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Reviewed by Heiko Bollmeyer. Published on H-Soz-u-Kult (September, 2006)

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Moritz Föllmer, Rüdiger Graf. Die "Krise" der Weimarer Republik: Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2005. 367 S. EUR 39.90, cloth, ISBN 978-3-593-37734-6.

Reviewed by Heiko Bollmeyer

Published on H-Soz-u-Kult (September, 2006)

Der Krisenzustand der Weimarer Republik bildet einen nahezu unhinterfragbaren Topos der Weimarforschung, der in elaboriertester Form in der einschlägigen Gesamtdarstellung Detlev Peu‐

kerts über die „Krisenjahre der Klassischen Mo‐

derne“ zum Ausdruck kommt. Peukert, Detlev J.K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassi‐

schen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Diesem Befund nehmen die Autor/innen des Sammelban‐

des „Die ‚Krise’ der Weimarer Republik“ zum An‐

lass, das entsprechende Deutungsmuster kritisch zu überprüfen. Überzeugend breiten die Heraus‐

geber den theoretischen Rahmen hierfür in der Einleitung aus. Ausgehend von den unzähligen zeitgenössischen Verweisen auf Krisen verschie‐

denster Art und des entsprechenden Forschungs‐

paradigmas dekonstruieren und historisieren sie den Begriff der Krise. Aus konstruktivistischer Sicht weisen sie darauf hin, dass „Krisen […] nicht in der Welt“ seien und „von Menschen entdeckt“

würden. Sie „konstruieren sich erst in narrativen Strukturen, mit denen die Zeitgenossen oder ex‐

post Historikerinnen und Historiker komplexe Prozesse zu erfassen suchen“ (S. 12). Anschlie‐

ßend stellen sie den grundsätzlich vorhandenen

produktiven Gehalt einer „Krise“ heraus, indem sie diese in Anschluss an Reinhart Koselleck Ko‐

selleck, Reinhart, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1989. als eine offene Entscheidungssituation definieren. Somit vereine der Begriff „diagnosti‐

sche und prognostische Elemente“, wohingegen

„im alltagssprachlichen wie auch im historiogra‐

phischen Gebrauch diese elementare Offenheit […] häufig unterschlagen“ werde (S. 13f.). Dieses sei insbesondere in der Historiografie der Weima‐

rer Republik wegen der nachfolgenden national‐

sozialistischen Herrschaft der Fall. Dabei fungie‐

re, so die Kritik, die Krise häufig als „quasi magi‐

scher Begriff, der überall dort zum Einsatz ge‐

bracht wird, wenn man mit dem Erklären sonst nicht mehr weiterkommt“ (S. 21). Auf diese Weise würden jedoch die Hauptaspekte des Krisenbe‐

griffs – der konstruktive Charakter und die histo‐

rische Offenheit – vernachlässigt. Dieses versucht der Sammelband einzufangen. So analysieren die Beiträge im ersten Teil die narrative Konstruiert‐

heit und befragen zeitgenössische Diskurse auf die Verwendungen des Krisenbegriffs, während die Beiträge des zweiten Teils das Maß der histori‐

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schen Offenheit von traditionellen Krisenphäno‐

menen bestimmen. Der Gewinn dieses Ansatzes liegt zum einen darin, das dominierende pessi‐

mistische und einseitige Krisenverständnis der Weimarforschung zu revidieren. Zum anderen werden die in zahlreichen gesellschaftlichen Teil‐

bereichen festzustellenden progressiven Entwick‐

lungen als der Krise immanente Möglichkeitsräu‐

me gedeutet, sodass neuere kulturgeschichtliche Ergebnisse der Dynamik mit politik- und wirt‐

schaftsgeschichtlichen Befunden des Niedergangs in einen inneren Zusammenhang gestellt werden.

Um dieses zu verdeutlichen, skizzieren die Her‐

ausgeber einen Überblick über die Forschungen

„jenseits des ‚Krisen’-Paradigmas“ (S. 23), in wel‐

chem sie die neueren Arbeiten Exemplarisch:

Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichs‐

tag, Düsseldorf 2002. von bisherigen Ansätzen ab‐

grenzen und in diesem Kontext die Beiträge des Sammelbandes verorten.

Den Beginn macht Michael Makropoulus mit seinem Beitrag über „Krise und Kontingenz“, in welchem der Autor nachweist, dass Intellektuelle unterschiedlicher politischer Couleur überein‐

stimmend eine „Krise der Wirklichkeit“ infolge der Kriegserfahrungen konstatieren und daraus Kontingenz als neue zentrale Kategorie ableiten.

