Zum Problem der chinesischen Ontologie unter
dem Aspekt der Sprache
Von Rolf Teauzettel, München
In Darstellungen der chinesischen PhUosophiegeschichte findet man,
daß neben vielen anderen Begriffen der abendländischen Philosophie
auch der der Ontologie verwendet wird^. Schon eine kurze Überprüfung
einschlägiger Passagen führt aUerdings zu einem wenig befriedigenden
Ergebnis, da der Terminus Ontologie in der Regel nur in seiner all¬
gemeinsten Bedeutung (Lehre vom Wesen aUes Seienden) einbezogen
wird, nicht aber in seiner spezifischen. Andererseits hatte man letztere
im Auge, als man erste Versuche unternahm zu klären, wieso die chine¬
sische Philosophie über einige schüchterne Ansätze zur Grundlegung
einer Logik nicht hinausgekommen ist^, da man sich des genetischen
Zusammenhangs beider Disziphnen in der griechischen Philosophie durch¬
aus bewußt war. Das Ziel dieser Überlegungen soU demnach sein zu
prüfen, ob es überhaupt sinnvoll, d. h. wissenschaftlich produktiv ist,
diesen im Abendlande geprägten Begriff ohne weiteres in die Darstel¬
lung der chinesischen Philosophie und ihrer Geschichte zu übernehmen,
wobei festzuhalten bleibt, daß im folgenden der engere Begriff von
Ontologie thematisch ist, so wie er von Christian Wolff bestimmt wurde
als die metaphysica generalis im Gegensatz zur metaphysica specialis. Ihr
Gegenstand deckt sich mit dem, was bei Thomas von Aquin den ersten
Zweig der sapientia, von diesem metaphysica genannt, büdet imd die
ihrerseits die Fortführung des Teiles der Ersten Phüosophie des Aristo¬
teles ist, die auch Metaphysik heißt. Aristoteles hatte ihr eine dreifache
Aufgabe zugewiesen: die Lehre vom Seienden als Seiendes, von den
ersten Gründen und von Gott. Sowohl in der klassischen griechischen
Phüosophie als auch in der Scholastik des Mittelalters kam dabei der
^ So z. B. in A. Fobke, Geschichte der alten chinesischen Philosophie. 2.,
imveränderte Aufl. Hamburg 1964.
^ Texte, in denen erste Grundzüge eüier Logik Gtestalt gewinnen, sind in
China nur in der Zeit vom Ausgang des 4. bis ins 2. Jhdt. v. Chr. konzipiert
worden (TeUe aus Mo-tzu und Chuang-tzu, Kung-sun Lung-tzu u. a.). Außer
in der buddhistischen, unter indischem Einfluß stehenden Philosophie bUdete
die Logik von da an in China kein Thema mehr, und zwar bis zum Ende des
19. Jhdts, als von Europa her neue Anregimgen kamen. Es erübrigt sich, dio
inzwischen recht umfangreiche Sekundärliteratm- hierzu aufzuführen, da sie
leicht den sinologischen Standardbibliographien zu entnehmen ist.
Zum Problem der chin. Ontologie unter dem Aspelit der Sprache 271
ersten der drei Aufgaben eine zentrale Bedeutung zu, weil mit ihrer
Bewältigung wichtige methodische Grundlagen wissenschaftlichen Den¬
kens überhaupt erarbeitet wurden, nämlich allgemeinste Kategorien
und Axiome.
