nicht statisch, sondern werden von sozialen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren fortlaufend adressiert, geformt und ver- ändert. Dies bedeutet, dass gesellschaftliche Faktoren einen wesentlichen Ein- fluss auf die Fähigkeit der Selbststeuerung und damit auch auf die Fähigkeit einer Person haben, sich Zugang zu den Möglichkeiten der Muße zu verschaffen.

Gesellschaftliche Faktoren, die sich negativ auf die Fähigkeit zur Selbststeue- rung und auf das Erleben von Muße auswirken, sind zum einen Armut und ein mangelnder Zugang zu Bildungschancen. Eine weiteres Muße-Hindernis sind zu hohe, vonseiten der Gesellschaft an den Einzelnen adressierte Leistungs- ansprüche, insbesondere ein hoher Arbeits- und Zeitdruck. Schließlich können weitere Bedingungen unserer modernen Gesellschaften – vor allem die ständige Exposition gegenüber Konsumangeboten und das fortwährende Eintreffen von medialen Reizen – das Erleben von Muße verhindern.

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