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Betrachtung unserer Motivation, anderen zu dienen.

Vortrag von Frank Ostaseski auf dem Rigpa-Kongreß „Sterben, Tod und Leben“ in München/Germering am 22.11.1996

Ich sage oft, mit Sterbenden zu arbeiten, weckt uns auf. Aber heute befürchte ich, das Reden über die Arbeit mit Sterbenden schläfert uns eher ein. Steht alle auf und streckt euch! Nun hast du gerade zwei der wichtigsten Punkte für die Sterbebegleitung gelernt.

Der erste ist: sorge gut für dich selbst, und der zweite ist: lerne, deinen Platz einzunehmen.

Es gibt noch einen dritten: lerne zu hören.

Wenn ich diese Glocke läute, erwarte ich von dir, einfach, daß du hörst. Bitte höre auf den Beginn, die Mitte und das Ende des Glockenklanges!

Ich werde die Glocke dreimal ertönen lassen (läutet die Glocke).

Es erfordert keine große Anstrengung, für dich selbst zu sorgen, es ist nicht besonders anstrengend, den eigenen Platz einzunehmen.

noch ist es sehr aufwendig, wirklich hören zu lernen.

lch möchte mit einem Zitat des Dichters Tagore beginnen:

Diene dir selbst - sorge für andere.

Bei einer Einführungszeremonie unseres Abtes im Zen-Zentrum stellte ein Schüler die Frage

„Was kann der Dharma mich darüber lehren, anderen zu dienen?" Der Abt antwortete:

Frank Ostaseski ist Gründer und Leiter des Zen- Hospiz-Projekts in San Franzisko.

Das Zen-Hospiz-Projekt entstand 1987 und ist das älteste buddhistische Hospiz in den USA. In Workshops, Fortbildungen und

Veröffentlichungen vermittelt er die Praxis achtsamer und mitfühlender Sterbebegleitung, die sich auf eine langjährige Arbeit im Umgang mit Sterbenskranken gründet.

Sein erstes Buch wird demnächst erscheinen.

Auf dem Rigpa-Kongreß in München 1996 berührte er mit seinen Vorträgen ein großes Publikum. Seither gibt er seine Erfahrungen auch in Deutschland weiter.

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„Welche anderen? Diene dir selbst!“ Aber der Schüler fuhr fort: „Wie lerne ich, mir selbst zu dienen?“ Und natürlich antwortete der Abt:

„Sorge für andere!"

Ich arbeite täglich mit Sterbenden. Einige dieser Leute sind recht harte Brocken.

Menschen, die eine Zeitlang auf der Straße gelebt haben, Menschen, die ärgerlich über ihren Verlust an Kontrolle sind, Menschen, die das Vertrauen in die Menschheit verloren haben, Menschen, die sich oft zur Wand drehen und in sich zurückziehen. Die meisten von ihnen interessieren sich nicht im geringsten für Buddhismus. Diese Leute vertrauen nicht leicht. Und wenn ich von irgendeinem Nutzen für sie sein will, muß ich besonders klar und ehrlich in meinen Absichten sein. sonst wittern sie sofort meine Heuchelei und Sentimentalität. Einige der Personen, mit denen ich arbeite, blühen auf, und ihr Sterben ist ein großes Geschenk. Sie versöhnen sich mit ihren verloren geglaubten Familienangehörigen und finden zu Freundlichkeit und Akzeptanz, nach denen sie ihr Leben lang gesucht haben. Es kann ganz wunderbar sein, dabei zu sein. Aber ich tue diese Arbeit nicht, damit sich alles zum Guten wendet. Hinter solchen Belohnungen herzujagen, verursacht Erschöpfung und führt letztendlich in die Manipulation. Wir sind dann vollkommen damit beschäftigt, Bedingungen zu kreieren, die zu einer Belohnung führen. Dabei verpassen wir, was wirklich ansteht. Ich tue diese Arbeit, weil ich sie liebe und weil sie mir dient. Ich versuche, in jeder Person, der ich diene, mich selbst zu sehen. Und ich versuche, den anderen in mir zu sehen. Diejenigen, mit denen ich arbeite.

wissen das und vertrauen, ja verlassen sich darauf. Sie verstehen, wir sitzen zusammen im selben Boot.

