DREISSIG" (SANSHI ZISHU)
IM KONTEXT DER TRADITIONELLEN
CHINESISCHEN SELBSTBIOGRAPHIE
Von Mantred Frühauf, Bochum
China sah im ausgehenden 19. Jahrhundert den Verfall der Qing-Dyna-
stie. Die Auswirkungen des Taiping-Aufstandes, der wirtschaftliche Aderlaß
durch den Abfluß des Silbers als Folge des Opiumkonsums und immer neue
verlustreiche Konfrontationen mit den westlichen Staaten hatten das Reich
erschüttert. Die Reaktion der politisch und intellektuell führenden Kreise
Chinas war gespalten. Die Majorität verharrte auf den ahen Positionen und
versuchte, die auf sie einstürzenden Probleme mit weitgehend traditionellen
Rezepten zu kurieren, ohne zu erkennen, daß sich Dimension und Quahtät
der Probleme verändert hatten. Eine Minderheit war bestrebt, modernes
westliches Wissen — insbesondere sozialwissenschaftliche, naturwissen¬
schaftliche und technische Kenntnisse — in China einzuführen. Diese tasten¬
den Reformen setzten jedoch Kräfte frei, die weit über die ursprünglichen
vorsichtigen Modernisierungsversuche hinauswirkten: anstatt zu einer Re¬
form des traditionellen Staatswesens kam es binnen weniger Jahrzehnte zu
dessen Abschaffung.'
LiANG QiCHAO (23.2.1873 bis 19.1.1929) war eine der Persönlichkeiten,
die diesen Wandlungsprozeß in Bewegung setzen halfen. Als Schüler und
Mitarbeiter Kang Youweis^ erhielt er seine entscheidenden Bildungsein¬
drücke. Obwohl selbst noch ein Produkt des traditionellen — fast aus¬
schließlich literarisch orientierten — Ausbildungs- und Prüfungssystems, er¬
kannte Liang die Notwendigkeit seiner Abschaffung. UrsprüngUch ausge¬
hend von den Bestrebungen Kang Youweis, die Staatsform in eine konstitu¬
tionelle Monarchie umzuwandeln, dann jedoch in die Emigration getrieben
durch den konservativen Putsch des Jahres 1898, unterstützte Liang später
als politisch aktiv handelnder Mensch auch unmittelbar gewalttätige Aktio-
' Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund s. Daniel H. Bays: China Ent¬
ers The Twentieth Century — Chang Chih-lung and the Issues of a New
Age, 1895—1909. Ann Arbor 1978; Joseph R. Levenson: Liang Ch'i-
ch'ao and the Mind of Modern China. Harvard 1953, Second Printing
1970; Y. C. Wang: Chinese Intellectuals and the West, 1972—1949.
Chapel Hill 1966 (Nachdr. Taibei 1976).
2 Kang Youwei, 1858—1927; Reformer der ausgehenden Qing-Zei, der
seine Reformvorschläge durch eine Neuinterpretation der alten konfuzia¬
nischen Klassiker zu rechtfertigen suchte, verfaßte die ,, Schrift über die Große Harmonie" (Datongshu).
nen, die die Zerschlagung der Dynastie zum Ziele hatten. Nach vielen Erfol¬
gen und Rückschlägen verfaßte Liang im japanischen Exil als Dreißigjähri¬
ger die hier zu besprechende Selbstbiographie (Sanshi Zishu), eine Zwischen¬
bilanz seines Werdegangs und seines Wirkens.' Nachdem Liang vor der
Xinhai-Revolution SUN Yat-Sens (1911) stets mit an der Spitze reformeri¬
scher wie auch umstürzlerischer Aktivitäten gestanden hatte, überholten die
historischen Ereignisse bald LiANGs Positionen, so daß er in seiner zweiten
Lebenshälfte, vor allem in seinen letzten Jahren, eher dem konservativen La¬
ger zugerechnet wurde, er sich allmählich aus der aktiven Politik zurückzog und sein Interesse historischen und philosophischen Studien zuwandte.''
