Differenzierung
Zur Einführung
Für den weiteren Gang der Überlegungen ist nun zuerst einmal wichtig, Grundinformationen bereitzustellen. Dies erfolgt in zwei Abschnitten.
Zunächst wird das Feld abgesteckt, das für Differenzierungsprozesse zur Verfügung steht. Je nach den zugrunde liegenden Differenzierungs- kriterien kann das Schulwesen insgesamt aufgebaut werden. Wenn Leis- tungskriterien die dominante Rolle spielen, spricht vieles sehr schnell für eine Ausdifferenzierung nach verschiedenen Leistungslevels (im Se- kundarbereich dann Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Förder- schule). Man könnte aber Leistungsdifferenzierung auch sehr effektiv innerhalb von Gesamtschulen praktizieren und könnte dabei ein zweites konstituierendes Prinzip wirksam werden lassen: das der sozialen Inte- gration. Schule aber darf sich nicht nur vom Leistungskriterium her dif- ferenzieren. Das Prinzip der Interessendifferenzierung wird für die Schule wichtig. Dieses liegt daran, dass Schüler nicht nur an gesell- schaftlichen Erwartungen (Leistung, Qualifikation, Kompetenz) gemes- sen und entsprechend sortiert werden, sondern auch wichtig ist, dass sich bei Heranwachsenden Interessen, Selbstständigkeiten entwickeln.
Entsprechend dem diesem Buch zugrunde liegenden Interesse, nämlich individuellen und kooperativen Lernprozessen möglichst viele Chancen zu eröffnen, gibt das nächste Kapitel einen Grundriss der Binnendifferenzierung. Unabhängig von der Schulart und ihrer Organisation ist dies das entscheidende Moment: Wie kann Unterricht so organisiert werden, dass er bei hoher Homogenität oder Heteroge- nität der Lerngruppen (Klassen) genügend Lernpfade anbietet, die für möglichst viele Schüler erfolgreiches Lernen unter den Gesichtspunk- ten der Leistung und des Interesses ermöglichen?
2.1 Differenzierungsformen
Ausgang
Lernende können einzeln oder in Gruppen unterrichtet werden. In beiden Fällen liegt es nahe, über kurz oder lang mit Differenzierungs- maßnahmen zu beginnen.
Erfolgreiche Lernpfade
2
Didaktik der Differenzierung
Der Einzellerner bedarf differenzierter Vermittlung und im Ange- bot und Anspruch variierender Lernangebote, um interessiert und aktiv zu lernen.
Beim Lernen in Gruppen (Klassen) ist die Situation sehr viel kom- plizierter. Sowohl die Lerninteressen wie die Leistungsmöglichkeiten wie auch die sozialen Beziehungen schaffen ein vielschichtiges Ge- füge, dem mit pauschalen, also undifferenzierten Maßnahmen kaum entsprochen werden kann. So ergibt sich das Problem der Differenzie- rung.
Könnte diese Notwendigkeit noch ganz aus der Perspektive des Leh- renden begründet werden, ergibt sich aus einem Unterrichtsverständ- nis – das Unterricht als Interaktion potenziell handlungsfähiger Sub- jekte (Schüler und Lehrer) versteht – noch stärker Veranlassung, beim Lehren und Lernen zu differenzieren. Dieses ist notwendig, da nicht nur die Lernmöglichkeiten optimiert werden sollten, sondern auch den ernstzunehmenden Lerninteressen und -bedürfnissen der Ler- nenden entsprochen werden muss. Diese werden verschieden sein.
Definition
Unter Differenzierung wird einmal das variierende Vorgehen in der Darbietung und Bearbeitung von Lerninhalten verstanden, zum ande- ren die Einteilung bzw. Zugehörigkeit von Lernenden zu Lerngruppen nach bestimmten Kriterien. Es geht um die Einlösung des Anspruchs, jedem Lernenden auf optimale Weise Lernchancen zu bieten, dabei die Ansprüche und Standards in fachlicher, institutioneller und gesell- schaftlicher Hinsicht zu sichern und gleichzeitig lernorientiert aufzu- bereiten.