Um mit dieser umzugehen, entwerfen sie unter‐

schiedliche Lösungsansätze, wobei der entschei‐

dende Unterschied darin besteht, ob sich die Kon‐

tingenz überwinden lässt. Dabei kam es zu über‐

raschenden Kongruenzen, wenn Carl Schmitt und Walther Benjamin auf eine notwendige Aufhe‐

bung abzielten, wohingegen z.B. Helmuth Pless‐

ner und Hermann Heller für einen toleranten Umgang plädierten. In ähnlicher Weise setzt sich Rüdiger Graf mit der „‚Krise’ im intellektuellen Zukunftsdiskurs“ auseinander. So untersucht er die Verwendung des Krisenbegriffs in unter‐

schiedlichen politischen Kulturzeitschriften und kann dabei die These belegen, dass die „Diagnose einer Krise nirgendwo Pessimismus oder Unter‐

gangsstimmung“ (S. 91) ausdrücke, sondern dass die Thematisierung einer „Krise“ funktional ein‐

gesetzt wurde, um eigene Zukunftsvorstellungen zur Überwindung derselben zu profilieren.

Die anschließenden Beiträge wenden sich den Krisendiskursen in spezifischen Bereichen der Weimarer Gesellschaft zu. So kann Per Leo an‐

hand der Entwicklung des deutschen Verbands‐

fußballs zeigen, dass die Verantwortlichen ab 1930 bestehende Einzelprobleme zu einem Pro‐

blemkonglomerat vermengten und so ein umfas‐

sendes Krisenszenario des deutschen Fußballs entwarfen, um einen Veränderungsdruck zu er‐

zeugen. Die semantischen Etablierungs- und Ver‐

änderungsprozesse spezifischer Krisenbegriffe zeichnet Daniel Siemens für die Justiz anhand der

„Vertrauenskrise“ nach, indem er aufzeigt, wie sich dieser Begriff von einer ursprünglichen Kri‐

tik von linker Seite am tradierten Justizwesen zu einem Begriff der Rechten als Kritik an der repu‐

blikanischen Aufweichung desselben verschob.

Ähnliche Entwicklungen kann Sebastian Ullrich anhand des „Streit[s] um den Namen der ersten deutschen Demokratie“ aufzeigen. Die Abgeord‐

neten der Weimarer Nationalversammlung hät‐

ten ihrem Staat zwar den Namen „Deutsches Reich“ gegeben, der sich als Sammlungsbegriff der republikanischen Kräfte jedoch nicht habe durchsetzen können. Vielmehr sei dieser Begriff im Verlauf der 1920er-Jahren verstärkt von den Republikgegnern für ihre staatsfeindlichen Ziele übernommen worden, welche zudem den Begriff der Weimarer Republik zur Diffamierung des Staates lancierten. Im Unterschied zur von Sie‐

mens untersuchten „Vertrauenskrise“ der Justiz ist jedoch bei der von Ullrich unterstellten „Na‐

menskrise“ kritisch einzuwenden, ob man auf‐

grund der fehlenden zeitgenössischen Krisendeu‐

tung besser von einer „Namensproblematik“ spre‐

chen sollte. Denn nicht jedes Problem ist eine Kri‐

se und sollte auch expost nicht zu einer solchen stilisiert werden, um den gerade gewonnenen

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analytischen Gehalt des Krisenbegriffs zu verspie‐

len.

Ein weiteres Problem der gewählten diskurs‐

analytischen Herangehensweise drängt sich bei der Lektüre des Aufsatzes von Florentine Fritzen über das neuzeitliche Leben der Reformhausbe‐

wegung auf. So kann die Autorin fundiert nach‐

weisen, mit welchen Konzepten diese Bewegung auf die Krise des alltäglichen Lebens mit Blick auf die Frauen und Jugendlichen reagierte. Offen bleibt jedoch die Frage, wie dieser Krisendiskurs politisch wirksam wurde, wie die Herausgeber in der Einleitung für ihren Ansatz in Anspruch neh‐

men. Die Verschränkung von fachspezifischen und politischen Diskursen zeigt dagegen vorbild‐

lich der Beitrag „Krisenkalkulationen“ von Chris‐

tiane Reinecke. Darin bestimmt die Autorin die Rolle der Demografen als „Experten“, welche die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung zu de‐

mografischen Krisenszenarien der „Überbevölke‐

rung“ bzw. später der „Unterbevölkerung“ zu‐

spitzten, um politische Lösungsstrategien wissen‐

schaftlich zu empfehlen. Den Erfolg dieser Strate‐

gie kann Reinecke mit der Tatsache belegen, dass die entsprechenden Studien von den parlamenta‐

rischen Entscheidungsträgern eingesetzt wurden, die sich „des legitimatorischen Potenzials einer drohenden ‚Entvölkerung’ [bedienten], um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen“ (S. 232).

Mit der Krisenrhetorik sei es also einzelnen Bevöl‐

kerungsstatistiker/innen gelungen, sich als „Ex‐

perten an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik“ (S. 239) zu positionieren.

