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Das japanische Kettengedicht
Von OscAß Benl, Hamburg
Über Wesen und Bedeutimg des japanischen Kettengedichts (Renga
3ä ^) herrschten bis in die jüngste Vergangenheit irrige VorsteUungen.
Man wußte zwar, daß diese Kunstform als hterarisch-geseUschaftliche
Spielerei ins Leben getreten war und einige Jahrhunderte später von dem
kürzeren Haiku abgelöst wurde, aber was sie in eben diesen Jahrhunder¬
ten, also in der Blüte und Reife ihres Lebens, bedeutet hatte, war nur we¬
nigen bekannt. Die niedere Herkunft und der ganz offensichtliche spätere
VerfaU dieser Literaturgattung legten den späteren Betrachtern, die sich
durch das Gestrüpp der das iiengra umgebenden Poetik-Vorschriften ohne¬
hin nicht mehr zurecht finden konnten, em abschätziges Urteil nahe. Und
aU dies geschah umso leichter, als das iJen^a-Dichten in der Tokugawa-
Zeit aUmähhch fast vöhig verschwand und der heUige Eifer der japani¬
schen Philologen sich ,, lohnenderen" Epochen als der Muromachi-Zeit
zuwandte. So erklärt es sich, daß in der doch so verdiensthchen japani¬
schen Literaturgeschichte von Kabl Florenz das Renga rundweg als
eine „die Dichtkunst degradierende Spielerei" bezeichnet wurde^. Erst in
aUerneuester Zeit ist durch die Forschungen von Yamada Yoshio, Fttkui
Kyüzö und schheßhch auch Nosb Asaji ein entscheidender Wandel in der
BeurteUung dieser Kunst eingetreten^. Wir wissen heute, daß das Renga
in seiner Blüte und Reife an künstlerischem Rang etwa der Tuschmalerei
jener Zeit durchaus an die Seite gesteht werden muß und daß eine Reihe
von Renga-„Meistern" Dichterpersördichlceiten von imponierender Größe
waren. Da das Renga gemeinschaftlich gedichtet wurde, stand das unter¬
haltende, ja spielerische Element zunächst durchaus im Vordergrund,
nach und nach wandten sich aber die besten Geister der Zeit dieser
Kimst mit leidenschaftlichem Ernste zu. Die iJerigra-Dichtung erfolgte
aus dem Geist des Zen, schreibt Watsuji Tetstjeö^ heute. Und mag
1 Karl Florenz, Geschichte der japanischen Literatur, Leipzig 1909, S. 287.
2 Yamada Yoshio Uj IB # Renga-gaiaetsu ig ^ ^jf Kö; Tökyö 1937;
ders., Renga oyobi renga-shi 3i£|{^^{l^'jffi^^in: Iwanami-köza, Nihon-
bungaku Bd. 13, Tökyö 1932.
FuKui Kyüzö Ig ^ ^ Üt, Waka-renga-haikai no kenkyü ^ 5^ ^
Tökyö 1943.
NoSE Asaji # |g ^, Renku to renga t j^ Tökyö 1950.
3 Watsuji Tetsubö 5fP ji ^ Zoku-Nihonseishin-shi-kenkyü ^ 0 ^
1^11^^^% Tökyö 1935, S. 208.
Das japanische Kettengedicht 433
manchen von uns eine solche Bewertung als im ganzen zu hochgegriffen
erscheinen, so ist es doch zweifeUos so, daß sich sehr viele unter jenen so
leidenschafthch „Verspielten" in einer ähnhchen Bemühung zusammen¬
fanden.
Wenn mm im Folgenden ein kurzer Überbhck über das japanische
Kettengedicht versucht whd, so geschieht dies einmal deswegen, um
seine führende RoUe üi der JfMromacÄi-Literatur aufzuzeigen: die Renga-
„Meister" (renga-shi Ü ^ Bf) waren die eigenthchen Herren der hterari¬
schen Welt. Zum andern aber vermag eine sorgfältige Betrachtung dieser
Kunst, der sich die Ehte jener Zeit verschrieben hatte, etwas von ihrer
geistigen Atmosphäre zu erschließen.
1. Herkunft und erste Entwicklung
Forschen wir nach der Herkunft des Renga, so erhebt sich ganz von
selbst zunächst die Frage, ob nicht wie so viel anderes Schöne in Japan auch
das Renga auf ein chinesisches Vorbüd, etwa das Lien-chü ^ zurück¬
geht. Das Lien-chü scheint in China nur eine geringe RoUe gespielt zu
haben ; leider sind wir nur aus sehr wenigen QueUen darüber unterrichtet^.
Es tritt uns zum ersten Mal in der Dichtung Po-liang-fai ^ ^} ent¬
gegen; vierundzwanzig Dichter und Hof leute unter Kaiser Wu (der frü¬
hen J?aM-Zeit) sprechen sich hier in je einer VerszeUe über ihre Tätigkeit
bei Hofe aus. Die emzelnen Zeüen sind völhg selbständig und ohne mnere
Beziehung zueinander; sie geben ledighch hisgesamt ein BUd verschiede¬
ner Tätigkeiten am Kaiserhchen Hof In der Sechsdynastien-Zeit (ver¬
mutlich gehört auch das Po-liang-tai als eine Fälschung dieser Epoche an')
stehen in den Lien-chü zwei oder vier Verszeüen eines Dichters ebensol¬
chen eines ihm antwortenden gegenüber. Berühmt ist etwa das Zwie¬
gespräch des Dichters Ku Ch'ung ^ ^ mit seiner Frau. In der frühen
T'ang-Zeit erfährt das Lien-chü keine weitere Entwicklung, in der mitt¬
leren erfreut es sich emer gewissen Behebtheit und es entstehen Werke bis
über dreihundert Strophen (chü), in denen bis über vierzig Dichter üire
Empfindungen über ein gemeinsames Thema aneinanderreihen. Hervor¬
ragenden künstlerischen Wert besitzen die Lien-chü von Han Yü und Po
Chü-i, besonders die von Hän Yü, welche er gemeinsam mit Meng
Chiao verfaßte.