Im wahrsten Sinne bedeutet das Wort dienen, daß wir uns gegenseitig nähren und bei der Pflege anderer auch immer für uns selbst sorgen. Dieses Verständnis verändert die Art

und Weise unserer Pflege fundamental. Ich bin nicht der gute Held, der andere retten will.

Ich habe keine weißen Rösser. Wir werden stattdessen zu dem, was ich mitfühlende Begleiter nenne. Nun bedeutet das englische Wort für Mitgefühl auch Mitleid, wörtlich, mit anderen zu leiden. Die Betonung liegt auf dem Wort „mit“. Es bedeutet Zugehörigkeit. Ein Begleiter ist im übertragenen Sinne ein Wegbegleiter. So gibt es in dieser Verbindung keinen Führer, es gibt keinen Heiler und keinen Geheilten. Wir begleiten uns ganz einfach gegenseitig. Wie mein Freund Rob Anderson so schön sagt: „Wir gehen ganz einfach Händchen haltend durch Geburt und Tod." Während wir achtsam das Zimmer eines Sterbenden betreten, können wir auf eine tiefe Weise verstehen, wie zerbrechlich und kostbar dieses Leben ist. Wenn wir uns den Tod immer vor Augen halten, werden wir uns weniger von unseren Begierden beherrschen lassen, nehmen uns selbst und unsere Ideen nicht mehr so ernst und können leichter loslassen. Wir öffnen uns für Großzügigkeit und Liebe. Und so paradox es klingt, wahr ist, daß wir durch die Arbeit mit Sterbenden lernen, ein bißchen freundlicher miteinander umzugehen. Im Angesicht des Todes wird uns alles, womit wir uns identifiziert haben, genommen, entweder durch Krankheit, oder wir geben es freiwillig auf. „Ich bin ein Vater";

„ich bin eine Mutter"; „ich bin ein Hospiz- Helfer"; ‚.ich bin homosexuell"; wie auch immer die Vorstellung sein mag, die wir von uns selbst haben, alle diese Identitäten werden vergehen. Eines dieser wundervollen Dinge bei der Arbeit mit Leuten, mit denen ich zu tun habe, die in erster Linie bedürftig sind, ist es, daß ihr Leben auf den ersten Blick ziemlich verschieden von meinem aussieht.

Sie sind schwarz, ich bin weiß; sie spritzen sich Heroin und haben AIDS, ich nicht; sie sind obdachlos und allein, ich zahle eine unsinnige Summe an Miete und habe vier Kinder, vier Teenager. Die Arbeit mit Sterbenden ist vergleichsweise einfach, wenn man vier

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Teenager hat. Ich könnte mir leicht vormachen, daß wir voneinander getrennt sind, diese Leute und ich. Eventuell sind wir möglicherweise vor ein paar Monaten noch auf der Straße aneinander vorbeigegangen.

Jetzt im Hospiz werden wir einfach unter den intimsten Umständen zusammengeworfen.

Und dann finden wir plötzlich, mitten in den Aktivitäten, dem alltäglichen Dienst, einen gemeinsamen Nenner, wir finden heraus, daß wir zusammengehören.

Die Helfer-Krankheit

Ich möchte ein paar Worte sagen zu unseren Absichten, da dies der Brennpunkt dieses Vortrages ist. Vor jeder körperlichen, mentalen oder verbalen Aktivität gibt es einen Moment, in dem die Absicht entsteht, etwas zu tun. Diese subtile Tatsache muß uns bewußt werden. Wenn wir unserer Absichten gewahr sind, können wir wählen, wie wir handeln wollen. Ein Augenblick, in dem wir mit unserer Absicht in Kontakt sind, kann unsere gewohnheitsmäßigen Muster zerbrechen. Er kann uns davor be-wahren, im Sinne „automatischer Steuerung" zu funktionieren. ln der Zen-Praxis gibt es eine Übung, die dokusan genannt wird. Das ist eine Befragung durch den Lehrer. Dem Schüler/der Schülerin wird die Anweisung gegeben, vor der Tür des Lehrers zu warten und sich innerlich zu sammeln, ganz im gegenwärtigen Moment zu sein. Weil sie keine Ahnung haben, was sie hinter der Tür erwartet, können die Schüler auch nicht wissen, was der Lehrer sie fragen wird. Sie müssen einfach bereit sein, flexibel und offen.