Die Beiträge des zweiten Teils wenden sich einzelnen Krisenphänomenen zu, die auf die Of‐

fenheit der historischen Entwicklung mit optimis‐

tischen wie pessimistischen Deutungen befragt werden. So untersucht Thomas Raithel unter funktionalen Gesichtspunkten „Funktionsstörun‐

gen des Weimarer Parlamentarismus“ und kommt zu dem Schluss, dass der Weimarer Reichstag in legislativer Hinsicht zwar Beachtli‐

ches geleistet habe, bei der regierungstragenden

Funktion jedoch erhebliche Schwächen aufweise.

Diese seien insbesondere von der zeitgenössi‐

schen Presse als Krise des parlamentarischen Sys‐

tems gedeutet, womit das Ansehen des Reichstags geschwächt und die parlamentarischen Hand‐

lungsspielräume zunehmend eingeengt wurden.

Zwei weitere vermeintliche Krisen nehmen die anschließenden Beiträge in den Blick. Am Bei‐

spiel des Straßenhandels und der Versicherungs‐

zeitschriften schwächt Gideon Reuveni die „Krise des Lesens“ ab, da diese Medien auf die sich ver‐

ändernden Lesebedürfnisse der Weimarer Zeit re‐

agierten und mit konsumorientierten Inhalten wirtschaftlich erfolgreich waren. Ebenfalls relati‐

vierend setzt sich Moritz Föllmer mit der „Krise des Subjekts“ auseinander, indem er das Individu‐

alitätsstreben junger Frauen untersucht und kon‐

statiert, dass einzelne Frauen, unterstützt durch die Boulevardpresse, durchaus nach Selbststän‐

digkeit strebten und darin mehr oder weniger er‐

folgreich waren. Damit hätten sie, so schlussfol‐

gert Föllmer, „zu einer Kultur bei[getragen], in der überkommende Normen vielfach in Frage ge‐

stellt und neue Deutungsangebote und Selbstent‐

würfe erprobt wurden“ (S. 314).

Stärker kunst- bzw. literaturgeschichtlich aus‐

gerichtet sind die abschließenden Beiträge von Michael Mackenzie über die „Maschinen‐

menschen“ und von Benjamin Robinson über die

„Krise des Willens“ bei Hans Fallada. Mackenzie bettet die künstlerischen Produkte in den Kontext der entstehenden technokratischen Sportphysio‐

logie ein und interpretiert die Darstellungen von Georg Grosz weniger als Kritik an der veränder‐

ten Körperkultur, sondern als Lösungsansätze dieser „Körperkrise“. Ebenso ist das Leben und Werk von Hans Fallada in den Augen von Robin‐

son weniger ein Beleg für die Krise des bürgerli‐

chen Lebens in der Weimarer Republik, sondern ein produktiver, wenn auch letztlich gescheiterter Versuch, diese zu überwinden.

Am Ende des Bandes fehlt eine Zusammenfas‐

sung dieser verschiedenen Analysen zur „Krise“

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der Weimarer Republik, um auf den Einzelergeb‐

nissen aufbauend die eingangs entwickelten The‐

sen auf ihre Tragweite zu befragen. Die in der Ein‐

leitung skizzierten Schlussfolgerungen bleiben hierfür zu pauschal, etwa bei dem Hinweis, dass die Beiträge „wichtige Gesichtspunkte zur Erklä‐

rung des Scheiterns der Republik“ (S. 39) beitra‐

gen. So habe die dramatisierende Krisenrhetorik mit dem Entscheidungsdrängen das parlamentari‐

sche System unterminiert, indem insbesondere rechte Politiker die „Krisen“ zur Kontrastfolie ih‐

rer eigenen Ziele stilisierten. Um dieses zu bele‐

gen, ist jedoch eine stärkere Verschränkung der jeweiligen Krisendiskurse mit dem Diskurs auf politischer Ebene notwendig. Dennoch bietet der Sammelband mit seinem Ansatz, die narrative Konstruktion und die historische Offenheit von Krisen in den Mittelpunkt zu stellen, sowohl einen elaborierten theoretischen Zugriff auf die Ge‐

schichte der Weimarer Republik, der an neueren Ansätze einer Politischen Kulturgeschichte Vgl.

Mergel, Thomas, Überlegungen zu einer Kulturge‐

schichte der Politik, in: Geschichte und Gesell‐

schaft 28 (2002), S. 574-606; Landwehr, Achim, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kul‐

turgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kul‐

turgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Frevert, Ute;

Haupt, Heinz-Gerhard (Hgg.), Neue Politikge‐

schichte. Perspektiven einer historischen Politik‐

forschung, Frankfurt am Main 2005. ansetzt, als auch eine analytisch stringente Zusammenfüh‐

rung der für die Weimarer Republik so charakte‐

ristischen dynamischen und krisenhaften Prozes‐

sen.

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Citation: Heiko Bollmeyer. Review of Föllmer, Moritz; Graf, Rüdiger. Die "Krise" der Weimarer Republik: Zur Kritik eines Deutungsmusters. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. September, 2006.

URL: https://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=20251

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