06. September 2021 APK-Tagung
„Förderung der Selbstbestimmung und Vermeidung von Zwang“
Recovery-orientierte Haltung in der (Akut-) Psychiatrie
Dr. Lieselotte Mahler
Ärztliche Direktorin & Chefärztin
Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie I lieselotte.mahler@tww-berlin.de
Krise – Krankenhaus
Krankenhaus
Krisenfreundliches Krankenhaus
?
Krisen erkennen / zulassen
Kurze und flexible Interventionen
Empowerment fördernd / „systemische Ausrichtung“
Post- und Prävention = Krisenplanung
Krisenfreundliches Krankenhaus
!
Konsequente Veränderung innerer und äußerer StrukturenDefinition psychischer Gesundheit
„….ein Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine
eigenen Fähigkeiten erkennt, mit den normalen Anforderungen des Lebens umgehen kann, produktiv arbeiten kann und in der Lage ist, einen Beitrag für seine Gemeinschaft zu leisten “
„Mental Health Promotion“ (Psychische Gesundheitsförderung) WHO 2001
Recovery
„Recovery ist ein zutiefst persönlicher und einmaliger Prozess der
Veränderung der eigenen Haltung, Werte, Gefühle, Ziele, Fähigkeiten und Rollen. Es ist der Weg zu einem befriedigenden, hoffnungsvollen und
beitragenden Leben innerhalb der krankheitsbedingten Grenzen. Recovery beinhaltet auch die Entwicklung von einem neuem Lebenssinn im Prozess der Überwindung der katastrophalen Folgen der psychischen Erkrankung“
(Anthony, 1993; zit. in Cranach 2007, S.337)
Recovery
Recovery ist kein scharf umrissenes einheitliches Konzept:
Psychische Krankheiten und deren Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen sind sehr unterschiedlich
– Die Wege zur Genesung sind individuell
– keine adäquate deutsche Übersetzung des Begriffs Recovery
– Begriff: einerseits aus der medizinisch-psychiatrischen Sicht und andererseits aus der Betroffenensicht. Beide sind unterschiedlich definiert, einander nicht
ausschließend, sondern komplementär aufeinander bezogen. (Onken u.a. 2007).
Recovery
Helen Glover warnt davor, nicht von der »Falle der Chronizität« in die »Falle von
Recovery« zu stürzen, und setzt dieser die bleibende Zerbrechlichkeit der betroffenen Menschen entgegen.
Auch Michaela Amering und Margit Schmolke (2007) sprechen das Risiko an, dass Resilienz als »mystische Kraft« betrachtet wird, die den Einzelnen mit unbegrenzter Widerstandskraft ausstattet.
Recovery ist nicht mit der Verharmlosung schwerer psychischer Erkrankungen oder des Leidensdrucks der Betroffenen und ihrer Bezugspersonen gleichzusetzen. Es bedeutet vielmehr, dass in der psychiatrischen Behandlung Selbstwirksamkeitserwartung,
Hoffnung und Resilienz vermittelt werden, die für eine nachhaltige Genesung unabdingbar sind. (L. Mahler 2013)
Was meint Teilhabe?
Nach der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (CRPD):
„Menschen, die langfristig körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen (einstellungs-und umweltbedingten Präamblen) Barrieren an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der
Gesellschaft hindern (Art. 1. Abs. 2 CRPD)
Photo: L. Mahler
Haltung und Strukturen
Was meint Teilhabe?
Inklusion:
vs. Integration: fordert die Anpassung der betroffenen Person an die Strukturen
die Anpassung der Strukturen an die Bedürfnisse des Menschen
Photo: L. Mahler
Sicherheit in der Psychiatrischen Behandlung
„Würde des Risikos“
(Pat Deegan)
Foto: . L. Mahler Paris 2012
• Liste erste Ebene
– Liste zweite Ebene
• Liste dritte Ebene
Überschrift
Theoretische Vernetzungen
Recovery-Konzept
Ex-IN / Peers
Empowerment
Weddinger Modell
Salutogenese
Bedürfnisangepasste Therapie
Warum „Weddinger-Modell“?
