BEGRÜSSUNGSANSPRACHE
Von Lothar Ledderose, Heidelberg
Herr Prorektor, Herr Dekan,
Hebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
es ist mir eine große Freude, Sie im Namen der Deutschen Morgeniändi¬
schen Gesellschaft heute morgen hier zur Eröffnung des XXIV. Deutschen
Orientalistentages willkommen heißen zu dürfen.
Wir freuen uns, daß Herr Prof. Dr. Michael Staak zu uns gekommen ist,
der Prorektor der Universität zu Köln, die für unsere Tagung die Räume zur
Verfügung stelh, und wir danken ihm, daß er gleich zu uns sprechen wird,
ebenso wie dem Dekan der Philosophischen Fakultät, Herrn Prof. Dr. Werner
Eck.
Wir hoffen, daß sich unser Orientalistentag gut in die Reihe der vielen akade¬
mischen VeranstaUungen zum 600jährigen Jubiläum der Universität einfügt,
zu dem wir ihr unsere herzlichen Glückwünsche sagen. Als Morgenländische
Gesellschaft können wir ja gar nicht anders als uns wohlfühlen in einer Univer¬
sität, in deren Siegel die Drei Weisen aus dem Morgenlande zu sehen sind.
Es ist uns eine Genugtuung, daß unter den etwa 570 Teilnehmern unserer
Tagung über ein Fünftel aus dem Ausland kommen. Stellvertretend für sie alle
möchte ich zunächst zwei Ehrengäste begrüßen, die ihre Vorträge heute nach¬
mittag halten werden: Frau Prof. Dr. Joanna Mantel-Niecko aus Warschau
und Herrn Prof. Dr. Montgomery Watt aus Edinburgh. Weiter begrüße ich
Herrn Prof. Dr. Gamäladdin Mahmüd, den Präsidenten des Hohen Rates für
islamische Angelegenheiten in Ägypten, und Herrn Prof. Dr. Hälid Abü
Hatab, Dekan der Fremdsprachenfakultät der Universität al-Azhar, Kairo.
Wir freuen uns ebenfalls sehr, daß Herr Ministerialrat Dr. Pusch vom Mini¬
sterium für Forschung und Technologie und Herr Dr. Briegleb von der Deut¬
schen Forschungsgemeinschaft zu uns gekommen sind, zwei Institutionen der
Wissenschaftsförderung, denen wir seit vielen Jahren eng verbunden sind, und
denen wir bedeutende Hilfe verdanken. Herzlich begrüßen möchte ich auch
meinen Vorgänger im Amt, Herrn Prof. Dr. Hans Robert Roemer, der es sich
nicht hat nehmen lassen, heute morgen bei uns zu sein.
Nicht zuletzt freut es uns, daß so viele junge Wissenschaftler und Studenten
unter uns sind, die auf diese Weise wissenschaftliche Kontakte knüpfen und
unsere Gesellschaft kennenlernen möchten.
Begrüßen möchte ich auch die Damen und Herren von den Medien. Wir
Orientalisten schätzen es, wenn Sie über unsere Arbeit berichten, denn wir
glauben, daß die Öffentlichkeit noch keineswegs genug darüber weiß.
Meine Damen und Herren, anläßlich dieses Kongresses hat mir der Herr Bun¬
despräsident einen Brief geschrieben, aus dem ich mir erlaube, Ihnen folgendes vorzulesen:
,,Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft bemüht sich intensiv um die
Vertiefung und Verbreitung der Kenntnis der orientalischen Hochkulturen.
In meinem Grußwort für den 32. Internationalen Orientalistenkongreß 1986 in Hamburg habe ich hervorgehoben, daß die Orientalistik ein unentbehrli¬
cher Vermittler in dem Bestreben ist, das Studium der grundlegenden Aspek¬
te menschlicher Zivilisation auszuweiten: auf Religion und Philosophie, auf Literatur und Recht, auf Kunst und Musik, kurz auf das, was die Einmalig¬
keit und die unverwechselbare kulturelle Eigenart der Völker ausmacht. Dies gilt im besonderen auch für den bevorstehenden Orientalistentag in Köln.