Diese kurzen Prolegomena bedürfen noch einiger zusätzlicher Be¬
merkungen. Daß die Untersuchung unter dem Aspekt der Sprache ge¬
führt wird, soll selbstverständlich nicht die Konstatierung irgendwelcher
wechselseitiger, gar kausaler Abhängigkeiten zwischen Denkform und
konkreter Binzelsprache implizieren*, sondern die besondere Sprachform,
hier des Chinesischen, soU nur als Schlüssel dienen, der vielleicht besser
als andere Mittel eine bestimmte Denkweise aufschließt. Es hat nicht an
Versuchen gefehlt, eine direkte Beziehung zwischen chinesischer Sprache
und chinesischem Denken zu konstruieren*, wobei meistens auch die
chinesische Schrift als ein zu beachtender Faktor gewertet wurde. Zum
Beispiel sagt Alfeed Forke von den chinesischen Schriftzeichen, „da
sie fast immer an konkrete Dinge anknüpfen, so fördern sie das an¬
schauliche, konkrete Denken*", welche Behauptung schließlich auf die
chinesische Sprache selbst ausgedehnt worden ist*. Demgegenüber kommt
* Damit ist das Problem natürhch nicht aus der Welt geschafft. Es sei
nur erinnert an L. Weisgebbbrs Auffasstmg vom Weltbild der Sprache oder
B. L. Whobfs Theorien. Zu erwälmen ist auch die Hypothese von C. Levi-
Steauss, die eine formelle Übereinstimmung von Verwandtsohaftssystem
und Spraohstruktur behauptet (vgl. debs.. Language and the Analysis of
Soci/ü Laws, in: American Anthropologist 53, No. 2 (1951) S. 155—163;
deutsch: Sprache und Gesellscliaft, in: Strukturale Anthropologie, Frankfurt
1967, S. 68—79). Im allgemeinen stehen die Linguisten dem allerduigs skep¬
tisch gegenüber, besonders aufgrund der Ergebnisse der modemen Zeichen-
vmd Kommunilvationstheorie.
* Dabei spielte u. a. die sogenannte Subjektlosigkeit des Chinesischen eine wichtige Rolle. Es ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß die Begriffe
Subjekt imd Prädikat auch in anderen Sprachen Imguistisoh umstritten
sind. Beide Begriffe, von Aristoteles eingeführt (aber in ihrer lateuiischen
Übersetzung später allgemein gebraucht), waren von diesem ursprünghch
innerhalb der Erkenntnistheorie geprägt worden und gingen sowohl in die
Grammatik als auch die Logik ein, bis sie von verschiedenen Richtungen
in beiden Disziplinen als Fremdkörper betrachtet wurden.
^ Die Oedankenwelt des chinesischen Kulturkreises. München und Berlin
1927. S. 11.
* Vgl. M. Granet, La Fens&e Chinoise; deutsch: Das chinesische Denken.
München 1963, S. 22: „Diese Sprache begünstigte nicht den abstrakten Aus¬
druck von Gedanken." Von Granet und vielen anderen wird übersehen, daß
die Einheit und Autonomie dos Wortes im klassischen Chinesischen größer
ist als etwa in flektierenden Sprachen, wo wortgebundene Mittel wie Ablaut
oder Flexion diese Einheit — wenn auch nur geringfügig — beeinträchtigen.
Da das Chinesische in bezug auf die Wortklassen nur eine ,, innere" Form
kennt, ist der Abstraktionsgrad der Wörter höher als in Sprachen mit „äu¬
ßerer" Form (vgl. z. B. die Funktion des Nominativ Singular bei Substantiven
272 Rolf Tbauzettel
die moderne Linguistik eindeutig zu dem Ergebnis, ,,daß die Eigenschaft
unseres Bewußtseins, alle seine Erlebnisse auf Gegenstände zu beziehen,
den wesentlichsten Zug der Sprache bedingt'", was, wie Pokzig wenige
Sätze weiter an nämlicher Stelle ausführt, für alle Sprachen ohne Aus¬
nahme gilt und somit eine ihrer Invarianten darstellt.
Aus Gründen, von denen erwartet wird, daß das vorgelegte Material
sie rechtfertigt, werden als Ausgangspunkt nun nicht chinesische philo¬
sophische Texte genommen, sondern es wird ein anderer methodischer
Weg gewählt*. Es sollen die Möglichkeiten geprüft werden. Aussagen
abendländischer Philosophen ins Chinesische zu übertragen. Dabei sind
zu unterscheiden 1. syntaktische Möglichkeiten, wobei es genügt, sich
auf die klassische Schriftsprache (in der ja alle interessierenden relevanten
Texte geschrieben sind) zu beschränken, da alle deren Sätze in Umgangs¬
sprache übersetzbar sind; und 2. semantische, wobei sich zeigen wird, daß
zwischen Schrift- und Umgangssprache wesentliche Unterschiede beste¬
hen, weshalb beide herangezogen werden müssen. Ferner ist es notwendig,
da philosophische Texte sprachlich nicht isoliert stehen, die Literatur im
weitesten Sinne einzubeziehen.