Seine Selbstschilderung im Alter von dreißig Jahren verfaßte Liang Qi-
CH AO im Dezember 1902 als Einleitung zur ersten Sammelausgabe seiner bis
dato veröffentlichten Schriften (Yinbingshi Wenji)^. Unmittelbarer Anlaß
war die Absicht seines Schülers und Mitarbeiters He QiNGYl*, eine Lebens¬
beschreibung des Lehrers zu verfassen, um sie der geplanten Sammelausgabe
voranzustellen. Liang griff daraufhin selbst zur Feder, da er meinte, sich
selbst korrekter darstellen zu können, als ein Außenstehender dies vermöch¬
te. Diese in Ich-Form abgefaßte Lebensbeschreibung umfaßt ca. 3 230 Zei¬
chen und findet sich in allen Ausgaben seiner Gesammelten wie Ausgewähl¬
ten Schriften wieder.
Inhaltlich umfaßt die Autobiographie folgende Aspekte und Informatio¬
nen aus dem Leben und der Persönlichkeit des Autors:
1. Betrachtungen zur Schnellfüßigkeit der Zeit 2. Anlaß der Niederschrift der eigenen Lebensgeschichte
3 Benutzte Textausgaben: (1) Guo Dengfeng ?t Ji : Udai Zixuzhuan
Wenchao (,, Selbstbiographische Dokumente aus den verschiedenen Epo¬
chen"). Peking 1936, Ausgabe Taibei 1965, 2 Bde., Bd. 1, S. 91 — 101.
(2) LiANG QiCHAO: Yinbingshi Wenji (,,Die gesammelten Werke aus
dem Zimmer des Eistrinkers"). Ausgabe ,,Wenhua Tushu Gongsi", Tai¬
bei 1976, S. 488—494.
'' Für eine umfassende Darstellung des Lebens Liang Qichaos s. J. R. Le¬
venson: Liang Ch'i-ch'ao and the Mind of Modern China (s. o., Anm.
1), sowie ,,Die große Enzyklopädie Chinas" (Zhongguo Da Bailee
Quanshu), Teilband ,, Chinesische Literatur" (Zhongguo Wenxue). 1.
Peking & Shanghai 1986, S. 414—417.
5 Zu Yinbingshi Wenji s. o., Anm. 3 (2). Zum Datum der Niederschrift der Autobiographie s. Li GuoJUNi@<i.: Liang Qichao Zhushu Xinian (,, Liang Qichaos Schriften — nach Erscheinungsjahr geordnet").
Shanghai 1986, S. 76 f.
* He Qingyi <t*auch He TiANZHU i?^.«. genannt; s. Yinbingshi Wenji
(s. o., Anm. 3 (2)), S. 493, Anm. 7.
3. Vorbild und damit Legitimation für die Abfassung einer Autobiographie:
Tan Sitong (Märtyrer der 100-Tage-Reform 1898)'
4. historisch-geographischer Hintergrund der eigenen Familie 5. nähere Verwandte (Großeltern, Eltern, zwei seiner Brüder) 6. die weltpolitische Datierung der eigenen Geburt
7. Ausbildung und Erziehung in Kindheit und Jugend, Anerziehung eines
Bewußtseins um die eigene Außergewöhnlichkeit
8. Tod der Mutter (eingebettet in Angaben über seine damaligen Studien) 9. erste Schritte auf dem Weg zur traditionellen Beamtenlaufbahn (xiucai;
juren; Teilnahme an .huishif
10. Verlobung (eingebettet in Angaben über die Teilnahme an .huishi") 11. erstes Wissen über den Westen
12. Bildungs- und Werte-Neuorientierung (Chen Tongfu^, Kang Youwei),
— Beginn seiner jetzigen Denkweise, seiner jetzigen Wertvorstellungen
13. Zusammenarbeit mit Kang Youwei
14. Eheschließung, Tod des Großvaters (eingebettet in Angaben über seine Studienzeit an der , .Gräser-Schule""')
15. Beginn der eigenen aufklärerischen und politischen Aktivitäten unter dem Eindruck des Krieges gegen Japan
16. Beginn der journalistischen Arbeit
17. verschiedene Laufbahnangebote, gekoppeh mit Chance zu Auslandsrei¬
sen, die näheren Umstände und seine Reaktion
18. die lOO-Tage-Reform und ihr Ende, Liangs Beteiligung und Flucht 19. Aktivitäten im Ausland (Japan, Pazifik, USA)
20. Fehlschlag des Hankou-Aufstandes (Zihhui), erneute Flucht aus China"
21. Selbstanklage wegen vermeintlicher Untätigkeit, sieht sich losgelöst von direkten Einwirkungsmöglichkeiten, Klage über begrenzte Fähigkeiten
In Liangs Autobiographie werden etwa fünfzig Personen namentlich er¬
wähnt, davon sind vierzig Zeitgenossen. Dazu gehören auch Mitglieder der
' Tan Sitong, 1865-1898; mit einem Hofamt ausgestattet aktiv beteiligt
an der ,,100-T age-Reform" des Kaisers Guangxu, im Verlaufe des
Wuxu-Gegenputsches verhaftet und hingerichtet.