Ich wünsche dem Deutschen Orientalistentag einen guten Verlauf und bitte Sie, den Teilnehmern meine besten Grüße zu übermitteln.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr
Richard v. Weizsäcker"
Der Bundesminister für Forschung und Technologie hat unserem Kongreß
ein Grußwort geschickt, welches ich Ihnen ebenfaUs vorlesen darf:
,,Den Teilnehmern des Deutschen Orientalistentages 1988, den die Deutsche
Morgenländische Gesellschaft in Fortführung einer langjährigen und ver¬
dienstvollen Tradition in Köln veranstaltet, übersende ich meine herzlichen Grüße.
Wir erleben heute, daß die Region, die der aus dem Jahre 1845 stammende Vereinsname der DMG mit dem Begriff , Morgenland' umschreibt, in politi¬
scher, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht für die westliche Welt an Interesse und Bedeutung zunimmt. Zugleich müssen wir feststellen, daß in einer durch immer modernere Verkehrs- und Kommunikationsmittel
kleiner und überschaubarer werdenden Welt die Verständnisbarrieren zwi¬
schen Kuhur und Gesellschaft des , Abendlandes' und den vielfältigen Kultu-
ren und Gesellschaften des .Morgenlandes' nach wie vor starke Hemmnisse
für die wünschenwerte Verstärkung von Dialog und Kooperation sind. In
dieser Situation kommt der deutschen Orientalistik eine wichtige Brücken¬
funktion zu.
Hiermit möchte ich nicht behaupten, daß sich jedes Vorhaben in der
Orientalistik an dieser Funktion messen lassen muß, um als relevant aner¬
kannt zu werden. Wissenschaft, in ihrer Freiheit grundgesetzlich geschützt, darf sich nicht allein an außerhalb ihrer selbst liegenden Erwartungen orien¬
tieren. Sie ist jedoch aufgerufen, Forschungsthemen aufzugreifen, die sich den Zeitproblemen stellen und auch die aktuellen Konflikte und tiefgreifen¬
den Veränderungen des Orients behandeln.
Das Freilegen der historischen Wurzeln der gegenwärtigen Spannungen ge¬
hört hierhin ebenso wie die Erforschung der Ursachen und Wirkungsweisen
zu beobachtender Wandlungsprozesse. Besonders wichtig erscheint mir die
Bereitschaft der Orientalistik zu interdisziplinärer Zusammenarbeit, insbe¬
sondere mit den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch den Geo- und Agrarwissenschaften sowie der Medizin. Viele Fragestellungen werden erst bei einer solchen Zusammenarbeit sinnvoll bearbeitet werden können. Hier sehe ich ein Feld mit der Chance zu außergewöhnlicher Dyna¬
mik.
Eine noch weiter wachsende Bedeutung kann mit einer solchen Zielsetzung das Orient-Institut der DMG gewinnen, das in den Bemühungen der Bundes¬
regierung zur Förderung der Orientalistik ohnehin eine wesentliche Rolle spielt. Über alle politischen Erschütterungen hinweg hat dieses Institut bisher
seine Aufgaben in Forschung, Service und Nachwuchsförderung den Um¬
ständen entsprechend erfüllt. Die notwendig gewordene Einrichtung einer
Ausweichstelle in Istanbul ist erfolgreich verlaufen. Allen, die hieran inner¬
halb und außerhalb des Instituts beteiligt waren, gilt mein besonderer Dank.
Dem Orientalistentag 1988 wünsche ich reichen Ertrag.
Mit freundlichen Grüßen Ihr
Dr. Heinz Riesenhuber"
Ich bin mir Ihrer Zustimmung sicher, wenn ich dem Herrn Bundespräsi¬
denten und dem Herrn Minister schreibe und ihnen ihn Ihrer aller Namen für
ihre Grüße und ihre Sympathie für unsere Sache danke.
Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, daß ein großer Kongreß wie der
unsere auf tatkräftige Hilfe von vielen Seiten angewiesen ist. Danken möchte
ich zunächst den Organisationen, die durch ihre Unterstützung zu unserer
Zusammenkunft beigetragen haben: der Gerda-Henkel-Stiftung, Düssel¬
dorf, der Islamischen Wissenschaftlichen Akademie, Köln, und der Max
Freiherr von Oppenheim Stiftung, Köln.