Das Zimmer eines Sterbenden zu betreten, ist wie zum dokusan zu gehen. Idealerweise sollten unser Körper und unser Geist stets zusammen den Raum betreten. Manchmal ist das nicht der Fall. Wir lassen z. B. unseren Geist zurück oder gelegentlich sogar unseren Körper. Oder wir haben den Raum betreten, schon Tage bevor wir dort angekommen sind.

Einem freiwilligen Helfer, den ich kenne, ist das passiert. Er ging an das Bett eines Patienten. Dieser war sehr aufgeregt und sagte: „Oh, ich bin so froh, daß du hier bist.

Endlich habe ich jemanden, mit dem ich über mein Sterben reden kann." Der Helfer wurde sehr erregt und antwortete: „Ja, ja, ich werde Bücher von Elisabeth Kübler-Ross und Stephen Levine besorgen und nächste Woche wiederkommen, und dann werden wir über alles sprechen." Natürlich kam er in der nächsten Woche mit einem Stapel von Büchern wieder, und der Patient sagte: „Wir sehen gerade das Fußballspiel im Fernsehen an. Bitte komm´ doch dazu und schau’ das Spiel mit uns an.“

Zu oft achten wir in der Fürsorge für Sterbende zu wenig darauf, was wirklich sinnvoll ist. Stattdessen wollen wir unsere Identität oder eine Vorstellung, die wir von uns haben, bestätigen. Wir wollen jemand sein und behaupten: „Ich arbeite mit Sterbenden“, mit der Betonung auf „ich“.

Damit unterstreichen wir die Rolle, nicht die Funktion. Ich nenne das manchmal „Helfer- Krankheit“. Sie breitet sich sprunghafter und epedemiehafter aus als AIDS und Krebs. Das bezieht sich auf die Art und Weise, mit der wir versuchen, uns vom Leiden anderer zu distanzieren. Wir grenzen uns ab durch unser Mitleid, unsere Angst, unsere professionelle Wärme und sogar durch unsere wohltätigen Handlungen. Das hat mit echter Fürsorge nichts zu tun. Vor ein paar Jahren hatten wir eine Frau im Hospiz, die nur noch einige Tage

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zu leben hatte, und sie war sehr traurig und deprimiert. Das schien mir natürlich; sie lag im Sterben. Aber die Krankenschwester kam, sah ihren Zustand und schlug vor, ihr Elavil zu geben (ein Medikament, das die Stimmung aufheitern soll). Es dauert normalerweise drei Wochen, bis es anfängt zu wirken. Ich sagte:

„Warum möchtest du dieses Medikament verabreichen? Und die Schwester antwortete:

„Naja, sie leidet, und es ist so hart, sie leiden zu sehen.“ Da sagte ich: „Vielleicht solltest du Elavil nehmen.“

Helfen — reparieren — dienen

Diese Anhaftung an die Helferrolle ist für die meisten von uns nichts Neues. Anderen zu helfen, bedeutet für viele Anerkennung und Macht zu bekommen. Wir fühlen uns respektiert, weil wir gebraucht werden. Diese Entschädigungen sammeln wir am Ende der Woche auf unserem Anerkennungskonto, und gehen damit um wie mit einem Gehaltsscheck.

Aber wenn wir nicht achtsam sind, wird sich diese Identität in ein Gefängnis verwandeln, und sie wird auch diejenigen gefangen nehmen, denen wir dienen. ln dieser verkehrten Welt muß es einen Hilflosen geben, weil ich ein Helfer sein will. Versteht ihr, was ich meine?

Meine Freundin Rachel, die ein Krebs-Zentrum leitet, spricht sehr schön über dieses Thema.

Sie sagt: „Dienen ist nicht das gleiche wie helfen. Helfen basiert auf Ungleichheit, es ist keine Beziehung zwischen Gleichgestellten.