Differenzierung stellt sich für die Organisation von Lernprozessen als Bündel von Maßnahmen dar, Lernen in fachlicher, organisato- rischer, institutioneller wie individueller und sozialer Hinsicht zu opti- mieren.
Differenzierungskriterien
Differenzierungskriterien lassen sich in vielfältiger Weise denken. Ein und derselbe Lerninhalt kann in methodischer und medialer Hinsicht differenziert angeboten werden (Bönsch 1976). Im Umfang wie im An- spruch (quantitativ – qualitativ) wie im Bearbeitungsmodus (Papier- Bleistift-Lernen, Zuhörer-Lernen, experimentelles Lernen, medienge- Definition
Differenzierung
stütztes Lernen, handlungsorientiertes Lernen) können Lernprozesse zu einem Ziel hin außerordentliche Unterschiede aufweisen. Eine zu- gelassene Zielvariation würde zusätzlich differenzieren.
Das Alter von Lernenden, ihr Geschlecht, ihre Religionszugehörig- keit können Differenzierungskriterien sein. Sie haben den Vorteil, leicht erkennbar und fehlerfrei messbar zu sein (Hopf 1976). Während sie in der Vergangenheit eine z. T. nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, ist mindestens das Differenzierungskriterium „Geschlecht“
heute nicht mehr so häufig gefragt, zum Teil wieder gefragt.
Leistung, Begabung, Neigung und Interesse sind dagegen Differen- zierungskriterien, die als wichtig angesehen werden. Leistung kann im Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland als das Differenzie- rungskriterium par excellence gelten.
Leistungsdifferenzierung
Leistung kann als allgemeine Schulleistung (danach ergibt sich die Verteilung auf Förder-, Haupt-, Real-, Oberschule) oder als fachspezi- fi sche Leistung verstanden werden. Sie meint dann die Art und Weise und das Ergebnis der Bemühungen von Schülern, auf die schulischen Forderungen, die meist als gesellschaftlich notwendig bezeichnet wer- den, zu reagieren. Die Leistungsanforderungen werden in der Regel durch Lehr- / Lernziele markiert. In diesen knappen Bestimmungen stecken viele Probleme, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann: Schul- / fachliche Leistungen sind häufi g nicht eindeutig defi - niert, sie variieren von Schule zu Schule, ihre Messung ist voller Pro- bleme, nicht-schulische Faktoren (Lebensbedingungen der Schüler z. B.), Personal- und Ausstattungsfragen der Schule, psychologische Faktoren (Motivation, Lehrstil u. a. m.) bestimmen Leistung als höchst komplexen Sachverhalt.
Wenn Leistungsdifferenzierung praktiziert wird, handelt es sich in der Regel um Gruppierungsmaßnahmen, die aufgrund gemessener oder angenommener allgemeiner Leistungsentsprechungen kurz-, mittel- oder längerfristig vorgenommen werden. Die meist globalen Kriterien folgende Leistungsdifferenzierung
• auf der Schulsystemebene: Förder-, Haupt-, Real-, Gymnasium,
• auf der Schuldifferenzierungsebene: fachübergreifende Niveaugrup- pen (streaming),
• auf der Ebene der Fachunterrichtsdifferenzierung: fachspezifi sche Kurse (setting) oder fl exible Differenzierung,
Differenzie- rungskriterien
Leistungs- differenzierung
Didaktik der Differenzierung
vernachlässigt den Sachverhalt, dass es in den einzelnen Fächern Leis- tungsdimensionen gibt, die sich voneinander unterscheiden und auf die Leistungsdifferenzierung eigentlich bezogen sein müsste (Roeder / Treumann 1974).
Interessendifferenzierung
Wenn man der Prämisse folgt, dass der Mensch sich selbst und sein Handeln eigenständig defi nieren kann, dass sein personales Selbstver- ständnis von den anderen respektiert wird, dass sich solch ein Selbst- konzept darin zeigt, dass der Mensch sich im Lauf seiner Entwicklung Sach- und Sinnzusammenhänge, Bedeutungssysteme, Verhaltensfelder, Sachkompetenz erarbeitet, kann man Interesse als Such- und Ortungs- tendenz verstehen, mit der sich ein Mensch intentional und refl exiv auf je gegebene Wirklichkeitsbereiche einlässt (Schiefele 1978 und 1981).