Als erstes Beispiel soll die aristotelische Formuherung to ov yj Öv ,,das Seiende als Seiendes" betrachten, ins klassische Chinesische übersetzt
werden: Die Phrase i X wei Y hat in diesem Zusammen¬
hang die Bedeutung ,,X für Y halten" und dürfte in etwa geeignet sein,
das griechische fi wiederzugeben, das im Deutschen mit „als" übersetzt
wird. Man kann hier auch an die beliebte Definitionsformel X chih wei
yen Y denken, was also ergäbe W ^ Ä ^ »das Sein wird (eben) als
das Sein bezeiclmet", welche Wendung wiederum als Subjekt mit einer
Prädikation versehen werden kann: X chih wei X Y: ,,das X als X ist
Y". Die zweite im Deutschen übliche Übertragung von f) mit ,, insofern"
(also: „das Seiende (betrachten), insofern es ist") erhält im Chinesischen
ihre Schwierigkeit durch die Kopula, was sich aber als Scheinproblem
und die des Infinitivs bei Verben als ,, Standardform" der Worteinheit in
flektierenden Sprachen. Hierzu siehe A. Meillet, Linguistique historique et
linguistique ginArale, Bd. II, Paris 1936, S. 9—13, Abscimitt über Le caractire
concret du mot). Pointiert ausgedrückt läßt sich vielleicht sagen, daß in
gleichem Maße, wie chinesische abstrakte Begriffe „konkreter" erscheinen, konkrete Begriffe abstrakter werden.
' W. Pobzig, Dos Wunder der Sprache. Bem und München 1962 (3. Aufl.),
S. 209.
' A. C. Graham hat in seinem Aufsatz „Being" in Western philosophy
compared unth shih/fei and yu/vm in Chinese philosophy (in : Asia Major VII
(1959) S. 79—112) im Abschnitt The Treatment of „to be" in Chinese trans¬
lations of Western philosophers (S. 105—110) bereits einmal diesen Weg be¬
schritten. Er widmet sich dabei allerdings wesentlich seinem Hauptthema, der Kopula.
Zum Problem der chin. Ontologie rmter dem Aspekt der Sprache 273
erweist, denn das Chinesische ist mit seinen sprachlichen Mitteln durch¬
aus in der Lage, außer den anderen Sachverhalten, die in zahkeichen
Sprachen mit Hilfe der Kopula ausgedrückt werden, auch die Aussage
von deren Existenz zu trejffen, nur daß im Gegensatz beispielweise zum
Deutschen, wo die Standardformulierung lautet ,,X ist (existiert)", im
Chinesischen dabei die Stellung von Subjekt, genauer logischem Subjekt
und Prädikat vertauscht wird und ersteres als Objekt erscheint nach
dem Muster ,,(es) gibt (existiert) X". Da bereits A. C. Graham in einem
Aufsatz* das Problem ausführlich abgehandelt hat, erübrigt es sich, hier
nochmals daratif einzugehen. Wie vorauszusehen läßt sich zusammen¬
fassend sagen, daß von der Syntax her der Formulierung von ontologi¬
schen Sätzen dieses Typs im Chinesischen nichts im Wege steht.
Ganz verschieden ist nun aber die Situation in semantischer Hinsicht.
Um die sich hier bietenden Schwierigkeiten zu verdeutlichen, sei von
einem Beispiel in Umgangssprache ausgegangen. Für den Satz Fichtes,
,,das Ich setzt im Ich das Nicht-Ich", findet sich in einer modernen
Studie"» folgende Übersetzung: S^^@?fe»f^ji:^?SI>er Satz
ist nun nicht so ohne weiteres in der klassischen Schriftsprache wieder¬
zugeben. Aufgrund der Stellungsgesetze müßte man ihn etwa formulieren
mit „das Ich als Ich setzt das Nicht-Ich" (^ (^) ±% ^aLCS.)