Jeder von Ihnen, der selbst einmal bei der Ausrichtung eines Kongresses
beteiligt war, weiß, wie mühsam die Vorbereitung ist, und vor allem, daß sie
jedesmal mühsamer ist, als man es sich zu Anfang vorgestellt hat. Ich kann hier nicht weiter in die Einzelheiten gehen, denn sonst finden sich vielleicht
keine Organisatoren mehr für den folgenden Kongreß, aber umso herzlicher
danken will ich Herrn Kollegen Prof. Dr. Werner Diem, dem Sekretär des
XXIV. Deutschen Orientalistentages, allen seinen Mitarbeitern und den
Fachgruppenleitern für ihre selbstlose Arbeit, die sie viel, viel Zeit gekostet hat.
Besonders danken möchte ich auch unserer hochverehrten Kollegin, Frau
Prof. Dr. Eleanor von Erdberg, die heute zu uns gekommen ist, um den
Fest Vortrag zu halten.
Unser Dank gilt schließlich den Musikern vom Bonner Sinfonieorchester,
die uns zu Anfang unserer wissenschaftlichen Diskussionen vorgeführt ha¬
ben, wie harmonisch Polyphonic in orientalischer Manier sein kann.
Meine Damen und Herren, die Begrüßungsrede eines Orientalistentages ist
traditionell der Anlaß für einige grundsätzliche Bemerkungen zur Situation
der Orientalistik in Deutschland. Ich möchte heute die Gelegenheit wahrneh¬
men und etwas zu dem vieldiskutierten Problem des Gegenwartsbezuges in
unserer Wissenschaft sagen, zu dem ja auch der Herr Minister in seinem
Grußwort Stellung genommen hat. Wie Sie wissen, werden wir ständig auf¬
gefordert, uns mehr mit Gegenwartsthemen zu befassen. Es drängen uns da¬
zu die Öffentlichkeit, die Wissenschaftspolitiker und unsere nicht-orientali¬
stischen Kollegen. Prinzipiell ist dazu zu bemerken, daß wir uns diesem
Drängen nicht verschließen dürfen. Aber wir halten es für verhängnisvoll,
wenn dies auf Kosten der Substanz geht, die wir in Deutschland aufgebaut
haben, und auf der das internationale Ansehen unserer Wissenschaften zu
einem guten Teil beruht.
Ich möchte einige Beispiele nennen. In den letzten Jahren sind im Bereich
der China- und Japanforschung bemerkenswert viele neue Stellen eingerich¬
tet worden. Manche von ihnen werden in naher Zukunft noch besetzt. Der
größte Teil dieser Stellen ist gegenwartsbezogen definiert, und oft ist ein
Schwerpunkt auf den Wirtschaftswissenschaften gewünscht. Angesichts der
bekannten Schwierigkeiten, heute überhaupt noch neue Stellen zu bekom¬
men, sind die hier gemachten Anstrengungen der Ministerien und Universitä¬
ten hoch zu veranschlagen. Jeder weitere Ostasienexperte, der bei uns die
Möglichkeit erhält, zu forschen und die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Tätigkeit publik zu machen, ist fraglos ein Gewinn für die Allgemeinheit.
Dennoch bleiben Bedenken. Nicht nur wird es nach einer Weile schwierig,
für die in einem relativ kurzen Zeitraum an vielen Orten zu besetzenden Stel¬
len hochqualifizierte, und das heißt auch, die internationale Diskussion mit-
be.stimmende Wissenschaftler zu finden. Es ist auch fraglich, ob es weise ist, wenn bei der Wiederbesetzung von bisher ,, klassisch" ausgerichteten Profes¬
suren ebenfalls Spezialisten für die Moderne gesucht werden, fast als hätte
man Angst, den Anschluß zu verpassen. Für verhängnisvoll jedoch halten wir es, wenn , .klassisch" ausgerichtete Stellen gar nicht wieder besetzt wer¬
den, wie z. B. in Göttingen möglicherweise die Turkologie oder hier in Köln
der Lehrstuhl für Indologie. Dabei können wir auf unseren indologischen
Nachwuchs offensichtlich stolz sein: In den letzten eineinhalb Jahrzehnten
sind fünf deutsche Indologen in die USA abgewandert, wo man ihnen so
wichtige Professuren wie die in Harvard und Philadelphia angeboten hat.