^ Vgl. Kai-yüts'ung-k'ao^^^^ von Chao 11^^, (1727-1814), dem
Verfasser der berühmten Poetik Ou-pei shih-hua g| ^jt f^f
2 Otto Fbanke, Die Weise vom Po-liang, das chinesische Kettengedicht, in:
Ostasiatische Zeitschrift, 1922/23, S. 103 ff.
3 Vgl. das von dem KritUcer Shen Te-ch'ien i± ^ (1673-1769) redi¬
gierte Ku-shih yüan |f tü-
434 Oscab Beni.
Wie bekannt, führte der Einstrom der großartigen T'awgi-Kultur die
Japaner selbst dazu, chinesisch zu dichten. Sie pflegten auch das Lien-
chü; leider sind uns aber aus der Frühzeit nur wenig aufschlußreiche
Bruchstücke überliefert. In der Epoche Michinaga's wurde das Lien-chü
beinahe zur hterarischen Mode, blieb aber trotzdem — wie in China —
nur sekundäre Kunstgattung^.
Forschen wir nach der Entstehung des japanischen Kettengedichts, so
müssen wir das Kurz-i2ew^a und das Kettengedicht im eigenthchen Sinn,
das Kusari-Renga ^ ^ voneinander unterscheiden.
Das Kurz-i2e??^a ist zweifeUos einheimischen Ursprungs. Es besteht
ganz einfach darin, daß der Oberstohen und UnterstoUen eines Tanka
von verschiedenen Dichtern stammt und der letztere den ersteren inhalt¬
hch — meist im Sinn einer Antwort — weiterführt. Wohl in der Absicht,
dem Renga ein dem Tanka überlegenes Alter zu verleihen, hat NiJÖ
YosHiMOTO in seiner berühmten Poetikschrift Tsukuba-mondö (s. u.) in
dem kurzen Zwiegespräch von Izanagi und Izanami vor ihrer Vermählung
das erste Renga gesehen. Und es war ganz ahgemein übhch, in der Frage
des Yamato-Takeru no Mikoto:
nihibari Seit durch Nübari
Tsukuba wo svgite wir am Tsukuba vorbei
iku yo ka netsuru wieviel Nächte schhefen wir ?
mit der Antwort seines Reisebegleiters:
ka ga nabete In der Reihe sinds
yo ni wa kono-yo Nächte wohl der Nächte neim,
hi ni wa tö-ka wo Tage wohl der Tage zehn^.
ein Renga zu sehen und man bezeichnete Yamato-Takebtj als den Ahn¬
herrn und Schutzgott dieser Kunst, diese selbst als den „Tsukuba-Weg" .
Den beiden dichterischen Wechseheden fehlt es jedoch an der für das
Renga doch wesenthchen Form. Mit viel mehr Recht hat Juntoku Tennö
in seiner Poetikschrift Yakumo-mishö^ in dem gemeinsam von einer
Nonne und Ötomo no Yakamochi verfaßten und im 8. Band des Man-
^ Das Lien-chü (jap. Renku) wurde sehr oft gemeinsam mit JJen^agedichtet :
chinesische und japanische Strophen wechselten sich ab (Wakan-renku ^
3^ bzw. Kanwa-renku :§| ^0 ; im Tsukuba-shü (s. u.) sind davon
nur Fragmente erhalten, dagegen besitzen wir heute noch ein vollständiges
Kanwa-renku von Musö Kokushi ^ ^ ^ ^> Wie die chinesischen und
japanischen Strophen dabei aufeinander abgestimmt werden müssen, führt
Ni.rö YosmMOTO in seinen Poetiken Oekimökuhö, Tsukuba-mondö und
Kyüshü-mondö (s. u.) aus. Vgl. hierüber ausführlich Nose a. a. O. S. 149£f.
2 Übersetzt von Wilhelm Gundert, in Die japanische Literatur, WUdpark- Potsdam 1929, S. 21.
3 Vgl. m. Die Entwicklung der japanischen Poetik bis «ttm 16. Jahrhundert, Hamburg 1951 (hinfort zitiert ak JP), S. 89f.
Das japanische Kettengedioht 435
yöshü enthaltenen Gedicht den — wenn auch keineswegs bewußten —
Beginn der Äew^'a-Dichtung gesehen:
Sahogawa no Des Saho-Flusses
mizu seki-agete Wasser mühsam stauend hat
ueshi ta wo er das Feld bepflanzt —
dichtete die Nonne, und Yakamochi fuhr fort:
karu hatsu-ii wa wird bei der ersten Ernte
hitori narubeshi er immer noch ahe sein ?
Bedenkt man, welche hervorragende RoUe die Dichtung im geseUschaft-
hchen Leben der Heian-Zeit gespielt hat, wie sehr der Austausch von
Gedichten die hohe und eigenthche Form des gesehschafthchen Lebens
war, so begreift man durchaus, daß die Möghchkeit, hier imKurz-Äen^a
innerhalb emes einzigen Gedichts Zwiesprache zu halten, begrüßt und
geliebt wurde. Wir finden in der Tat das Kurz-Renga in der ganzen Heian-
Zeit ; im Ise-rrumogatari, im Kagerö-nikki, im Makura-söshi wie auch in
den Sammlungen einzelner Dichter.