8 xiucai (,, blühendes Talent") — der erste (unterste) Grad im alten Prü¬
fungssystem; ywren (,, herausgehobene Persönlichkeit") — Absolvent der nur alle drei Jahre durchgeführten Prüfung auf Provinzebene; huishi — hochrangige Prüfung zum gongshi (wörtl.: ,, Tribut-Gelehrter", s. dazu das ,.Buch der Riten" (Liji), Kap. She Yi), zu der sich die Kandidaten in der Hauptstadt versammeln.
9 Chen Tongfu Si*, auch Chen Qianqiu a-f* genannt; aus Nanjing
stammender Kommilitone Liangs, den er bei Kang Youwei einführte.
..Gräser-Schule"; vollständiger Name: ..Halle (Schule) der Zehntausend
Bäume und Gräser" (Wanmucao-Tang); 1891 von Kang Youwei ge¬
gründet, 1894 zwangsweise geschlossen.
' Zihhui ,, Verein für Unabhängigkeit" — s. dazu J. R. Levenson: Liang Ch'i-ch'ao and the Mind of Modern China (s. o., Anm. 1), S. 66 f.
eigenen Familie, doch werden sie nicht näher charakterisiert, sie bleiben für
uns meist nur Namen, Punkte auf einer genealogischen Linie. Nur von den
Personen, die ihn unterrichteten (d. h. Großvater und beide Elternteile), ge¬
winnen wir eine vage Vorstellung. Den Vater beschreibt Liang als gebildet
und gleichermaßen gütig wie streng. Doch ist dies eine so häufig anzutreffen¬
de Äußerung über den eigenen Vater, daß man sie eher als literarischen To¬
pos für ,, Vater" allgemein, denn als konkrete Charakterisierung des Liang
Baoying'^ werten sollte. Von der Mutter erfährt der Leser nur den Familien¬
namen, die Tatsache, daß sie ihren Sohn unterrichtete, und das Jahr ihres
Todes. Allein das Bild des Großvaters enthält einige liebevolle Details, doch auch hier zeichnet der Autor keineswegs ein auch nur halbwegs vollständiges Persönlichkeitsportrait. Alle genannten Personen lassen sich in die folgenden
Kategorien einordnen: Lehrer; Kommilitonen; Gründer und Förderer mo¬
derner Schulen; Reformer; Märtyrer der Reformbestrebungen. Mit anderen
Worten: Es sind ausschließlich Personen benannt, die bildend tätig sind
und/oder politisch handelnd in den Reformprozeß eingreifen, alle anderen
Lebens- und Erfahrungsbereiche werden ausgeblendet. Doch auch die er¬
wähnten Personen gewinnen keine schärferen Konturen, sie erscheinen ledig¬
lich als Personifikationen der von ihnen vertretenen jeweiligen Positionen. In
diesem Sinne ist es nur folgerichtig, wenn Liang Qichao keine einzige Be¬
merkung zur äußeren Erscheinung irgendeiner Person des Textes (einschlie߬
lich der eigenen) macht. Bemerkenswert ist ferner die Tatsache, daß Liang
in keinem einzigen Falle Konflikte mit den genannten beschreibt. Überra¬
schend ist die Beobachtung, daß unter den erwähnten Personen sich nicht ein
einziger Ausländer findet, obwohl doch Liang mehrere Monate lang bei¬
spielsweise als Sekretär für den britischen Missionar Timothy Richard
arbeitete", und obwohl er mit ausländischer Hilfe aus China fliehen und
mehrere Jahre in Japan etc. leben konnte.
In größter Ausführlichkeit hingegen berichtet Liang über seine Ausbil¬
dung, die mit seinem vierten oder fünften Lebensjahr ihren Anfang nimmt.