Wenn es möglich ist, bei uns moderne Ostasienwissenschaft auszubauen, wa¬
rum sollte es dann nicht möglich sein, eine blühende Indologie zu pflegen?
Ein weiteres Beispiel ist das wissenschaftliche Institut, welches zur .Zeit in
Japan eingerichtet wird. Der Vorstand der Deutschen Morgeniändischen Ge¬
sellschaft hatte 1983 dem Ministerium für Forschung und Technologie ein
Memorandum zur Gründung eines solchen Instituts vorgelegt, in Analogie
zum Orientinstitut unserer Gesellschaft in Beirut. Das Ministerium hat, ent¬
gegen unseren Vorstellungen, von Anfang an verlangt, daß das Institut nur
das moderne Japan zu erforschen und einen Schwerpunkt auf den Wirt¬
schaftswissenschaften zu haben habe. Mit der Leitung der Planung wurden
über längere Zeit Soziologen betraut, die des Japanischen nicht mächtig sind.
Immerhin ist der Gründungsrektor ein Japanologe. Wir hoffen und wün¬
schen ihm, daß er den Belangen der Japanologie genügend Geltung verschaf¬
fen kann.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf ein weitverbreitetes Mi߬
verständnis in der Diskussion um den Gegenwartsbezug hinweisen. Die, die
uns den Rat geben, uns mit der Gegenwart zu befassen, denken dabei vor¬
nehmlich an pohtische oder wirtschaftliche Themen, während ihnen philolo¬
gische, historische, religionswissenschaftliche, kunsthistorische oder andere
ähnliche Methoden eher für die Erforschung vergangener Probleme probat
erscheinen. Das ist jedoch keineswegs so. Auch alle die letztgenannten Me¬
thoden können und müssen herangezogen werden, um sinnvoll und erfolg¬
reich auf dem modernen Gebiet zu arbeiten.
Worauf es uns daher ankommen muß, ist, denke ich, dreierlei. Wir dürfen
das Feld der modernen Orient forschung nicht den Nicht-Orientalisten zur
Bearbeitung überlassen. Wir dürfen die berechtigten Erwartungen der Öf¬
fentlichkeit nicht enttäuschen, die von uns fundierte und allgemeinverständ¬
liche Auskünfte über vielfäUige Aspekte der Länder Asiens und Afrikas er¬
hofft. Vielmehr müssen wir demonstrieren, daß wir Orientalisten mit unserer
philologischen Kompetenz und unserer Kenntnis der historischen Dimension
auch für moderne Fragen die qualifizierten Fachleute haben.
Das können wir allerdings am besten — und damit komme ich zum zwei¬
ten Punkt —, wenn es unter uns auch Fachleute gibt, die in einer nichtorien- talistischen Disziplin methodisch geschult sind. Die vielbeschworene interdis¬
ziplinäre Zusammenarbeit, zu der wir aufgerufen sind, darf nicht bedeuten,
daß man von uns nur noch Sprachkenntnisse oder historische Hintergrunds-
informationell erwartet. Wir sollten unseren Nachwuchs ermuntern, neben
orientalistischer Kompetenz im engeren Sinne möglichst auch noch eine son¬
stige Fachkompetenz zu erwerben in irgendeiner der vielen Disziplinen aus
der Palette der Natur- und Geisteswissenschaften. Die Kombination von
zwei wissenschaftlichen Disziplinen in einer Person ist zweifellos die erfolg¬
versprechendste Möglichkeit interdisziplinärer Arbeit.
Schließlich müssen wir drittens der Öffentlichkeit und den Wissenschafts¬
verwaltungen immer wieder deutlich machen, daß es nicht die wesentliche
Aufgabe der Orientalistik sein kann, kurzfristig verwertbare, pragmatische
Ergebnisse oder gar nur Entscheidungshilfen für Politik und Wirtschaft zu
liefern. Gerade in Deutschland, wo die Kulturen des Ostens in der Allge¬
meinbildung noch immer eine beschämend geringe Rolle spielen, brauchen
wir auch Wissenschaftler, die ihre ganze Kraft der Erforschung historischer
Zusammenhänge und auch scheinbar abgelegener Themen widmen. Denn
wir sind überzeugt, daß nur ein umfassendes Verständnis der Kulturen des
Orients langfristig im besten Interesse unseres Landes ist.