Als eine Art von Vorstufe zum eigenthchen Kettengedicht, dem Kusari-
Renga, kann die — zum ersten Male im Shüishü auftauchende — Mög¬
lichkeit betrachtet werden, mit dem UnterstoUen zu beginnen imd einen
OberstoUen folgen zu lassen. Das Kusari-Renga, eine abwechselnde Folge
von 5—7—5 und 7— 7-sUbigen Strophen, kann dann als eine ganz natür¬
hche Weiterentwicklung dieser Möghchkeit aufgefaßt werden, zumal es
in der Tat Gedichte aus jener Zwischenzeit gibt, bei denen auf Unter- und
OberstoUen noch ein weiterer UnterstoUen folgt^. Das Kriterium, ob hier
eine echte Entwicklungstendenz auf das Renga hin vorhegt, muß darhi
gesehen werden, ob die dritte Strophe an die erste anknüpft, sich also
wieder zurückwendet oder nicht. Geschieht es nicht, ist sie bei aller Ver¬
bindung mit der ün: vorangehenden, zweiten Strophe selbständig, und
richtet sie fragend oder suchend den Bhck auf eine ganz neue Welt, so
liegt hierin das letzte — gewissermaßen „vorgeburthche" — Übergangs¬
stadium zum Renga hin. Es ist in der Natur des seinem Wesen nach in
sich geschlossenen japanischen Gedichts begründet, daß solche „offenen"
Gedichte nicht ins Leben treten konnten imd daher heute nicht mehr nach¬
weisbar sind; sie wären nur Zeugnisse eines unterbrochenen Schöpfungs¬
prozesses. Mit anderen Worten: da die Entstehimg des Kusari-Renga aus
rein japanischer QueUe nicht lückenlos belegt werden kann, muß die Mög¬
hchkeit durchaus zugegeben werden, daß der entscheidende Gedanke,
mehrere Strophen aneinanderzuhängen, der Beschäftigung mit dem chi¬
nesischen Lien-chü zu verdanken ist. In seiner weiteren Entwicklimg ist das
Renga aber zweifeUos vom Lien-chü beeinflußt worden. Obgleich zunächst
1 Vgl. das Gedicht : Nara no miyako wo, im Imakagaih, Bd. Hana no aruji.
436 Oscab Beni.
die Zahl der Äewg'a-Glieder im Beheben der Dichter steht, tritt bald die
Tendenz auf, diese Zahl auf die im Lien-chü üblichen hundert oder fünfzig
festzulegen. Seit Fujiwara Teika, der selbst ein ausgezeichneter Renga-
Dichter war, beginnt sich die Zahl Hundert richtig einzubürgern. Femer
wird die Bezeichnung hyaku-on "g" f| (chinesisch: po-yün) für das hun-
dertghedrige Kettengedicht von dort übernommen, obgleich es einen
Reim (chinesisch : yün) im Japanischen gar nicht gibt^. Und schließlich
ist auch das behn Renga übliche fushimono fl^ % dem lÄen-chü indirekt
wohl insofem zu verdanken, als es, wie es in der Poetikschrift Yakumo-
mishö heißt, ,,dem Reim entspricht", bzw. entsprechen sollte. hat,
wie die Poetikschrift Yakumo-kuden von Fujiwaea Tameie^ angibt,
die Bedeutung : wakachi-kubaru, d. h. verteüen. Darunter versteht man,
um ein Beispiel zu geben, folgendes : lautet das dem Renga stets gewisser¬
maßen als Motto vorangestellte fushimono ,, Vögel-Vierfüßler," so hat in
den folgenden Langstrophen ein Vogelname, in den Kurzstrophen der
eines Vierfüßlers aufzutauchen. Teika berichtet in seinem Tagebuch
Meigetsuki B tti ausführlich darüber. Durch diese thematischen
Begriffe erhielt die Dichtung eine gewisse Einheithchkeit', die im Lien-
chü ■— natürhch sehr viel wirksamer — durch den Reim garantiert war.
Oberster Grundsatz bei dem Kusari-Renga ist, daß jede Strophe mit
der ihr vorangehenden und der ihr folgenden sinngemäß verbunden ist,
gleichsam wie in einer Kette. Ferner muß jede Strophe gleichzeitig etwas
Neues geben, so daß sich die Atmosphäre des Renga unaufhörlich ver¬
ändert. Dies ist nun aber der grundlegende Unterschied zum chinesischen
Lien-chü, bei dem sich ahe Strophen um das gleiche zentrale Thema ran¬
ken. Die Forderung des zentralen Themas widerspricht dem Wesen des
japanischen Renga geradezu. Hier offenbart sich der im Grunde unter¬
haltende Charakter dieser Dichtungsform, in der nicht nur ein Thema
besungen wird, sondern jede Strophe eine neue Welt auf tut.
Diesen spielerischen Zug besaß das Renga vor allem in seiner Frühzeit.
Es diente einem hterarisch-gesellschaftlichen Spiel, das man, je mehr das
Tanka in festen Überheferungen erstarrte, zunehmend genoß, waren doch
der Phantasie und dichterischen Freiheit ganz neue und besondere Mög¬
hchkeiten gegeben. Neben dieses Renga, das sich mit Vorliebe witziger,
geistvoller Wortspiele bediente und daher auf dem Gebiet des Tanka mit
den im Kokinshü aufgenommenen Haikai zu vergleichen ist, steUte sich
1 Dabei ist femer zu bedenken, daß beim Lien-chü nur jede zweite Strophe (chü) reimt, während beim Renga jede Strophe (ku) als ,,Reim" (yün, japa¬
nisch: on) gezählt wird. ^ jp^ 93^
3 Über die verschiedenen Arten von fushimono, wie uwa-fu shita-fu
"fT jJU usw. s. FujiMOBA Saku ^ ^ ^,Nihon-bungaku.daijiten,Tö\iyö 1936^
Bd. 5, S. 549f.
Das japanische Kettengedichfc 437
sichtbar etwa seit der Zeit des Exkaisers Gotoba das hterarisch ernste
Renga, das als ushin ^ t^-Renga jenem mushin ^ ,^-Renga gegen¬
übergestellt wird. Selbstverständhch gibt es keine eigenthche Geburts¬
stunde dieses ushin-Renga, die beiden neuen Bezeichnungen treten aber
— nach einem Bericht im Meigetsuki — zum ersten Male im Jahre 1206
auf, wo bei einer Äewfifa-Veranstaltung am Hofe die Strophen der Dichter
des früheren Waka-dokoro als ushin und die von Dilettanten aus dem
Hochadel vorgewiesenen poetisch-witzigen Spielereien als mushin quali¬
fiziert werden. Wie das Tagebuch des Exkaisers Gotoba aus dem Jahre
1215 ersehen läßt, werden für diese beiden Richtungen oder ,, Schulen"
{ushin-sö ^ und mushin-sö) auch die Bezeichnungen Kakimoto und
Kurimoto gebraucht, wobei unter dem letzteren eme scherzhafte Verball-
hornung des ehrwürdigen Dichternamens (Hitomabo-no-)Kakimoto zu
verstehen ist. In der Poetikschrift Tsukuba-mondö (s. u.), das aus einer
Zeit stammt, wo das unernsthafte Renga von den Dichtern oft geradezu
verachtet wird, wird dann das ushin-Renga als das „gute und schöne"
Renga, das mushin-Renga geradezu als das „schlechte" bezeichnet.