Konzept aus Weddinger Abteilung:
• Erfahrungen und Potential auf den Stationen
• Weddinger Patientenklientel Konzeptentwicklung
Individualisierung der Therapie
• Implementierung Weddinger Modell Dez. 2010 in der gesamten Versorgungsklinik Wedding
Veränderungen aller Klinik-Strukturen hinsichtlich Partizipation und Transparenz
Individualisierte Therapieplanungen und Visiten
multiprofessionelle Behandlerteams
Trialog
Flexibilität des Settings bei Behandlerkontinuität
Offene Türen aller APs 70 -80 %
Normalisierung der psychiatrischen Situation
Genesungsbegleiter und Angehörigen-Peer in Teams der APs (seit 2013)
Recovery statt Psychoedukation
Sinnvolle (!) geteilte Risiko- und Verantwortungsübernahme
• bis heute regelmäßige Schulungen und Evaluierung
L. Mahler et al 2013 Psychiatrie Verlag & L. Mahler et al 2019 Nervenheilkunde
Weddinger Modell: Strukturen und Haltung – positive Wechselwirkung
L. Mahler et al. 2014
Bundesweiter Innovationswettbewerb
– Berliner Gesundheitspreis 2015 „Zusammenspiel als Chance“
„Ein Best-Pratice-Modell der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwigs- Krankenhaus konnte die Jury überzeugen und den ersten Preis erringen. Das
"Weddinger Modell" beinhaltet ein
psychiatrisches Behandlungskonzept, das ausgehend von der Lebenslage des Patienten individuelle Behandlungslösungen entwickelt.
Ganz bewusst umgeht man dabei tradierte Zusammenarbeitsstrukturen und
Krankenhaushierarchien und setzt
stattdessen auf eigens zusammengestellte Teams von Bezugstherapeuten. Ihre
Kompetenzen werden aufgewertet und gestärkt....“
1. Preis "Das Weddinger Modell" - Psychiatrie
Wirkmechanismen des Weddinger Modells
• Höhere Resilienz (Mahler et al., 2014)
• Zufriedenheit der
Patient*innen, Angehörigen und Mitarbeitenden (Mahler et al., 2014)
• Tragfähige therapeutische Beziehung (Mahler et al., 2014)
• Nachbesprechung bei stattgefundenen Zwangsmaßnahmen
(Wullschleger et al., 2019)
Aufnahmesituation:
Höchstes Risiko für Zwangsmaßnahmen innerhalb der ersten 24 Stunden (Cole et al., 2020)
Reduktion von Zwangsmaßnahmen
• Signifikant geringere Anzahl und Dauer mechanischer Zwangsmaßnahmen (Czernin et al., 2020)
• Signifikant geringere Zwangsmedikation sowie geringere Dosis täglicher Medikation (Czernin et al., under review)
Behandlungsbeginn Behandlungsverlauf Entlassung
Vor Behandlungsbeginn
(Mahler, Oster &
Vandamme, 2021)
Förderung der therapeutischen Beziehung
• Stärkung der therapeutischen Bindung (Mahler et al. 2014)
• Nachbesprechung von ZM als hilfreich eingeschätzt, Möglichkeit zur gegenseitigen Perspektivübernahme
(Wullschleger et al. 2018)
Einsatz der Wirksamkeit des Weddinger Modells
Recovery-Orientierung in der Akutpsychiatrie, weil:
Eine auf Partizipation, Transparenz und Recovery ausgerichtete Psychiatrie ermöglicht:
Das Vorkommen von Unterbringungen und Zwangsmaßnahmen in Häufigkeit und Dauer auf ein absolutes Minimum zu reduzieren
ohne sich der Verantwortung für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu entziehen und
ohne ihnen die Verantwortung für sich selbst abzusprechen
Gefahrensituation für Eskalation und Zwangsmaßnahmen überwiegend nur noch in spezifischen Situationen und bei spezifischen Risikokonstellationen
Mahler et al. 2014, Psychiatrie Verlag
Empfehlung des Weddinger Modells als komplexe Intervention im Rahmen der deutschlandweiten PreVCo-Studie zur Umsetzung der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang und Gewalt
Das Weddinger Modell – Recovery-orientierte Haltung
Erfahrungen aus dem Projekt
„Vermeidung von Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Hilfesystem (ZVP)“
L. Mahler, C. Montag, A. Vandamme, A. Wullschleger
ZVP - Teilprojekt 4:
Einfluss von Recovery-Orientierung auf das Ausmaß des Zwangs