Wenn du hilfst, benutzt du deine eigene Stärke gegenüber jemandem, der schwächer ist. Es ist eine Beziehung. in der der eine oben

und der andere unten steht, und Menschen spüren diese Ungleichheit." Wenn wir helfen, nehmen wir vielleicht unbeabsichtigt mehr weg, als wir geben, und schwächen das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung derer, denen wir eigentlich dienen wollen. Wenn ich helfe, bin ich mir meiner Stärke sehr bewußt.

Wir dienen jedoch nicht mit unserer Stärke, wir dienen mit uns selbst. Dabei nehmen wir aus all unseren Erfahrungen etwas mit; unsere Wunden helfen uns zu dienen, ebenso unsere Beschränkungen, sogar unsere dunklen Seiten.

Die Ganzheit in uns dient der Ganzheit im anderen und der Ganzheit im Leben. Helfen schließt Schuld mit ein. Wenn du jemandem hilfst, schuldet er dir etwas. Aber dienen ist wechselseitig. Wenn ich helfe, habe ich das Gefühl persönlicher Befriedigung, wenn ich diene, empfinde ich Dankbarkeit. Dienen unterscheidet sich auch von instandsetzen.

Wir reparieren gebrochene Rohre, jedoch keine Menschen. Wenn ich anfange, jemanden zu reparieren, nehme ich ihn als zerbrochen wahr. Reparieren beinhaltet eine Form von Wertung, die uns voneinander trennt, sie schafft Abstand. So können wir grundsätzlich feststellen, daß helfen, reparieren und dienen unterschiedliche Sichtweisen des Lebens darstellen. Wenn du hilfst, nimmst du das Leben als schwach wahr, wenn du reparierst, siehst du die kaputte Seite des Lebens; und wenn du dienst, siehst du das Leben als Ganzes. Wenn wir auf diese Art dienen, verstehen wir das Leiden des anderen auch als unser Leiden und seine Freude auch als unsere Freude. Da entsteht der Drang zum Dienen ganz von selbst. Unsere ursprüngliche Weisheit und unser Mitgefühl kommen so naturwüchsig zu Wort. Ein Mensch, der dient, weiß, daß er benutzt wird, und ist dazu bereit, im Gewahrsein für etwas zu dienen, das größer ist als wir selbst. Wir helfen und reparieren viele Dinge in unserem Leben, aber wenn wir dienen, dienen wir immer derselben Sache: Wir dienen der Ganzheit. Für die zu sorgen, die leiden, ob sie nun im Sterben

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liegen oder nicht, ist nicht das Entscheidende.

Die Fürsorge für andere weckt uns auf, öffnet unsere Herzen und unseren Geist. Sie öffnet uns bis hin zur Erfahrung der Ganzheit, der Vollkommenheit, von der ich spreche. Aber meistens stecken wir fest, gefangen in der Macht unserer Gewohnheiten und Vorstellungen von uns selbst, die uns trennen von den anderen. Wir verlieren uns in einer reaktiven Denkweise. Beschäftigt mit dem Versuch. unser Selbstbild zu schützen, durchtrennen wir unsere Verbindungen, isolieren uns von dem, was uns wirklich dienen würde, was tatsächlich unsere Arbeit sein könnte. Als Menschen, die heilen, müssen wir bereit sein, unsere Leidenschaft, unsere Angst, unser ganzes Selbst mit an die Bettkante zu bringen. Indem wir unser eigenes Leiden erforschen. bauen wir eine Brücke zu der Person, der wir dienen wollen.

Die Erforschung des eigenen Leidens führt zum Dienen

Vor ein paar Jahren war ein sehr, sehr guter Freund von mir ziemlich krank, er hatte. AIDS.

Ich liebte diesen Mann sehr. Ich kannte ihn schon viele Jahre. Von einem Tag auf den anderen verlor er die Fähigkeit zu sprechen, eine Gabel zu halten, zu stehen oder auch nur

einen verständlichen Satz zu formulieren. Dies geschah alles an einem Nachmittag. An dem Nachmittag, an dem ich für ihn sorgte. Es hat mich furchtbar entsetzt. Den ganzen Nachmittag habe ich versucht, für ihn da zu sein. Ich habe alles getan, was ich für ihn tun

konnte. Er hatte enorme Fisteln sowie konstante Durchfälle, die bei analen Tumoren üblich sind. Wir bewegten uns von der Toilette zur Badewanne und wieder zur Toilette, und zwar unaufhörlich. Das ging die ganze Nacht so weiter. Ich war erschöpft, und wollte nur noch ins Bett gehen. Ich habe jeden Trick versucht, den ich kannte. Ich war schmeichlerisch, manipulativ, fürsorglich. Ich habe meine Kleider öfter gewechselt als Madonna. Und dann, mitten auf dem Weg von der Badewanne zur Toilette sagte er mit seinem zerrütteten Verstand: „Du strengst dich zu sehr an." Und das tat ich tatsächlich.