Je mehr nun das alte Tanka an Kraft verlor, gewann dieses ushin-
Repga die begabtesten und feinsten Geister der Zeit. Zunächst dichteten
auch bedeutende TawÄ;a-Meister wie Fujiwaea Teika und Ietaka ge¬
legenthch Renga, dann aber erhob sich dieses mehr und mehr auf das
gleiche künstlerische Niveau wie das Tanka und verdrängte dieses
schheßhch. Dieser Entwicklung kam fördernd entgegen, daß das Renga
sich nicht etwa aus Minderwertigkeitsgefühlen wegen seiner niederen
Abkunft in einen feindlichen Gegensatz zum Tanka oder ganz ahgemein
zur klassischen Literatur stellte, sondern die Renga-Knnst die Pflege der
Tradition, also des alten Tanka und die Kenntnis der alten Monogatari
geradezu voraussetzte^, und diese beiden neben dem lebendigen oder auch
nur vorgestellten Naturerlebnis die wesenthchen Quehen der dichteri¬
schen Inspiration waren. Daß so hochgestehte Persönhchkeiten wie der
Exkaiser Gotoba und der begabte und rührige Kanzler Nijö Yoshimoto
sich dieser jungen Kunst gegenüber so begeistert zuwandten, brachte
dieser schließlich auch die ganze gesellschafthche Achtung ein, welche
man bisher dem Tanka gegenüber empfunden hatte. Die fast religiöse
Gläubigkeit, die man m jenen Jahrhunderten der Dichtkunst an sich
gegenüber fühlte, erstreckte sich dann auch bald auf das Renga. Wer
Renga dichtet, oder wem solche zugewendet werden, der siegt, so glaubt
man, in der Schlacht ! Man erzählte sich überah die berühmte Geschichte
1 Eme ReUie von i?engro-„Mei8tem" waren Kommentatoren klassischer
Werke. Vor allem die Kenntnis des Oenji-monogatari war für den Renga-
Dichter imumgänglich ; in jeder Äeng^a-Einheit mußte nach Vorschrift wenig¬
stens einmal auf das Genji-monotari angespielt werden.
438 Oscar Benl
von Imagawa Ujichika )\\ für den, als er 1505 in den Kampf
zog, der iJewgra-Meister SÖCHÖ (s. u.) in einem Schinto-Schrein in der Izu-
Provinz tausend i?e?ig^a-Strophen verfaßte, worauf Imagawa wahrhaftig
siegte. Und als der iJemga-Meister Kensai (s. u.) von einem Streit in der
Ashina^ -Famihe in Aizu vernahm, dichtete er hundert Strophen
Renga und siehe, Vater und Sohn versöhnten sich ! Man dichtete Renga
bei ahen möghchen privaten und öffenthchen Festlichkeiten, mochten es
Trauerfeiern oder Genesungsfeste oder was sonst auch immer sein. Wie
stark die iJewga-Leidenschaft war, können wir aus zeitgenössischen
Kyögen-VossQn ersehen, in denen sie verspottet wird. In einem dieser
Kyögen, dem Renga-töjin iE ^ A, entdecken zwei sich zur Nachtzeit
in ein Haus einschleichende Diebe in der Tokonoma-Nische einen Hokku-
Vers (s. u.), der sie spontan zum Dichten anregt, ja geradezu zwingt: sie
vergessen darüber das Stehlen. Der von den lauten Begeisterungsrufen
der beiden erwachende Hausherr ist nach einem kurzen Zornesausbruch
von dem so leidenschafthch dichtenden Besuch eher beglückt, er setzt
sich dazu, dichtet mit und entläßt sie am Morgen reich beschenkt.
2. Die Renga-Veranstaltung und die Regelbücher
Da die Renga-T^nnst zumeist in einer geseUigen Gemeinschaft geübt
wurde, war es unvermeidhch, daß sich für solche Veranstaltungen (kögyö
^7) eine feste Etikette herausbUdete. Die Zusammenkunft fand zu¬
meist unter einem BUd des Yamato-Takeku, den Äewsra-Ahnherrn, oder
des Dichters Hitomabo oder des Schutzgottes der Literatur, Michizane
statt. Die Hauptpersonen waren der angesehenste Dichter unter den
in einem Rechteck im Raum sitzenden Gästen, der sog. ,, Meister" {sö-
shö ^ E)> dem die höchste Entscheidungsmacht zustand, und der
,, Schreiber" (shuhitsu ^ |pE), der die Gedichte nach genau vorgeschriebe¬
nem ZeremonieU aufs Papier schrieb. An sich genügte auch einer der
beiden, wenn er die Funktion des anderen gleichzeitig mitausübte. Das
Amt des Shuhitsu war an sich das praktisch wichtigere : er entschied, ob
das Gedicht den Regeln entsprach, nur im Zweifelsfall griff der „Meister"
ein.
Im aUgemeinen ist schon vorher bestimmt, wer die wichtige erste
Strophe, das Hokku, gibt ; die Aufforderung wird meist an den Ehrengast gerichtet, gelegenthch wird es aber von einer dann gar nicht anwesenden
Autorität schon vorher eingeholt. Der Shuhitsu schreibt zunächst das
fushimono (s. o.) auf und wartet dann, daß das Hokku vorgelesen oder
vorgetragen wird: er hört es an, wiederholt es laut, worauf der „Meister"
das hierin erscheinende fushimono aufzeigt ; dann wiederholt der Shuhitsu
das Hokku, schreibt es auf, hest es noch einmal vor, und damit ist
es endgültig angenommen, und es ergeht die Aufforderung zur zweiten
Das japanische Kettengedicht 439
Strophe. Diese wird im ahgemeinen vom Hausherrn gedichtet; der
Shuhitsu prüft, ob sie ahen Regeln entspricht, wiederholt sie laut,
schreibt sie dann auf und trägt sie noch einmal vor. Dies ist gleichzeitig
die Aufforderung an den in der Reüienfolge nächsten TeUnehmer, die
dritte Strophe zu geben; schweigt jener, so wird durch nochmahgen Vor¬
trag der zweiten Strophe die Aufforderung dringlicher wiederholt; erfolgt
wiederum nichts, so ist die Reihe an dem nächsten. — Zu tausend Stro¬
phen benötigte man im ahgemeinen drei Tage, zu hundert einen.