^ -&)• Was jedoch jetzt interessiert, ist etwas anderes. Auch in
der Umgangssprache heißt das Personalpronomen der 1. Person fft.
Wieso führt der Übersetzer dann einen Neologismus (§ ^ft etwa ,,das
selbstische Ich") ein? Bei der Negation zu ,, Nicht-Ich" (^ ^^), wo ent¬
sprechend ^ § ^ zu erwarten wäre, dürfte rhythmische Überakzen-
tuierimg befürchtet worden sein, was zur Wahl des schon ausreichenden
wohl beitrug. Vor der Interpretation dieser Eigentümlichkeit sei
erst noch ein weiteres Beispiel gebracht. Der Satz aus der Metaphysik
des Aristoteles (nach der Übersetzung von E. Rolfbs, Leipzig 1904),
,,denn die Aktualität des Intellekts ist Leben", lautet in einer modernen
Version M. ^ 'S & M ^ ^'^> ^as man schriftsprachlich fassen
kann mit ^ E< ^ 'S ^If ^ -iH- Untersucht man nun den hier für ,, In¬
tellekt" gebrauchten Begriff ssu © (umgangssprachlich ssu-hsiang
^g.), so vermittelt dieser, wie A. Waley" treffend charakterisiert, keine Andeutung eines ,,long interior process of cogitation or ratiocination",
vielmehr hätte man zu denken an ,,a fixing of the attention on an im¬
pression recently imbibed from without and destined to be immediately
* Vgl. op. cit. in Anmerkung 8.
Hsieh Yu-wei u. a., Heh-ko-erh che-hsUeh lun wen-chi(l). T'ai-pei 1956,
Beitrag von Fang Tung-mei, S. 95.
^1 The Analects of Confucius. New York, o. J., Vintage Books, No. 173,
S. 45.
274 Rolf Trauzettel
re-exteriorized in action." Der neolionfuzianische Philosoph Chu Hsi
(1130—1200 A.D.) paraphrasierte ihn als „mit dem Herzen suchen." Alle
anderen nachweisbaren Nuancierungen des Begriffs haben eines gemein :
keine deckt sich mit der Bedeutung „cogitare". Ähnlich verhält es sich
mit shih %, „Realität, Wirldichkeit, Tatsächlichkeit" usw., für „Aktuali¬
tät", wo gleichfalls das umgangssprachliche shih-tsai f „tatsächlich sich befinden", ziemlich ungenau bleibt. Eine systematische Suche fördert
so mühelos zutage, daß alle wichtigen Begriffe der abendländischen On-
tologie^^ zwar durch chinesische Neologismen wiedergegeben werden
können, es zu ihnen aber keine adäquaten schriftsprachlichen Begriffe
gibt (z.B. modern M'M „Wahrheit"; oder oder :m
„Idee" usw.). Ausnahmen hierzu bilden bezeichnenderweise die Termini
aus der Übersetzersprache der Buddhisten. So knüpft etwa auch der
Neologismus kung-hsiang ^ („Universalien") an Kumärajivas (344—
413 A.D.) Übersetzungen an, in denen hsiang ^ in der philosophischen
Bedeutung ,, Zeichen, Merkmal" als Äquivalent für die sanskritischen
abstrakten Nominalsufl&xe -tva und -tä dient (yu-hsiang ^0: sattä
,, Dasein"; ski-hsiang'S : tattva ,,Dasheit, wahres Wesen" usw.).
Schon diese wenigen Beispiele enthüllen, auf welcher Linie die seman¬
tische Funktion der philosophischen Neologismen liegt. Sie dienen zur
Weiterbüdung nominaler Begriffe, insbesondere von abstrakten Sub¬
stantiven. Außer in der buddhistischen Ubersetzungsliteratur (undin deren
Gefolge dann rein chinesisch-buddhistischen Texten) finden sich Ansätze
zu einer solchen Begriffsumfimktionierung (von meist Verben, d. h. vor¬
wiegend verbal gebrauchten Worten zu abstrakten Nomina) eigenthch
nur in taoistischen und neokonfuzianischen Schriften, welche aber stark
vom Buddhismus beeinflußt worden sind^*. Daß die Bedeutungsentwick¬
lung in dieser Richtung in der klassischen chinesischen Schriftsprache nicht
weiter vorangekommen ist, gründet letzlich in der Funktionsbreite ihrer
Wörter. So kommt das Wort yu das auch für ,,das Sein" steht, haupt¬
sächlich in verbaler Funktion vor, und zwar in der Bedeutung „(etwas)
haben" und ,,(es) gibt, ist vorhanden". Wo ein europäischer Text vom
„Sein als solchem" spricht, konnotiert das Chinesische damit imausweich¬
lich „das Vorhandensein von Dingen".