Ich setzte mich neben die Toilette und weinte.

Das war die vollkommenste Begegnung in unserer ganzen Beziehung. Da waren wir nun, total hilflos zusammen, keine Trennung, keine professionelle Wärme. Wenn wir nicht bereit sind, unser eigenes Leiden zu erforschen, dann werden wir höchstens vermuten können, wie es unseren Patienten geht. Wir werden sie jedoch nicht wirklich verstehen. Es ist die Erforschung unseres eigenen Leidens, die es uns ermöglicht, einem anderen Menschen zu dienen, die es uns erlaubt, den Schmerz eines anderen mit Mitgefühl zu berühren, statt mit Angst und Mitleid. Doch wir müssen bereit sein zu hören, nicht nur den Patienten.

sondern auch uns selbst.

Das Gewahrsein im Augenblick haben

Wir sollten unsere Aufmerksamkeit sorgsam auf das richten, was unmittelbar vor uns liegt.

Ungefähr vor einem Jahr wurde ich ins Hospiz gerufen, weil eine unserer Patientinnen im Sterbeprozeß war. Es war eine ziemlich robuste 80jährige russische Jüdin. Als ich das Zimmer betrat, sah ich, daß sie nach Luft rang.

Neben dem Bett saß ein Begleiter. Er sagte zu ihr: „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin direkt hier bei ihnen“. Und die Dame sagte: „Glauben sie mir, wenn es ihnen so gehen würde wie mir, hätten sie auch Angst."

Ich stand nur da und beobachtete. Kurz danach sagte der Begleiter zu ihr: „Sie sehen

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aus, als wäre ihnen kalt, möchten sie eine Decke?" Und die Frau sagte „Klar ist mir kalt, ich bin fast tot.“ Um ihr zu helfen, mußte ich wirklich hinhören. Ich mußte genau darauf achten, was sie uns sagen wollte. Sie rang nach Luft. Sie wollte, daß wir aufrichtig mit ihr umgingen. So ging ich zu ihr und sagte: „Adele, möchtest du ein bißchen weniger leiden?

Möchtest du etwas weniger kämpfen? Und sie antwortete: „]a." Ich sagte: „Direkt zwischen der Einatmung und der Ausatmung, da gibt es einen Platz. Ich habe gesehen, wie du dich dort ausgeruht hast. Kannst du deine Aufmerksamkeit nur für einen Augenblick dahin lenken?" Sie ist eine ziemlich rauhe und zähe alte Dame, die keinerlei Interesse an Buddhismus oder Meditation hat. Aber sie wollte weniger kämpfen. So versuchte sie es für einige Augenblicke. Und als sie das tat, sah ich, wie langsam die Angst aus ihrem Gesicht wich. Sie nahm noch ein paar Atemzüge, dann starb sie ganz ruhig. Wenn wir anderen dienen wollen, dann müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was unmittelbar vor uns geschieht. uns beim Handeln möglichst wenig einmischen, und das Gewahrsein und die Gelassenheit, die wir auf unserem Meditationskissen kultivieren, in uns wiederbeleben. Der Grad, bis zu welchem wir bereit sind, unaufhörlich im Augenblick zu leben, ist das Maß für unsere Fähigkeit, anderen wirklich zu dienen. Lhr seht also, wenn das Herz geöffnet und der Geist ruhig ist und unsere Aufmerksamkeit voll in diesem Augenblick ist, dann wird die Welt für uns unteilbar, und wir wissen, was zu tun ist. Jeder von uns kann das tun, wir brauchen keine 20 Jahre buddhistischer Praxis dazu. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, das Leiden eines anderen wie sein eigenes Leiden zu umarmen.