Sehr viel komphzierter als diese Etikette sind aber nun die Regeln,
welche die einzelnen Strophen in Inhalt und Form betreifen. Um ein ein¬
heithches, harmonisches Gebilde, ein wirkhch dichterisch abgewogen
Ganzes gemeinsam gestalten zu können, war es unumgänghch, die Frei¬
heit oder Willkür der emzelnen Teihiehmer zu beschränken. So kam es,
besonders seit der AusbUdung des ushin-Renga, aUmähhch zu einer, zu¬
nächst nicht überall emheithchen Reihe von Vorschriften, deren Beach¬
tung natürlich keineswegs das Zustandekommen eines guten Gedichts
garantieren konnten, aber doch etwas für das beim Renga notwendige Maß
von Harmonie und Wechsel sorgte. Es würde zu weit führen, die im Lauf
der Zeit schier unübersehbar gewordenen Vorschriften hier auch nur
überschlagsweise zu skizzieren; die weiter unten folgende Betrachtung
einiger Strophen aus einer iien^o-Veranstaltung wird zeigen, worum es
im allgemeinen ging. Obwohl der Shuhitsu bei jeder Strophe auch darauf
sah, ob sie ganz für sich betrachtet in der Form und Idee gut war, so war
es doch nicht weniger entscheidend, ob sie harmonisch an die voraus¬
gehende anschloß und zu gleicher Zeit einen ganz neuen Ton anschlug.
Ferner war von Bedeutung, ob es sich hierbei um die erste, zweite, dritte
oder die letzte Strophe handelte; je nachdem gab es verschiedene Vor¬
schriften zu beachten. Eine endlose Zahl von Regeln bestimmte, wie oft
ein Motiv innerhalb des Ganzen oder in aufeinanderfolgenden Strophen
erscheinen durfte oder mußte.
AU diese Vorschriften waren und erwiesen sich umso notwendiger, als
nicht nur hervorragende Dichter, die ja oft imbewußt, aus ihrem künst¬
lerischen Instinkt heraus auf Maß und Gleichgewicht ihrer gemeinsamen
Schöpfung achteten, sondern auch — ganz einfach begeisterte — DUet-
tanten sich dieser Kunst zuwandten. Zum anderen ist klar, daß die große
Freiheit, die das iJengo-Dichten gab, eines besonders festen Gegenpols
bedurfte, damit das Ganze nicht zerfloß.
Wo die Anfänge dieser Regeln, der sog. shikimoku ^ g , hegen, ist
heute nicht mehr festzusteUen, sie gehören aber jedenfaUs noch der Kama¬
kura-Zeit an. Nach der Poetikschrift Tsukuba-mondö ist Fujiwaea Ta¬
me yo 0 1^ W der Verfasser des nachher so berühmt gewordenen
Kenji-shikimoku ^ ^ g oder einfach Shinshiki Schon
440 Oscar Benl
etwas vorher muß das Honshiki äS; von Fujiwaea Tameuji MW-I^^
verfaßt worden sein. Und kurz nach dem Shinshiki schrieb Fujiwaea
Tamesuke 01^ ^ i=9 dsisFujigayatsu no Shinshiki ^ M durch
das sich die iJe?ig^a-Dichter von Kamakura bewußt von Kyöto absetzen
wehten. Als eine Art Gegenstück hat dann dort Fujiwara Tamefuji ^
M M eine Sammlung von Vorschriften herausgegeben. Angesichts
dieser Vielzahl von mannigfaltigen Regeln, war es nur zu natürhch, daß
man sie zu vereinheithchen suchte. Diese Sehnsucht erfüllte Nuö Yoshi¬
moto (s. u.), der auf der Grundlage des eben erwähnten Shinshiki in der
Öaw-Periode (1368—1375) das Oan-shinshiki JÜ ^ ^If ^ im Jahre 1372
verfaßte. Unter dem Shinshiki-koh'an ^itr ^ ^ versteht man die von
NijöKaneyoshi IZi^jfSt^ 1452 hinzugefügten Bemerkungen über die im
Oan-shinshiki nicht ganz klaren Punkte. Die in der Folgezeit erschienenen
Begelbücher fußen ahe darauf, obgleich kleine Veränderungen oder Er¬
weiterungen ständig dazukamen.
3. Die ersten Strophen
aus dem Minase-sangin-hyakuin Renga
Im folgenden soll nun ein berühmtes Renga als ein Beispiel dieser
Kunstgattung vorgeführt und dabei gleichzeitig einige dieser Regeln
praktisch aufgezeigt werden. Es ist dies das berühmte und jahrhunderte¬
lang als Vorbild geltende Renga, das der Meister SÖGi (s. u.) mit seinen
damals nicht minder angesehenen Schülern SöCHö (s. u.) und Söhaku
(s. u.) in dem Ahnenschrein des Exkaisers Gotoba zu Minase gedichtet
hat: das sog. Minase-sangin-hyakuin 7]C Ä iS^ H W hundert, von
drei Dichtern verfaßte Renga-Strophen von Minase. Die drei bemühten
sich hier, in Erinnerung an den für das Renga so begeisterten Exkaiser
etwas ganz besonders Treffhches zu leisten^.