• Bundesweite Online-Erhebung in 2018
• Kontaktierung aller Chefärzt*innen psychiatrischer Versorgungskliniken
• Teilnahme von 28 Chefärzt*innen sowie 88 Mitarbeitenden
• Außerdem: Fokusgruppen mit Patient*innen sowie Mitarbeitenden in 6 teilnehmenden Kliniken
• Erfasste Outcome-Parameter:
– Durchgeführte Zwangsmaßnahmen im letzten Jahr – Anteil der untergebrachten Patient*innen
– Informationen über die Klinik: Lage, Bettenzahl, Flughafen/Bahnhof im Einzugsgebiet
– Grad der Recovery-Orientierung (ROSE, ERFSS) – Haltung des Personals zu Zwang (SACS)
ZVP - Teilprojekt 4:
Einfluss von Recovery-Orientierung auf das Ausmaß des Zwangs Quantitative Ergebnisse:
• Kein signifikanter Zusammenhang zwischen Grad der Recovery-Orientierung und Anzahl/Dauer von Zwangsmaßnahmen
• Kein signifikanter Zusammenhang zwischen Einstellung der Mitarbeitenden zu Zwang und Anzahl/Dauer von Zwangsmaßnahmen
• Umsetzung von Recovery-Orientierung sehr heterogen
• Quantitative Erfassung der Recovery-Orientierung daher schwierig
Qualitative Ergebnisse:
• Unterschiede zwischen den Kliniken insbesondere im flexiblen Umgang mit Regeln, Vorhalten spezifischer Angebote für Angehörige sowie Einbeziehung von Peers
• Ansonsten v.a. ähnliche Herausforderungen und Grenzen: ungenügendes therapeutisches Angebot, Nachbesprechungen von ZM selten, Umgang mit fremdsprachigen Pat.,
Verbesserungsbedarf bei Qualität der therapeutischen Beziehung
Was also bedeutet Recovery-Orientierung konkret?
Und wie kann sie fest in die psychiatrische Versorgung integriert werden?
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Cole, C., Vandamme, A., Bermpohl, F., Czernin, K., Wullschleger, A., & Mahler, L. (2020). Correlates of Seclusion and Restraint of Patients Admitted to Psychiatric Inpatient Treatment via a German Emergency Room. Journal of Psychiatric Research.
Czernin, K., Bermpohl, F., Heinz, A., Wullschleger, A. & Mahler, L. (2020). Auswirkung der Etablierung des psychiatrischen Behandlungskonzepts
„Weddinger Modell“ auf mechanische Zwangsmaßnahmen. Psychiatrische Praxis (in press). doi:10.1055/a-1116-0720 Krumm, S. (2019). Psychische Erkrankung, Gewalt und Geschlecht. Sozialpsychiatrische Informationen, 49, 40-44.
Mahler, L., Jarchov-Jádi, I., Montag, C. & Gallinat, J. (2012). Das Weddinger Modell: Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Köln: Psychiatrie-Verlag.
Mahler, L. Heinz, A., Jarchov-Jàdi, I., Bermpohl, F., Montag, C. & Wullschleger, A. (2019). Therapeutische Haltung und Strukturen in der (offenen) Akutpsychiatrie: Das Weddinger Modell. Der Nervenarzt, 7, 700-704.
Mahler, L., Mielau, J., Heinz, A., & Wullschleger, A. (2019). Same, same but different: How the interplay of legal procedures and structural factors can influence the use of coercion. Frontiers in psychiatry, 10, 249.
Nienaber, A., Heinz, A., Rapp, M.A., et al. (2018). Influence of staffing levels on conflicts in inpatient psychiatric care. Der Nervenarzt, 89,821- 827.
Richter, D. (2019). Nimmt Gewalt gegen Mitarbeitende im Gesundheitswesen zu? Sozialpsychiatrische Informationen, 49, 15-18.
Schomerus, G. & Spindler, P. (2019). Gewaltrisiko, psychische Krankheit und Stigma. Sozialpsychiatrische Informationen, 49, 13-14.
Sicherheit und Sicherheitsdienste in der Psychiatrie (2019). Ergebnis- und Kurzprotokoll. Isar-Amper-Klinikum, München.
Wullschleger, A., Mielau, J., Mahler, L. & Montag, C. (2018). Beiträge zur Vermeidung von Zwang in der Akutpsychiatrie. Fortschritte in Neurologie und Psychiatrie, 86, 1-9.
Wullschleger, A., Vandamme, A., Ried, J., Pluta, M., Montag, C. & Mahler, L. (2019). Standardisierte Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen auf psychiatrischen Akutstationen: Ergebnisse einer Pilotstudie. Psychiatrische Praxis, 46, 128-134.