Es gibt vielleicht keine andere Gruppe von Geisteswissenschaften, in der
noch so viel zu erforschen ist, und die noch so viele neue und grundlegende
Einsichten verspricht wie die Orientalistik in ihrer ganzen Breite. Wir brau¬
chen diese Einsichten immer dringender in dem Maße, in dem sich die Kultu¬
ren der Weh näherkommen.
Meine Damen und Herren, das Programm unseres Kongresses kann eine
Vorstellung geben von der VielfaU unserer Wissenschaften und von den Lei¬
stungen, zu denen wir fähig sind. Uns allen wünsche ich eine ergebnisreiche
Woche und erkläre den XXIV. Deutschen Orientalistentag für eröffnet.
Von Eleanor von Erdberg, Aachen
Eine verständliche Reaktion auf den Wortlaut des Themas wäre der Ein¬
wand: Natürlich gehört zu einer Landschaft die Ferne! Warum über das
Selbstverständliche reden? Wenn wir aber meinen. Ferne mit Unendlichkeit
gleichsetzen zu können und das nicht immer gelingt, tauchen Fragen auf:
Wie weit reicht die Ferne? Welche Bedeutung kommt ihr im Landschaftsbild
zu?
Berg und Wasser — shan shui — ist die chinesische Bezeichnung für Land¬
schaft. In diesem Wortpaar sind nicht nur die feste Erde und das bewegliche
Wasser enthalten, sondern auch die Pflanzen und Tiere, die sie hervorbrin¬
gen und ernähren, ebenso wie die Menschen und ihre Werke, die einige neue
Züge in das Gesicht der Landschaft zeichnen. Sie alle sind in ihrer Ausdeh¬
nung erfaßbar, die Ferne aber scheint nicht eingeschlossen zu sein, wenn wir
Berg-Wasser sagen. Und doch ist sie es, die im Geist des Betrachters die Ad¬
dition der eben genannten Elemente bis in die Endlosigkeit möglich macht.
Nur wenn die einzelnen abgebildeten Dinge auf sie bezogen sind, entsteht ein
Bild der Landschaft.
Für die chinesische Landschaftsmalerei wären die oben gestellten Fragen
folgendermaßen zu beantworten: Erstens: Die Ferne reicht in die Unendlich¬
keit; zweitens: Durch sie wird die Landschaft der sichtbare Ausdruck einer
Vorstellung von solcher Weite, daß es für sie keine erschöpfenden Darstel¬
lungsmittel gibt. Sie ist die ganze Weh, das All — und das kann ein Bild nicht umfassen. Dies soll der Betrachter erfahren, darum läßt ihn die Komposition
nicht im Vordergrund verweilen, sondern zieht ihn in die Ferne (Abb. 1, Ta¬
fel I). Jede ihrer Schichten — über die Hügel des Mittelgrundes bis zu den
hohen Bergen und den aus dem Dunst in blassen Umrissen hervortretenden
Gipfeln — leitet den Blick zu einem Einschnitt im Hintergrund, den er wie
einen Paß überschreitet, um in Gefilde zu gelangen, die dem Auge und dem
Pinsel nicht mehr zugänglich sind, sondern nur der Einbildungskraft. Für sie
ist der Weg frei von Hindernissen; sie schwebt in das Bild hinein und wird
nirgends aufgehalten.
Auf einem Herbstbild leuchtet das rote Laub der nahen Bäume; es ist ein
weiter Weg zu der Pagode auf einem vorspringenden Felsmassiv, um das der
Fluß eine scharfe Biegung macht. Wir folgen ihm — hinter die Berge des
Vordergrundes — und erblicken am jenseitigen Ufer Hügelketten, die in
demselben spitzen Winkel wie der Fluß sich hinter den Bergen in der Ferne