Wir tun das seithunderten von Jahren - wir haben es nur vergessen. So müssen wir uns gegenseitig daran erinnern.

Ganz in den Anfängen unseres Hospizes haben unsere Ehrenamtlichen die ganze Arbeit an

den Patienten geleistet. Und eines Abends hat Tom, einer der Ehrenamtlichen, einem Patienten geholfen, vom Bett zur Kommode zu gehen. Gerade als er dabei war, fiel der Patient hin und es kam zu einem gigantischen Chaos, Seine Hosen rutschten herunter und wickelten sich um seine Knöchel, die Kommode stürzte um. Es war wie ein kleines Hiroshima. So geht es wirklich bei der Pflege zu. Irgendwie hat Tom sich da durch gefummelt, hat den Patienten zurück ins Bett gebracht. Dann rief er mich an und sagte:

„Frank, ich möchte, daß du mit mir nochmal die Techniken durchgehst, die wir im Training gelernt haben, z.B. wie man jemanden ins Bett bringt."

Ich antwortete: „Nächstes Mal, bevor du J. D.

bewegst, überprüfe Deinen Bauch, sieh ob dein Bauch weich ist. Wenn Dein Bauch nicht weich ist, mach´ überhaupt nichts." Er sagte:

„Hör´ mir auf mit dem buddhistischen Zeug.

Ich will wissen, was ich mit seinen Knien machen soll?" Ich sagte: „Überprüfe zuerst deinen Bauch und rufe mich später nochmal an!“ Das ist ein bißchen, wie wenn man sagt:

„Nimm zwei Aspirin und ruf’ mich am Morgen an“. Etwas später klingelte das Telefon. Tom sagte: „Frank, es war unglaublich. Ich bin zu J.D. gegangen, um ihn zu bewegen und mein Bauch war steinhart. So habe ich innegehalten und ein paar Atemzüge genommen, dann wurde er weich. Das nächste, was ich weiß, ist, daß ].D. in meinen Armen lag, wie ein Geliebter oder ein kleines Kind. Es war überhaupt kein Problem.“

Echtes Dienen entspringt der Erfahrung der Ganzheit

In der buddhistischen Praxis gibt es die Vorstellung, daß wir alle schon viele Male geboren wurden und daß wir alle irgendwann einmal unsere Mütter, Väter und Kinder waren. Deshalb sollten wir alle Personen behandeln, als wären sie unsere Liebsten.

Wenn wir das Wesen des Dienens

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untersuchen, so zeigt sich ein Muster: Allen Gewohnheiten, die uns in unserer Arbeit behindern, ist das Gefühl des Getrenntseins gemeinsam. All die Momente und Handlungen, in denen wir wirklich dienen, beinhalten die Erfahrung der Einheit. Einstein sagte dazu: „Ein Mensch ist Teil eines Ganzen, das wir Universum nennen, ein Teil begrenzt durch Zeit und Raum. Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Rest der Welt Getrenntes, eine Art optische Täuschung des Bewußtseins. Diese Täuschung ist ein Gefängnis für uns, welches uns beschränkt auf unsere persönlichen Wünsche und die Zuneigung zu wenigen Menschen, die uns am nächsten stehen. So muß es unsere Aufgabe sein, uns selbst aus diesem Gefängnis zu befreien durch die Erweiterung unseres geistigen Horizonts und unseres Mitgefühls, um alle lebenden Wesen und die Gesamtheit der Natur in ihrer Schönheit umfassend zu

begreifen.“ Wenn das Herz ungeteilt ist, dann wird alles, was uns begegnet, zu unserer Praxis. S0 wird Dienen ein heiliger Austausch.

Wie das Ein- und Ausatmen. Wir erhalten eine körperliche und spirituelle Nahrung in der Welt, und sie ist wie der Einatem. Jeder von uns ist mit einer bestimmten Fähigkeit geboren worden. Ein Teil unserer Freude an dieser Welt ist es, diese zurückzugeben, und das ist wie der Ausatem. Ein Freund nennt diese Art zu arbeiten „einfache menschliche Güte." Ich denke unsere Aufgabe ist es, den Weg frei zu geben für die uns innewohnende Weisheit und unser Mitgefühl. Ich möchte mit einem Wort der Ermutigung für euch schließen: „Umarme die Vollkommenheit deines Lebens, weil es die Ganzheit deines Seins ist, von der aus du dienen wirst. Weise nichts zurück, nehme alles mit Zärtlichkeit an, so daß du es voller Anmut denen anbieten kannst, denen du dienst!"