Damit rückt in den Mittelpunkt das Problem der Wortklassen (Rede¬
teile), denn das klassische Chinesische verfügt in dieser Hinsicht nur über
„innere", nicht aber über ,, äußere" Form^*. Deren Fehlen aUein jedoch
In der chinesischen Übersetzung von B. Russells History of Western
Philosophy: Lo-su, Hsi-fang che-hsüeh shih, 5 Bde. T'ai-pei 1955 beispiels¬
weise macht das 72 Begriffe aus, wobei der Grad von deren Adäquatheit mit
dem Originalbegriff unterschiedlich ist.
" Vgl. A. C. Graham, op. cit., S. 98—105.
Vgl. hierzu auch G. A. Kennedy, Word-classes in classical Chinese, in:
Zum Problem der chin. Ontologie imter dem Aspekt der Sprache 275
ist nicht das ausschlaggebende Moment, sondern die dadurch bedingte
Unmöglichkeit der Hypostasierung. Das klassische Chinesische bestätigt
solcherart recht eindrucksvoll die Theorie von E. Leisi", die dieser in
seinem System einer deskriptiven Semantik aufgestellt hat. Er klassifi¬
ziert nämhch die Wörter nach verschiedenen „semantischen Typen",
wobei er jedes Wort durch sogenannte ,, Wortbedingungen" bestimmt
sein läßt. Innerhalb dieses Systems teUt er den Substantiven eine „hy-
postasierende" Funktion zu, indem sie Vorgänge, Eigenschaften usw.
vergegenständlichen können, z.B. auch durch Bildung von GenuskoUek-
tiva, Partitiva usw. Mustert man aus diesem Blickwinkel die sogenannten
ontologischen Aussagen genuin chinesischer Philosophen dmrch, fäUt auf,
daß sie sich wesentlich auf zwei Aspekte beschränken, einen dialekti¬
schen und einen zeithchen. Beispielsweise der Satz aus Lao-tzu (Kap. 2):
,,Sein und Nichtsein entstehen auseinander, schwierig und leicht kom¬
plettieren einander, lang und kurz stellen einander auf die Probe, hoch
und niedrig bestimmen einander" verweist im Grunde nur auf die Tat¬
sache, daß einander ausschließende Begriffe dialektisch vermittelt sind.
Und die Sätze aus dem apokryphen Text Lieh-tzu (Kap. 1): ,,Nun ent¬
steht, was Form hat, aus dem Formlosen" und: ,,Am Beginn waren
Atem [ch'i), Form und Stoff vollständig, aber die Dinge waren noch
nicht voneinander getrennt" zerlegen die dialektische Einheit in eine
zeitliche Abfolge. Das entscheidende ontologische Problem besteht jedoch
darin, daß es gleichzeitig neben den Namen für die Einzeldinge Prädi¬
kate gibt, die von vielen Dingen ausgesagt werden können und damit auf
eine ,, Wesenheit" abzielen. Ansätze zu solchen Aussagen enthalten die
wenigen Texte zur ,, Logik" aus der Zeit des 3. und 2. Jahrhunderts v.