Diese Ausbildung verfolgt das offenkundige Ziel, ihn die Examina des tradi¬
tionellen Prüfungssystems bestehen zu lassen. Dabei bleibt ihm auch psychi¬
scher Druck nicht erspart: Der Vater drängt ihn immer wieder, sich selbst als
überdurchschnittliche Persönlichkeit zu sehen. Und der Erfolg bleibt nicht
aus: Mit nur 12 Jahren wird Liang Qichao ein ,xiucai', mit 17 Jahren be¬
steht er als einer der besten das vwrew-Examen, — hohe Ämter, Reichtum,
Anerkennung durch die traditionelle Gesellschaft sind jetzt zum Greifen na-
2 Liang Baoying st» . der Name des Vaters von Liang Qichao; keine
näheren Angaben.
3 Siehe J.R. Levenson : Liang Ch 'i-ch 'ao and the Mind of Modern China (s. o., Anm. 1), S. 18—21 etc.
he. Doch das Zusammentreffen mit Kang Youwei wird zur Wasserscheide
für Bildungsinhalte und Lebensziel. Hier findet sich im gesamten Text die
einzige Passage, die über die nüchtern-statistische Aufzählung von Buchti¬
teln deutlich hinausgeht, und die deshalb umso stärker auf den Leser wirkt.
Die Emigration nach Japan, das Erlernen der japanischen Sprache und der
damit gewonnene Zugang zu westlichem Wissen erweitern später seinen Ho¬
rizont — in seinen eigenen Worten — ,,in ungeahntem Maße": Liang
spricht von einem ,, völligen Wandel" seiner Anschauungen. Dies ist gleich¬
zeitig die letzte Äußerung zu seinem Bildungsprozeß. Ebenso wie bei der Per¬
sonendarstellung werden auch die auf ihn einwirkenden intellektuellen Im¬
pulse mit einer Ausnahme nur angedeutet. Ebenso wie bei der Personendar¬
stellung und der Beschreibung seiner Beziehungen zu diesen Personen legt
Liang auch bei der Schilderung der ihn prägenden Ausbildung keinen Wert
auf ein vollständiges Bild. So sucht man vergebens einen einzigen westlichen Verfassernamen oder Buchtitel.
Setzt man seine persönlichen Kontakte in Beziehung zu seinem Entwick¬
lungsgang, dann ergeben sich in seiner Selbstdarstellung drei Lebensab¬
schnitte:
A die Zeit der passiven Aufnahme von Wissen
B die Zeit des Lernens mit Diskussionen unter Kommilitonen und Lehrern C das eigene Aktiv-Werden beim Aufbau neuer Schulen und Zeitschriften,
in denen er neues — soll heißen: westliches —, selbst angelesenes und in¬
terpretiertes Wissen verbreitet, für dessen Autorität keine Bürgen aus der einheimischen Tradition einstehen, sondern nur die Überzeugungskraft, die aus der ökonomischen, militärischen — und das heißt: politischen — Überlegenheit des Westens erwächst, ein Wissen, das China aus seiner Mi¬
sere retten soll.