Literaturempfehlungen:

Vorträge vom Kongreß Sterben, Tod und Leben als Tapes und Videos sind über ZAM Ratnakosha zu beziehen.

Christine Longaker, Dem Tod begegnen und Hoffnung finden.

Piper 1998.

Ram Dass und Paul Gorman, Wie kann ich helfen, Sadhana Verlag, Berlin 1994.

Geshe Thubten Ngawang, Tod, Bardo und Wiedergeburt, Hg; Tibetisches: Zentrum/Hamburg, dharma edition, 4. Aufl. 1994

Alfred Weil, Im Spiegel des Todes, Beiträge zu Tod und Sterben aus buddhistischer Sicht, Hg; DBU‚

1. Aufl. 1995.

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Im Veranstaltungssaal eines Münchner Altenheimes am Rande der Stadt gestaltete Frank Ostaseski für mehr als hundert TeilnehmerInnen, davon waren die meisten aus der Hospizbewegung, ein Seminar zum Thema Sterbebegleitung. Das Wochenende wurde vom Hospizverein Dasein gut organisiert und liebevoll begleitet. Es hatte sich seit dem Rigpa Kongreß im Herbst 1996 zum Thema „Sterben, Tod und Leben“ in München/Germering in Deutschland herumgesprochen, daß es viel von Frank Ostaseski zu lernen gibt. Seine Qualität liegt darin, angesichts des Todes eine Berührung mit Ängsten und tief liegenden Gefühlen in den Teilnehmerinnen zu schaffen. Mit dem Herzen waren wir dabei, weniger ließ Frank nicht zu. Er schuf eine Atmosphäre von Vertrauen und Geborgenheit, kreierte so den nötigen Schutzraum. Einige, sehr gut

ausgewählte und klar angeleitete Rollenspiele wirkten tief und subtil. Verborgene

Emotionen, Verhaltensmuster, Ängste wurden wahrgenommen, miteinander besprochen oder in der Meditation betrachtet. Es entstand ein Erfahrungsraum, in dem jeder spüren konnte, was es heißt, authentisch zu sein, und wie weit wir oft davon entfernt sind. Wir gewohnt, Masken zu tragen und Rollen zu spielen. Uns wirklich berühren zu lassen vom eigenen Leid und dem der anderen, dabei zugleich uns und den anderen zu spüren, das

vermeiden wir eher, denn dann sind wir verletzlich und spüren unsere Schmerzen. Für mich war es eine besonders wertvolle

Erfahrung zu erleben, wie unter Franks Anleitung die Flucht in gewohnte

Distanzierungsmuster von eigenen Emotionen oder vom Leiden generell nicht gelang. Er holte uns immer wieder in die gegenwärtige Situation zurück und ermutigte uns, ehrlich zu sein. Eine Kernaussage von Frank ist mir noch in Erinnerung geblieben, die ungefähr so lautet:

Ich habe erkannt, daß ich, als ich begann Sterbende zu begleiten, dies unbewußt deswegen tat, weil ich mein eigenes Leiden, meine Angst vor dem Sterben umgehen wollte.

Als mir das klar wurde, brach ich zusammen.

Dann begann die Zeit, in der ich lernte, mein Leiden zu spüren und das der anderen auch. Es war oft sehr schmerzhaft, doch es hat mein Herz geöffnet. Heute begleite ich Sterbende, um mein Herz immer offen zu halten.

Die großartige Chance, den Sterbenden als meinen Spiegel zu begreifen, in den ich schauen darf, um zu lernen, über mich, das Leben, die Vergänglichkeit ist mir in diesem Seminar hautnah deutlich geworden. Es war die sanfte, doch bestimmte Führung durch Frank, die dies ermöglichte. Gerade für HospizarbeiterInnen aller Richtungen und Schattierungen gibt es hier viel zu lernen.

Lisa Freund

Referenzen

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