Die Anfangsstrophe (hokku ^ ^) ist die eigenthche Grundlage. Ihre
Quahtät bestimmt zumeist das Niveau des Ganzen, ihre Intensität und
Stimmung haben die Anwesenden zu inspirieren. Sie stammt hier von SÖGi
und lautet :
yuki nagara Während noch Schnee liegt,
yamamoto kasumu hüllt den Bergfuß Dunst ein,
yü ka rm zur Abendstunde*.
1 Vgl. Yamada Yoshio, Renga-gaisetsu (s. c), S. 3öff., 233£f.
^ Die Übersetzung der hier zitierten sechs Renga- Strophen ist von Wilhelm Gundert, in: Die japanische Literatur, a. a. O. S. 92.
3 Der das fushimono enthaltende Titel lautet: fSJ A 3i ^ fushimo¬
no also lautet : nani hito jpj A» mid ist ein sog. uwa-fu fl^(8. S. 436 Anm. 2);
daa bedeutet: das Zeichen A nmQ hinter ein passendes Wort des Hokku ge-
Das japanische Kettengedicht 441
Das Hokku geht — nicht ohne Grund, denn dieses Renga-JUchten
fand ja in ehrendem Andenken an den Exkaiser Gotoba statt — auf ein
Gedicht von Gotoba-In zurück, das er in der Genkyü-Periode (1204 bis
1206) in seinem Minase-Palast verfaßt hatte. — Drei Grundsätze gelten
nun für das Hokku. Es muß unbedingt die Jahreszeit, in der das Renga-
Dichten stattfindet, möghchst auch die Tageszeit zum Ausdruck kom¬
men^. Die VorsteUung einer bestimmten Jahreszeit erfüUt ja gerade den
Japaner — damals wie heute — mit einer Fülle von Bildern und Empfin¬
dungen, die zum Weiterdichten anregen. Ein Hokku, welches die Jahres¬
zeit nicht deuthch erkennen läßt, ist unmöghch. Bei dem vorhegenden
Renga, das im ersten Monat abgehalten wurde, handelt es sich um den
Frühhngsbeginn : während noch Schnee hegt, hängt schon Frühhngsdunst
an den Bergen. — Sodann soU, wenn irgend möglich, auch der Ort, an dem
gedichtet wird, zu erkennen sein. Auch diese Forderung wird hier gut er¬
füUt, denn das Hokku ist ja dem Tanka nachgebUdet, welches die Land¬
schaft um den Minase-Palast besingt. — Schheßhch muß das Hokku
nicht nur in dem Gedanken, sondem auch in der Form abgeschlossen sein.
Als Beweis dieses äußeren Abschlußes gilt im aUgemeinen das sog. kireji
^ : zumeist die Ausrufe ya oder ka na. Es genügt aber auch, wenn
etwa das Verbum in der Schlußform steht.
Die zweite Strophe (früher juin A ü, später aUgemein umki no ku
CO oder einfach waki) stammt von Shöhaku und lautet:
yuku mizu toku Fern an Wassers Lauf duftet
ume niou sato in Pflaumenblüten ein Dorf.
Das Waki setzt das Thema des Hokku fort ; es nimmt dieses auf und
führt es weiter. In dem eben zitierten Hokku ist die Landschaft nicht
sehr deuthch, daher wird sie hier etwas beschrieben. — Die Jahreszeit
darf von der des Hokku nicht verschieden sein; die „Pflaumenblüten" be¬
deuten in der Tat den Frühhng. Bei aller harmonischen Verbindung mit
dem Hokku, darf das Waki grundsätzhch nicht als bloßes Anhängsel wir¬
setzt werden köimen, hier: yama, also yamabito. Im Jahrhundert dieser
iJengra-Veranstaltung brauchte das fushimono nur mehr im Hokku berück¬
sichtigt zu werden.
1 Für die Wichtigkeit der Jahreszeit im Hokku bringt das Azuma-mondö (s.
u.) ein hübsches Beispiel. Als die auch im Benga-Diohten geschickte Nonne
Abutsu (die Verfasserin des Izayoi-nikki) nach Kamakura kam, wo das
Renga nicht weniger leidenschaftlich betrieben wurde als in der Hauptstadt, wurde sie um ein Hokku gebeten. Es war gerade der letzte des neunten Monats
und so dichtete sie einHokku lediglich des Sinnes: „heute ist Herbstende ge¬
worden" und die begeisterten Leute dichteten 99 Strophen dazu. Am nächsten
Tag, dem kalendermäßigen Winteranfang, wurde sie wiederum um ein Hokku
gebeten imd sie dichtete zu allgemeiner Begeisterung und Befriedigung ein
Hokku des Inhalts: „heute hat der Winter begonnen".
442 Oscab, Benl
ken, es muß gleichzeitig den Ausbhck auf etwas ganz Neues öffnen. For¬
mal endet das Waki meist mit einem Tatgrew-Wort.
Die dritte Strophe (dai-san stammt von Söchö und lautet :
kawakaze ni Vom Flußwind bewegt
hitomura yanagi eine Weidenbaumgruppe:
haru miete man sieht den Frühling.
Die dritte Strophe erfordert noch viel mehr Sorgfalt als die zweite ; sie
ist nach dem Hokku die wichtigste des ganzen Renga. Wie jede Strophe
muß auch sie mit der ihr vorangehenden in Verbindung stehen, doch darf
dies nicht zu intensiv sein. Sie muß gleichzeitig etwas völlig Neues geben.
Das Wesen des Renga besteht aus Harmonie und ständigem Wechsel:
dieser Wechsel beginnt fühlbar mit der dritten Strophe, und so empfiehlt
sich hier ein möghchst suggestives Büd. — Die durch die „Weidenbaum¬
gruppe" angedeutete Jahreszeit ist auch hier der Frühling. Dies entspricht
der Regel, nach der die beliebtesten Jahreszeiten, Frühling und Herbst,
in mindestens drei — höchstens in fünf — Strophen nacheinander besun¬
gen werden müssen. Weniger lange bei ihnen zu verweilen, würde die bei
ihrer VorsteUung aufquellende FüUe der Empfindungen vorzeitig ersticken .
Die vierte Strophe stammt wieder von SÖGi und lautet :
fune sasu oto mo Bis zu der Boote Geräusch
shiruki akegata ahes ein Weiß: ein Morgen!