Als Motiv für die Abfassung der eigenen Lebensbeschreibung nennt
Liang seine Überzeugung, sich selbst am besten schildern zu können, was
nichts anderes bedeutet als den Wunsch, das Bild für die Nachwelt selbst ge¬
stalten zu wollen. Ferner bewegt ihn nach wie vor die Ermahnung seines Va¬
ters, sich nicht mit einer Durchschnittsrolle im Leben zufrieden zu geben: Er
soll und will nicht in der Anonymität einer Durchschnittsexistenz verschwin¬
den. Ein weiteres Motiv offenbaren die letzten Zeilen des Textes: Liang
sucht zu rechtfertigen, warum er sich nicht selbst aktiv an den revolutionären Aktionen beteiligte. Er entschuldigt sich damit, daß er kein Held und folglich
kein Kämpfer sei, er sei höchstens zum Kampf mit der Feder als Waffe befä¬
higt oder könne als Mahnglocke dienen, die das Volk wachrüttele. Hier ha¬
ben wir wohl eines der wesentlichen Motive für die Abfassung der Autobio¬
graphie, denn Liang sah sich zu dieser Zeit — ohne daß er dies im Text er¬
wähnte — heftigsten Angriffen verschiedener ihm feindlich gesonnener La-
ger ausgesetzt. So hatte Zhang Zhidong'" auf geschickt formulierten Flug¬
blättern, die unter den chinesischen Studenten in Japan verteilt wurden,
Liangs und Kang Youweis Integrität in Zweifel gezogen. Doch auch aus
der entgegengesetzten politischen Richtung kamen — gefährlichere — At¬
tacken: Qin Lishan", einer der Überlebenden des mißlungenen Aufstandes
in Hankou, beschuldigte Liang, für die blutige Niederlage verantwortlich zu
sein, da die verzweifelten Revolutionäre ohne die versprochenen und bereits
zu festen Terminen angekündigten Finanzhilfen aus Japan nicht schlagkräf¬
tig genug waren, — QiN unterstellte Liang konkret die Veruntreuung der in
Japan gesammelten Spenden. Diese Anschuldigungen konnte Liang nicht
unwidersprochen hinnehmen, gleichgültig wie schwankend seine eigene poli¬
tische Position in dieser Zeit war (er oszillierte um 1902/1903 zwischen den
Polen des Royalismus im Sinne einer konstitutionellen Monarchie einerseits
und der Radikaldemokratie mit der Forderung nach völliger Abschaffung
des Kaiserhauses andererseits), er mußte doch auf jeden Fall die Integrität
seiner Person behaupten, um für alle Seiten ein kooperationsfähiger Partner
zu bleiben. Es sei angemerkt, daß er weder die Angriffe noch seine Gegenzü¬
ge in für Außenstehende unmittelbar verständliche Sprache kleidete.
Im folgenden seien einige weitere Besonderheiten der LiANGschen Auto¬
biographie kurz angerissen:'*
Die Angabe des eigenen Geburtstermins erfolgt unter Bezug auf die dama¬
ligen weltpolitischen Ereignisse, sicher nicht etwa, um die eigene Größe und
Bedeutung zu insinuieren, sondern um geradezu programmatisch aufzuzei¬
gen, daß China nicht länger immer nur auf sich selbst schauen dürfe.
Liangs Kindheits- und Jugendgeschichte ist ausschließlich Bildungs¬
geschichte und erinnert stellenweise an die scholastischen Schriftsteller-
Autobiographien des europäischen Mittelalters, so als ob an seiner Person
die Bedeutung des durch ihn zu vermittelnden Wissens demonstriert werden
soUe.'^
Von der relativ ausführlichen Schilderung seiner Jugend ausgehend, wird
Liang in Stil und Inhalt immer knapper und gedrängter, je mehr er sich der
1" Zhang Zhidong, 1837—1909; zur Bedeutung Zhang Zhidongs s. Da¬
niel H. Bays: China Enters the Twentieth Century (s. o., Anm. 1).
'5 Qin Lishan, s. Daniel H. Bays: China Enters the Twentieth Century (s.
o., Anm. 1), S. 95 und S. 97; sowie Y. C. Wang: Chinese Intellectuals and the West, 1872—1949 (s. o., Anm. 1), S. 231.
Es sei zur Klarstellung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es hier nicht um eine literarisch-ästhetische Wertung geht, sondern um das Aufzeigen spezifischer Charakteristica formaler und/oder inhaltlicher Art.
Vgl. Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Frankfurt/Main
21970, Zweiter Band, Erste Hälfte, S. 397 f.
Gegenwart der Niederschrift nähert. In den letzten Abschnitten bietet er nur
noch eine Aneinanderreihung von Fakten. Ist die Selbstdarstellung zu An¬
fang eher die Beschreibung eines Lernenden, eines Gelehrten, so ändert sich
das Bild seiner Person zu dem eines Tatmenschen, der nur noch festhält, was
er tut, und nicht mehr, was ihn dazu bewog, was er dabei denkt und empfin¬
det. Überdies verleiht die geringer werdende zeitliche Distanz der Darstellung eine immer hektischere Atmosphäre.
Der interne Zeitablauf der Selbstbiographie ist streng chronologisch, gele¬
gentlich unterbrochen von ,, überzeitlichen" Kommentaren, wobei Liang
aus der Rolle des sich erinnernden Erzählers in die des Kommentators und
Richters schlüpft.
