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Kranksein zum Schein

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82 DIE PTA IN DER APOTHEKE | November 2013 | www.pta-aktuell.de

Wenn Patienten regelmäßig Symptome vortäuschen, leiden sie möglicherweise an einer psychischen Erkrankung, dem Münchhausen-Syndrom. Ärzte und Psychotherapeuten geraten dabei oft an ihre Grenzen.

A

nders als die Geschich- ten des Lügenbarons Freiherr von Münch- hausen löst das Krank- heitsbild, welches dessen Namen trägt, Erstaunen und Entsetzen bei uns aus. Bei der psychischen Er- krankung versuchen Betroffene, eine Krankheit zu erzwingen, indem sie ihre Gesundheit manipulieren, um möglichst einen Krankenhausauf- enthalt zu provozieren. Sie täuschen Beschwerden vor, verstärken Krank- heitsanzeichen oder rufen sie künst- lich hervor. Das ICD-10 ordnet das Syndrom den artifiziellen Störungen zu (F68.1), die sich durch das ab- sichtliche Erzeugen oder Vorspielen von körperlichen oder psychischen Symptomen kennzeichnen. Die Personen fügen sich etwa Schnitt- verletzungen zu oder injizieren sich toxische Substanzen. Sie beharren überzeugend und hartnäckig auf ihren Schmerzen, sodass trotz mehr- fach negativer Befunde manchmal sogar Operationen veranlasst wer- den. Das absichtliche Herstellen von physischen oder psychischen Beein- trächtigungen kann auch an ande- ren Menschen durchgeführt werden.

Dabei handelt es sich um das so genannte Münchhausen-by-pro- xy-Syndrom. Die selbst- und fremd- verletzenden Aktionen geschehen heimlich in einem vermutlich dis- soziativen Bewusstseinszustand, wo- raufhin Betroffene medizinische Hilfe beanspruchen. Im Gegensatz

Kranksein

zum Schein

© Konstantin Bögel / Bodenwerder-Polle

PRAXIS Artifizielle Störung

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DIE PTA IN DER APOTHEKE | November 2013 | www.pta-aktuell.de

zu Simulanten, die seelisch gesund sind, liegt dem Verhalten der Men- schen ein krankhaft-zwanghafter Charakter zugrunde.

Rätselhafte Motivlage Patienten ziehen aus ihrem Verhalten keine offensichtlichen Vorteile, wie bei- spielsweise körperliches Wohlbefin- den oder einen finanziellen Nutzen.

Warum Betroffene so handeln, ist daher undurchschaubar. Es existie- ren verschiedene Annahmen, für die jedoch keine empirische Evidenz besteht: Man vermutet Ursachen wie Spannungsregulierung, Reinszenie- rungen von Traumata oder das Er- reichen von Aufmerksamkeit und Fürsorge.

Komorbiditäten Meist sind es Frauen, die von der Störung be- troffen sind. Sie leben häufig alleine oder getrennt, sind mindestens durchschnittlich gebildet und oft an weiteren psychischen oder Persön- lichkeitsstörungen, insbesondere an dissozialen Formen, erkrankt. Das fremdverletzende Syndrom geht oft mit Depressionen, Essstörungen, Borderlineerkrankungen oder mit narzisstischen oder histrionischen Persönlichkeitsstörungen einher.

Perfekter Trug Artifizielle Störun- gen sind schwer zu erkennen, denn Patienten sind wahre Experten in Sachen Täuschung und führen selbst erfahrene Spezialisten jahrelang hin- ters Licht. Meist sind sie im Gebiet der Medizin sehr versiert, wählen Er- krankungen, die objektiv nicht mess- bar sind (z. B. Kopfschmerzen), und simulieren ihre Beschwerden glaub- haft. Außerdem kommt ihnen die Angst vieler Ärzte zugute, Krankhei- ten zu übersehen. Liegt der geringste Verdacht auf falsche Behauptungen vor, werden Mediziner und Kliniken einfach gewechselt. Auffällig sind meist Aspekte wie das Fehlen organi- scher Ursachen, häufiger Austausch von Behandlern sowie unplausible Unfälle. Fliegt der Betrug schließlich auf, sind Ärzte und Pfleger ziemlich verärgert und zweifeln nicht selten

an ihrer eigenen Kompetenz. Auch für das Gesundheitssystem stellen diese Menschen eine große Belas- tung dar, zudem enthalten sie ande- ren Therapieplätze vor.