Die dichterische Gewalt der dritten Strophe fordert von der vierten
Verhaltenheit, einen sanften Ton, der sich dem nur langsam verkhngen-
den der dritten harmonisch zugeseUt. — Der formale Abschluß geschieht
im aUgemeinen durch ein Taigen-Wort, sehr oft aber auch dvu-ch Verb-
Endungen wie -keri und vor ahem durch nari. — Für die sachgemäße Be¬
urteilung der hier vorliegenden Strophe, welche im übrigen keine Jahres¬
zeit enthält (also ein sog. zö no ku^ 0 'fe] ist), sind die Begriffe tai
und yö j^^^, die man etwa mit Träger und Funktion übersetzen könnte,
von Bedeutung. In der 2., 3. und 4. Strophe tauchen Begriffe auf, die mit
der VorsteUung des Wassers verbunden sind (yuku mizu, kawakaze, imd
nun: fune sasu), nach der Regel ist dies bei der Gruppe „Wasser-Wörter"
auch bis zu drei aufeinanderfolgenden Strophen erlaubt. Nun versteht
man hier unter tai etwa Wörter wie kawa, umi, ura, fune usf., und unter
yö etwa nami sowie alle Verben, die mit dem Wasser zusammenhängen.
Verboten ist die Reihenfolge: tai, yö, tai oder yö, tai, yö, und zwar unter
dem Gesichtspunkt des beim Renga wichtigen Prinzips des sog. rin'e ^
JPI, nach dem zur Vermeidung von Gleichförmigkeit die „Rückkehr" auf
1 Sie spielen auch in der A'^ö-Theorie Seami's eine Rolle, vgl. m. Seami Motokiyo und der Geist des Nö-Schauspiels, Wiesbaden 1953, S. 75.
Das japanische Kettengedicht 443
Gleiches verboten ist. Im vorliegenden Falle ist aber die Reihenfolge
yö, tai, tai gegeben und so ist nichts dagegen einzuwenden.
Die fünfte, von Shöhaku gedichtete Strophe lautet:
tsuki ya nao Der Mond, er wird noch
kiritvataru yo ni in nebeldurchzogener Nacht
nokoruran am Ende bleiben.
Die fünfte Strophe nimmt grundsätzhch die dritte als Vorbüd, sie soll
ein fesselndes und beschwmgendes Bild geben. In der eben zitierten
Strophe wird der Mond besungen, was, wie die Vorschriften lauten, bei
hundert Strophen nicht weniger als achtmal geschehen soll. Die darauf¬
folgende Strophe muß — nach der Regel — den Herbst besingen, denn
der Gedanke an den Mond bringt unweigerhch die Vorstellung des Herbst¬
mondes, also des Herbstes, mit sich.
Die sechste Strophe, die Söchö verfaßte, lautet :
shimo oku nohara Aus der bereiften Heide
aki UM kurekeri ist der Herbst nun entschwunden.
Wie erwartet, ist es ein Herbstgedicht, was nicht niu- aus dem Worte
aki, sondern auch aus shimo hervorgeht. Der Reif gehört, wie auch etwa
der Schnee, zu den sog. furimono [5^ emer Begriffsgruppe, bei der ge¬
nau festhegt, wieviele Strophen bis zur Erwähnung des nächsten Wortes
aus der gleichen Gruppe dazwischenhegen müssen. Es sind dies bei den
furimono, wie auch bei den sog. sobikimono ^ zu denen etwa der
Nebel (kiri) der fünften Strophe gehört, drei Strophen. Hier hegen zwi¬
schen yuki der 1. Strophe und shimo dieser 6. Strophe ganze vier, daher
ist nichts dagegen einzuwenden.
Aus Raummangel mögen diese sechs Strophen genügen. Die ersten
zehn, unter ihnen wieder die ersten drei Strophen sind die wichtigsten.
Auch für die letzte, das sog. ageku ^ -fej, gelten besondere Vorschriften.
Die nicht durch eine besondere Bezeichnung hervorgehobenen Strophen
heißen hiraku zp 'fej.
4. Die JSewgia-Poetik
Die iJewfira-Poetik entwickelte sich verständlicherweise erst, als das
ushin-Renga entstand, das Renga also^als eine ernsthafte Kunst ebenbür¬
tig neben das Tanka trat. Die ersten Ansätze finden sich bereits in der
bewußten Schaffung einer eigenen Äe?2^a-Abteüung in der Sammlung
Kinyöshü, sowie in kurzen, meist beiläufigen Bemerkungen in Tanka-
Poetüien wie Toshiyori-zuinö ^ |g ^ Hg, Fukuro-söshi ^ #: ^, Waka-
iröha-shü %^^^M sowie vor ahem im Yakumo-mishö
1 JP, S. 43, 50, 69.
444 Oscar Benl
Die einzelnen Stadien dieser Entwicklung zu verfolgen, überschreitet lei¬
der den Rahmen dieses Überblicks, und so soh nur kurz angedeutet wer¬
den, daß schon im Toshiyori-zuinö die formale und inhaltliche Selbstän¬
digkeit des Hokku gefordert wird, der Begriff des Kusari-Renga im Fuku¬
ro-söshi bereits aufzuleuchten beginnt, während er dann im Yakumo-
mishö schon deuthch erfaßt wird. Im Yakumo-mishö wird auch schon
eine Reihe konkreter Verbotsvorschriften gegeben, zum ersten Male ist
hier etwa von dem fushimono die Rede, das damals noch in jeder Strophe
beachtet werden mußte, während es ja später nur mehr das Hokku be¬
traf. In dem Jahrhundert vom Yakumo-mishö bis zu Nuö Yoshimoto
liegt dann die erste große Blütezeit des Renga: die Namen der Renga-
Meister Zen'a ^ pU, den Nuö Yoshimoto mit Li T*ai-po vergleicht, und
seines Schülers Gusai |Sc ^ besaßen eine weithin strahlende Leuchtkraft.