Chr. Es ist nun aber sehr bezeichnend, daß diese fragmentarischen, am
besten wohl als proto-logisch zu klassifizierenden Texte keine Fortsetzung
gefunden haben. Eine kurze Vergegenwärtigung des ersten der drei
Standpunkte im Streit um die Universalien, den Plato begründet hat,
offenbart gut den hier diskutierten sprachlichen Bezug. Plato läßt die
Allgemeinausdrücke ähnlich wie die Namen für die Einzeldüige funk¬
tionieren. Diese allgemeinen Entitäten begreift er als selbständige Wesen¬
heiten (Ideen) neben den konkreten Einzeldingen. Mit der Ideenlehre
setzt er damit eine Teilhabelehre, dadurch aber konstatiert er eine Welt¬
verdopplung, die letzthch auf Hypostasierung beruht. Es sei daran er¬
innert, daß in der Geschichte der Sprachforschung die Theorie von den
Wortarten auf die Ontologie gegründet wurde^*, wo es sich doch eher
Selected Works of George A. Kennedy. Ed. by Tien-yi Li. New Haven 1964,
S. 323—433.
15 In: Der Wortinfialt. Heidelberg 1953.
1« Vgl. W. PoBziQ, op. cit., S. 150.
276 Rolf Tbauzettel
umgekehrt verhält, daß diese in jener gründet. Die moderne Linguistik
hat das klar herausgestellt. E. Sapie formuliert den Tatbestand präzis,
wenn er schlußfolgert, ,,daß die 'Redeteile' nicht so sehr unser intuitives
Wissen um die Organisation der Wirldichkeit widerspiegeln als vielmehr
unsere Fähigkeit, dieser Wirklichkeit durch eine Vielfalt von Formen
Ausdruck zu geben''".
Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob die im klassischen Chinesischen
fehlende Möglichkeit der Hypostasierung zu Konsequenzen geführt hat,
die die sprachlichen Ausdrucksformen ganz allgemein wie auch speziell in
der Literatur beeinflußt haben. Da Untersuchungen in dieser Richtung
den Rahmen unserer Überlegungen weit übersteigen, sie damit überhaupt
erst angeregt werden sollen, sei auf drei Phänomene verwiesen, die in
Zusammenhang mit dem Fehlen der ,, äußeren" Form des klassischen
Chinesischen stehen könnten. 1. Es muß auffallen, in welch geringem
Maße (im Vergleich zu flektierenden Sprachen) Personifikationen vor¬
kommen. Ausnahmen macht gerade ein Text, Chuang-tzu, der vermutlich
aus dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. stammt. Er ist aber einer
von jenen, die Fragmente zur ,, Logik" enthalten, was ihn eher zum
Beweismittel der These stempelt. Ein Problem für sich bilden natürlich
die Personennamen, die in der Regel keine eigenthchen Nomina propria
sind, sondern Appellativa'*. 2. Zu prüfen wären des weiteren die Meta¬
phern. Der bereits oben erwähnte E. Leisi hat eine Theorie entwickelt,
indem er aus den ,, Wortbedingungen" ein Prinzip ableitet, das er seman¬
tische Kongruenz nennt. Danach dürfen, wenn ein Substantiv und ein
Verb zugleich auf dasselbe Ding angewendet werden, sich die beiden
Klassifikationen eigentlich nicht widersprechen. Die Metapher wird von
ihm nun damit erldärt, daß sie gegen eben dieses Prinzip verstößt. Die
Befunde in der klassischen chinesischen Literatur (jedenfalls soweit vom
Verf. beobachtet) sind derart, daß man zur Feststellung gezwungen
scheint, daß die chinesische Literatursprache wie kaum eine andere am
Prinzip der semantischen Kongruenz festhält. 3. Speziell schließhch sollte
die chinesische Literatur einmal auf die Häufigkeit des Stümittels der
Synästhesie hin durchgesehen werden. Der Gebrauch intersensorischer
Metaphern ist ja etwa in der griechischen und lateinischen Literatur
nicht gerade selten (man denke z.B. an das berühmte ,,lüienstimmig"
07ta Xetpi6ea(Tav in der Ilias, III, 152). Eine Durchsicht des Shüi-ching
hingegen erbringt keinen einzigen Beleg für dieses Phänomen. Dabei ist
!'In: Language. Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Die Sprache.
München 1961, S. 112.
'* Vgl. E. Haenisch, Die Heiligung des Vater- und Fürstennamens in China.
Leipzig 1932 (Ber. über d. Verhandlungen d. Sächs. Ak. d. Wiss. zu Leipzig, PhU.-hist. Klasse, Bd. 84, H. 4) S. 5.