Es fehlt jegliche Darstellung der Natur.
Im folgenden stichwortartig ein Vergleich zwischen Liang Qichaos
Selbstdarstellung und den Selbstzeugnissen aus Chinas Frühzeit:'*
A Übereinstimmungen
Die Selbstdarstellung ist nicht als eigenständige Schrift konzipiert, sondern
von Anfang an Bestandteil eines größeren Werkes.
Der Lebensbericht ist relativ kurz, ein abgerundetes, vollständiges Lebens¬
bild kann deshalb kaum verwirklicht werden.
Der Autobiograph benennt ein Motiv für die Abfassung der Lebensbe¬
schreibung, auch wenn seine Motive nicht vollständig und in ihrer tatsächli¬
chen Gewichtung offengelegt werden.
Die eigene Lebensgeschichte leitet eine Vorstellung der Ahnen ein.
In der Ausbildungsphase wird Wissen akkumuliert, die Darstellung inne¬
rer Auseinandersetzungen mit den neuen Kenntnissen unterbleibt, insofern
findet eine Entwicklung nicht nachvollziehbar statt.
In den Texten finden sich keine Beispiele für eine Selbsterforschung, gele¬
gentliche Selbstanklagen dienen vielmehr als Beweis für die eigene Integrität,
die den Autor nur wieder in den Augen der Öffentlichkeit für höhere Aufga¬
ben qualifiziert.
Die Autobiographie soll als ein intellektuelles und weltanschauliches Por¬
trait eine exemplarische Wirkung durch eben diese Selbstpräsentation er¬
zielen.
Die Grenzen zwischen Philosoph und Politiker sind fließend.
Rollenbild als Gelehrter und/oder Politiker.
Selbstpräsentation als aktive Persönlichkeit, aktiv im Sinne: eine Verant¬
wortung für die Gesellschaft tragen und demgemäß handeln.
Die Autobiographie dient der Propaganda und Didaktik.
"* Siehe dazu auch meine Untersuchung Frühformen der chinesischen
Autobiographie. Frankfurt/Bern/Paris/NewYork 1987.
Eine demonstrative Übereinstimmung mit den gesellschaftlich anerkann¬
ten Werten, wobei allerdings diese Werte unterschiedlich definiert und unter¬
schiedlicher Herkunft sein können.
Der gesellschaftlich aktive Mensch handek auf verantwortlicher Ebene in
der städtischen Gemeinschaft: Die Stätte seines Wirkens ist der einzig doku¬
mentationswürdige Ausschnitt aus der ganzen Welt, und so bedeutet Stätte
im konkreten Einzelfall immer Stadt.
Die Umwelt wird völhg ausgeklammert, sofern sie nicht direkte Relevanz
für den gesellschaftlich handelnden Menschen hat.
Die eigene Persönhchkeit gilt als durch die beschriebene Tätigkeit hinrei¬
chend beschrieben.
Alles Private und Intime bleibt ausgeschlossen."
Die Physis bleibt ebenfalls von der Beschreibung ausgeschlossen.
Das Normale, das Alltägliche wird nicht berichtet.
B Abweichungen
Liang Qichao erwähnt den Anlaß für die Niederschrift der eigenen
Lebensgeschichte, — diese Angabe fehlt normalerweise in den alten Auto¬
biographien.
Liang benennt die Vorbilder für sein Leben nicht expressis verbis, wie¬
wohl passim klar wird, woran bzw. an wem er sich orientiert; bei den alten
Selbstbiographien werden die Vorbilder ausdrücklich genannt, sie entstam¬
men dann fast ausnahmslos dem glorifizierten Akertum.
Liang zählt vornehmlich Personen der Gegenwart auf, — in den alten Le¬
bensgeschichten finden sich hingegen fast ausschließlich Personen früherer
Epochen mit Namensnennung.
Liang zeigt seine vielfältigen sozialen Kontakte auf (auch wenn er deren
Probleme übergeht), — in den alten Texten wird das Geflecht der sozialen
Beziehungen in der Gegenwart des Autors grundsätzlich ausgeklammert.