Brutale Mutterliebe Beim Münch- hausen-by-proxy-Syndrom manipu- lieren die Betroffenen andere Men- schen, um sie als krank darzustellen.

Oft sind es Mütter, die ihren Kin- dern (meist Säuglingen oder Klein- kindern) Schaden zufügen, um medizinische Eingriffe und Klinikau- fenthalte zu erzwingen. Die schein- bar fürsorglichen Mütter bringen ihre Sprösslinge immer wieder mit unklaren Beschwerden in Kranken- häuser. Die Ärzte sind ratlos und finden keine Ursache für die Leiden.

Meist ahnen sie nicht, dass die be- sorgten Frauen ihren eigenen Nach- wuchs quälen, um Aufmerksamkeit des medizinischen Personals und ihrer Mitmenschen zu erlangen. Sie

manipulieren Messdaten (z. B. Fie- berkurven) oder mischen selbst ab- genommenes Blut in den Urin oder in die Körperöffnungen der Kinder.

Die Patientinnen weisen vielfach eine Affinität zu medizinischen Be- rufen auf, geben sich aufopferungs- voll, stellen sich mit den Therapeuten gut und fühlen sich in der Klinik sichtlich wohl. Bedeutsam ist, dass sie sich bei bevorstehenden, schwe- ren Eingriffen nicht sorgen und die Behandlungen geradezu fordern. Ge- lingt es den Ärzten, Beweise für die Fremdeinwirkung zu sammeln, ist unverzüglich das Jugendamt zu in- formieren, da der Schutz der Kinder höchste Priorität hat. In der Regel werden sie dann von der Mutter ge- trennt und in einer Pflegefamilie un- tergebracht.

Vom Opfer zur Täterin Viele Frauen haben in ihrer Kindheit selbst Gewalt, Missbrauch oder Vernach- lässigung erfahren. Ihre Beziehun- gen zu anderen Menschen sind oft von Misstrauen geprägt und sie sind nicht in der Lage, gesunde Bindun- gen aufzubauen. Vermutlich wurde ihnen gegenüber nie Mitgefühl ge- zeigt, sodass es den Täterinnen kom- plett an Empathie fehlt – auch ihren Kindern gegenüber. Nicht selten mussten Betroffene selbst zahlreiche medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen und haben im Laufe der Zeit ein gestörtes Verhält- nis zum eigenen Körper entwickelt.

Das Münchhausen-Stellvertreter- Syndrom gilt als spezielle Form der Kindesmisshandlung. Statistisch ge- sehen ist die Störung relativ selten, dennoch zählt sie zu den häufigsten nicht erkannten Leiden. Es kommt aber auch vor, dass anstelle von Kin- dern andere Erwachsene Opfer sind.

Meist sind Betroffene nicht einsich- tig und weigern sich daher, eine Psy- chotherapie anzutreten. Gelingt es dennoch, muss zunächst ein stabiles Arzt-Patienten-Verhältnis aufge- baut werden. Konfrontationen mit Betrugsbeweisen sind unbedingt zu vermeiden, da Patienten in diesem Fall voraussichtlich die Behandlung abbrechen würden. Menschen mit artifiziellen Störungen sollten, wenn möglich, in Intervallen stationär auf- genommen werden. Zwischendurch sind ambulante Phasen ratsam. Ge- gebenenfalls wird die Therapie durch Psychopharmaka unterstützt, ein- heitliche Angaben zur Medikation gibt es jedoch nicht. ■

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin (FJS)

»Beim Münchhausen-by-proxy-Syndrom

manipulieren die Betroffene andere

Menschen, um sie als krank darzustellen.«

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