Dies hat für Lehr- und Lernprozesse dann zur Konsequenz, dass Möglichkeiten planmäßig eröffnet werden müssen, Interessen ent- wickeln zu können.
Unter Interessendifferenzierung werden die Arrangements verstan- den, die einem Lernenden statt Vermittlung und Erarbeitungspfl icht die Chance geben, in freier Entscheidung sich auf Inhalte, Handlungen einzulassen, um ein latentes oder manifestes Interesse zu identifi zie- ren, zu entwickeln oder zu verstärken. In der Literatur wird häufi g von Wahldifferenzierung gesprochen, um damit dem Bündel unter- schiedlicher Intentionen (Zufall, persönliche Erziehung, Neigung, In- teresse) besser gerecht zu werden (Bönsch / Schittko 1981). Gelegent- lich ist auch von Neigungsdifferenzierung die Rede. Die Grundintention ist, Differenzierung eher Zielen wie Selbstbestimmung, selbstständiges Lernen, Engagement von Schülern folgen zu lassen und weniger insti- tutioneller Verfügung (Haußer 1981).
Interesse wird hier als eine überdauernde Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Gegenstand verstanden. Ein Interesse ist dann vor- handen, wenn die Unverbindlichkeit des Verhältnisses zwischen indi- vidueller Subjektivität und objektivem Bereich der Umwelt in einer vom Individuum ausgehenden Strukturierung aufgehoben wird (Sauer, 1976). Diese Beziehung wird nicht unwesentlich durch soziale Inter- aktionen bestimmt, da Gegenstände (Kurzgeschichten, Blumen, physi- kalische Gesetze, Probleme der Dritten Welt u. a. m.) dem Individuum über Personen bedeutsam werden, die sich damit befassen oder seine Neigungen positiv einschätzen und damit verstärken.
Interessen- differenzierung
Interesse
Interesse manifestiert sich in Tätigkeiten, in Handlungen mit einem Gegenstand. Das Subjekt erhält dabei Informationen, über die tätige Auseinandersetzung mit Gegenständen ist es an deren Konstituierung oder Verwendung in sozialen Situationen beteiligt (Schneider, Hau- ßer, Schiefele 1979).
Differenzierungstheoretisch ist wichtig,
• dass im Rahmen von zu wählenden Lernangeboten die Gegenstände der Wahl nicht zu eingeengt sind (Was steht zur Wahl?),
• dass Zufallsentscheidungen möglich sein müssen, um überhaupt In- teressen entstehen zu lassen,
• dass Präferenzen – als Wahl des kleineren Übels – im Alltag eine po- sitive Vorstufe zur Wahl nach Interesse darstellen,
• dass Wahlen aufgrund persönlicher Beziehungen der Interessenbil- dung hilfreich sind, da beteiligte Personen einen Aspekt des Interes- sengegenstandes ausmachen (Schlömerkemper 1974).
Für eine entsprechende Differenzierungsrealität gilt, dass je oberfl äch- licher und rascher ein Lerngegenstand behandelt wird, um so aus- sichtsloser die Entstehung von Interessen ist, da ein langsames und langfristiges Entstehen von Subjekt–Objekt-Beziehungen dann nicht möglich ist.
2.2 Differenzierungsebenen
Je nach Größe der Grundgesamtheit werden im Schulsystem die drei Ebenen der Schulsystemdifferenzierung, der Schuldifferenzierung und der Unterrichtsdifferenzierung unterschieden. Maßnahmen der erstgenannten bestimmen z. T. die nachfolgenden.
Schuldifferenzierung
Die vier Schulformen Hauptschule, Förderschule, Realschule und Gymnasium unterscheiden sich voneinander bezüglich ihrer Adressa- tengruppen, ihrer Bildungsaufträge und der ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von Bildsamkeit und Begabung. Das berufl iche Schul- wesen ist in sich außerordentlich stark nach Berufsgruppen und Aus- bildungszielen differenziert.
Innerhalb der einzelnen Schulformen gibt es z. T. viele Varianten (Schuldifferenzierung). Man unterscheidet das altsprachliche, das neu-
Differenzie- rungsebenen
Schuldiffe- renzierung