Resümee
Liang Qichao, der in die chinesische Geistesgeschichte als engagierter
Reformer von kaum zu überschätzender Tragweite und als bedeutender Ver¬
mittler modernen westlichen Gedankengutes eingegangen ist, erweist sich in
seiner Selbstbiographie als fest in der chinesischen Tradition verwurzelter
' Der Verfasser schreibt nicht mehr über sich selbst, als auch ein Außenste¬
hender von ihm berichten könnte, der Autobiograph setzt seinen Infor¬
mationsvorsprung nicht ein: Die Selbstbiographie hebt sich somit inhalt¬
lich nicht wesentlich von einer Fremdbiographie ab.
Autor. Sein Sanshi Zishu icönnte mit wenigen Änderungen aus jedem ande¬
ren Jalirhundert stammen. Ein möglicher Grund für dieses angesichts der
Person und des Wirkens des Autobiographen überraschende Ergebnis könn¬
te die Intention Liangs sein, durch eine bewußt traditionelle Kolorierung sei¬
ner Lebensgeschichte zu unterstreichen, daß eine engagierte Persönlichkeit trotz konservativer Sozialisation immer noch den Weg zu fortschrittlicher
Gesinnung und aktivem Einsatz für die neuen Bedürfnisse der Gesellschaft
finden kann und muß. In diesem Sinne gliedert sich Liangs Selbstbiographie ein in die Reihe seiner Biographien über die Helden der Reformbewegung.
VEREDELUNG DER GEFÜHLE:
Über Guo Moruos Beitrag zur literarischen
Korrespondenz Sanyeji
Von Ingo Schäfer, Berlin
Der Briefwechsel, den ich icurz vorstellen möchte, wurde in einer Zeit des
historischen Umbruchs, der kulturellen und gesellschaftlichen Revolution ge¬
schrieben, in der Zeit der Bewegung des Vierten Mai, die prägende Bedeu¬
tung für die chinesische Moderne gehabt hat. In den Briefen des Sanyeji
(,, Kleeblatt-Sammlung") diskutierten die drei damals noch wenig bekannten
Verfasser Tian Han, Zong Baihua und Guo Moruo, die später im kulturellen
und akademischen Leben Chinas wichtige Rollen spielen sollten, über ästhe¬
tische Probleme der neuen Literatur, über eigene literarische Versuche und
ihre Rezeption ausländischer Literatur (Goethe, Shelley bis hin zum zeitge¬
nössischen nordamerikanischen Dichter Max Weber), und sie beschrieben in
zahlreichen selbstreferentiellen Stellen das Lebensgefühl der jungen Genera¬
tion, das aus der Kritik an den Verhaltensnormen der traditionellen Gesell¬
schaft erwuchs.
Ich möchte im folgenden versuchen, die Zusammenhänge zwischen der
ästhetischen Fragestellung, der Suche nach einem neuen Begriff von Indivi¬
dualität und der Rezeption Goethes zu verdeutlichen. Ich werde mich dabei
im wesentlichen auf die Briefe Guo Moruos stützen.
Das Sanyeji entstand aus der Korrespondenz des noch weitgehend unbe¬
kannten jungen Dichters Guo Moruo mit Zong Baihua, dem Redakteur der
Kulturseite Xuedeng (,, Studienlampe") der Shanghaier Tageszeitung Shishi
Xinbao. Guo Moruo hatte im Jahre 1919 begonnen, seine Gedichte an die
Redaktion der Shishi Xinbao zu schicken, — es waren die Gedichte, die zwei
Jahre später (1912) im Band Nüsiien (,, Göttinnen") gesammeh und von der
literarischen Gesellschaft Chuangzao she (,, Schöpfungsgesellschaft") veröf¬
fentlicht, den eigentlichen Beginn der ,, neuen Lyrik" (xin siii) markierten.
Zong Baihua, der in Guo Moruo ein ,, lyrisches Talent" sah, sich mit ihm
,, geistesverwandt" wußte, förderte den jungen Dichter, druckte seine Ge¬
dichte in den Spalten der Xuedeng und begann mit ihm eine Diskussion über
Lyrik, Pantheismus und Goethe.'
Zong Baihua führte als dritten Briefpartner Tian Han ein, der in der Zeit¬
schrift Shaonian Zhongguo (,, Junges China") bereits Artikel zu literarischen
Tian Han, Zong Baihua, Guo Moruo: Sanyeji (,, Kleeblatt-
Sammlung"). Shanghai 1920 (repr. Shanghai 1982), S. 4 f.