Zum Problem der chin. Ontologie tmter dem Aspekt der Sprache 277
in Erwägimg zu ziehen, daß die Liedsammlung lange Zeit nur mündhch
tradiert worden ist, was sie in der aufgeworfenen Hinsieht beweiskräftig
macht, denn für die späteren Texte kommt für den Mangel an Syn¬
ästhesie wohl eine weitere Ursache in Gestalt der chinesischen Schrift
hinzu. Besonders seit sich Schrift- und Umgangssprache getrennt hatten,
wurden sicher viele Gedanken und Metaphern von der Schrift her (oft
etymologisch) konzipiert oder assoziiert. Verstärkt wurde die Tendenz
möghcherweise auch dadurch, daß die Sehriftzeichen einen Nachteil des
klassischen Chinesischen, dessen Reichtum an Polysemie und Homony¬
mie, ausghchen.
10 ZDMG 119/2
Das erste Kapitel des Pao-p'u tzu wai-p'ien.
von Renate Schubert, Paris
Das philosophische Hauptwerk des Ko Hung (gestorb. vermutlich
363) ist der z. Z. in der westlichen und japanischen Forschung ausgiebig
diskutierte Pao-p'u-tzu. Das Werk zerfällt in zwei Teüe, nei- und wai-
p'ien, esoterische und exoterische Kapitel; eine Zweiteüung, die schon
seit Chuang-tzu bekannt ist. Die hier vorliegende Übersetzung des ersten
Kapitels des wai-p'ien ist bereits 1964 entstanden. Da hier nicht der Ort
für eine eingehende Interpretation ist, beschränke ich mich darauf, die
längeren Anmerkungen und Hinweise beim Übersetzimgstext zu belas¬
sen — man kann mit ihrer Hilfe eigene Deutungen und Schlüsse ziehen
— und auf die formale Seite und Eigenart kurz einzugehen.
Die Überschrift deutet bereits auf die beiden Problemkreise, die hier
(imd weiterhin im wai-p'ien) einander gegenüber- und zur Diskussion
gesteUt werden : die Verpflichtung des einzelnen, dem Staate zu dienen
(und damit verbunden ,, Glanz"), zum anderen das Recht des Individu¬
ums, sich nach seinen eigenen Gesetzen zu entfalten (imd sich in die
,, Verborgenheit" zurückzuziehen.) Der Begriff chia-tun ist dem I-ching^
entnommen, aber weder Wilhelm noch Legge haben die Polarität der
Begriffe erkannt. Bereits der Kontext im I-ching zeigt, daß man die
Stelle anders deuten muß : (in Zeiten) des Glanzes und der Zurückgezo¬
genheit bringt allein eine feste Entschlossenheit Heil, tun heißt nicht
aUein, sich zurückziehen, sondern auch, verborgen sein oder in Verborgen¬
heit leben. Dabei spielt der Rückzug im rechten Augenblick eine gerin¬
gere Rolle als das Wissen um die eigenen Fähigkeiten, eine Selbsterkennt¬
nis von vornherein.
An dem Kapitel fäUt auf, daß es in Dialogform niedergeschrieben ist.
In China gab es bis dahin Gespräche, Lun-yü, wo die Frage rhetorisch
gesteUt und ex cathedra beantwortet wird. Im Chuang-tzu gibt es An¬
sätze zu Dialogen, die aber eine Fiktion bleiben und im letzten gro߬
artige Monologe eines Suchenden, weit eher als eines Lehrenden sind.
Den platonisch-ciceronischen Dialog als freien Widerstreit der Meinun¬
gen gab es nicht. Im 2. Jahrhundert n. Chr. nähern sich die Dialoge
der Form eines Zwiegespräches*, doch bleibt im aUgemeinen von vorn-
' Nr. 33; 9/5, Wilhelm p. 133, Legge p. 308 (5).
^ Einige Übersetzungen finden sich bei E. von Zach, Chinesische Antho¬
logie, Bd. II, p. 607—647; s. auch W. Eberhard, Geschichte Chinas, p. 60ff.