Nuö Yoshimoto H fi^ ^ ist der eigenthche Schöpfer der Renga-
Poetik. Angesichts der zusehends erstarrenden Tarefca-Kunst, wohte er
das junge und freie Renga zur Herrschaft bringen, und er verwandte seine
ganze Autorität und Leidenschaft für dieses Ziel. Zur Ermutigung gab er
1356 die erste Äewg^a-Sammlung, das Tsukubashü JJf zusammen
mit Gusai (s. o.) heraus, in dem er mit sicherem Geschmack anregende
Vorbüder ausgewählt hatte. Er schrieb aber vor ahem eine große Reihe
echter Poetikwerke, unter denen das Renri-hishö M M. ^itt iP (1349), das
Tsukuha-mondö ^ PpJ ig- (1372) und das Kyüshü-mondö ;Ai P«^ ^
(1376)' wohl die bedeutendsten sind; von dem berühmten Regelbuch
Oan-shinshiki war oben schon die Rede. Seine Poetik-Auffassungen sind
umfangreich und bedeutend genug, um einmal gesondert dargesteUt zu
werden ; im Augenbhck bedarf es leider der Beschränkung auf das AUer-
wesenthchste. Bezeichnend ist für ihn der starke Nachdruck, den er auf
die unermüdhche Übung in der Renga-Vi.unst legt; man sieht, wie sehr
ihm das Aufblühen des Renga, das bis dahin den meisten nur als ein
dichterisches Getändel erschienen war, am Herzen lag. ,,Das Renga muß
aus dem Herzen kommen, und jeder muß es von selbst erlernen, kein
Lehrer vermag es ihm beizubringen!" heißt es etwa im Renri-hishö. Die
leidenschaftliche Hingabe an das Lernen und Üben ist die Grundlage;
steht die fest, dann möge man sich, wie er im Renri-hishö empfiehlt, unter
^ JP, S. 106. vgl. vor allem die ausführhche Studie von Fukui Kyüzö
Nuö Yoshimoto, Tökyö 1943.
2 Diese nach dem Muster des Kokinshü mit einer japanischen imd chinesi¬
schen Vorrede versehene und aus 20 Bänden bestehende Sammlung erhielt
1357 sogar den Rang einer offiziellen Anthologie. Die Tradition der offiziellen
rawfca-Anthologien war ja 1493 mit dem Shin-Zoku-Kokinshü abgebrochen
worden.
3 Ausführlich kommentiert von Nose Asaji in der Zeitschrift Kaishaku to
Kanshö 1951/52.
Das japanische Kettengedicht 445
die Meister mischen, um im Umgang mit ihnen weiter zu lernen. Diese
leidenschaftliche Hingabe ist das suki WL ^, über das er im Tsukuba-
mondö genauer schreibt. In der Frage, ob Gefühl oder Ausdruck (kokoro
oder kotoba) Vorrang besäßen, nimmt er ganz die Tradition der Tanka-
Poetik auf Das Spiel mit Worten macht, wie er im Renri-hishö sagt,
keineswegs das Wesen des Renga aus, obgleich man natürhch die Worte
- sorgfältig prüfen und wägen muß. „Im Wortausdruck soh man die Blüte
mitten in der Blüte, die Perle mitten in der Perle suchen!" Wie ernsthaft er ah dies meint, zeigt seine große Wertschätzung der „poetisch richtigen"
Teniux)ha-V&rii^e\, für die er in den Schriften Gekimökuhö |g ^ 'fej fi
(1358) und Chirenshö Ü # (1374) konkrete Beispiele bringt. Es hegt
auch ganz in dieser Linie, wenn er m seinen Spätwerken die Einrichtung
der fushimono, die er in seinen frühen Schriften noch gelegentlich gestreift
hatte, überhaupt nicht mehr erwähnt; die eigenthche Bedeutung der
fushimono als vereinheithchendes, den chinesischen Reim vertretendes
Prinzip war ja bereits vergessen ; die Aufgabe, in das Renga als Kunstwerk
äußere und damit auch innere Ordnung zu bringen, wurde nunmehr und
in einem sehr viel intensiveren Ausmaß durch die Vorschriften der Regel¬
bücher erfüllt. Für die Formuherung seines stüistisch-ästhetischen Ideals
gebraucht er ganz die Termmologie der ToTifca-Poetiken. Er verehrt die
Schönheit des yügen ^ ^, unter dem er das Vornehm-Sanfte versteht^;
neu ist bei ihm der Begriff des kakari^, das etwa dem sugata der Tanka-
Poetüc entspricht. — Bedeutsam ist nicht zuletzt seme historische Be¬
trachtungsweise des Renga, wie sie bereits im Renri-hishö, aber vor ahem
sehr ausführlich im Tsukuba-mondö zum Ausdruck kommt. Er unter¬
scheidet drei Entwicklungsstufen: die alte Zeit mit den aUerersten Renga,
die mittlere, die Heian-Zeit, und schheßlich die neue, die Kamakura-Zeit,
vor allem mit Fujiwara Ietaka. Hier, in den i?e7igra-Auffassungen voii
Nuö YosraMOTO taucht zum ersten Male ein geschichthches Bewußtsein
auf.
Nach dem großen Aufschwung des Renga unter Nuö Yoshimoto trat
ein bereits während seines Lebensabends erkennbarer Verfall ein, der vor
ahem durch die formalistische Auffassung des iZe^j^ra-Meisters Shu'a ^
ppj bewhkt wurde. Shinkei (s. u.) vergleicht ihn geradewegs mit dem
barbarischen Tyrannen des chinesischen Altertums Chieh Ig». Nach Shu'a
erfolgt ein erneuter Aufschwung durch und unter Boittö-an(shu) ^ ^
1 Über diesen auch m der JVö-Theorie von Seami bedeutsamen Begriff
e. Nose Asaji, Kakari no geijutsuteki aeikaku, m der Zeitschrift Yügen,
Heft 3 und 4. " Vgl. Nose Asaji, Yügen-ron, Tökyö 1944, S. 147 f.
» Auch Imagawa Ryöshun (s. u.) führt m semer Poetik Rakuaho-roken
(s. u.) den Verfall auf Shu'a zurück, von dessen Lebensdaten übrigens kaum
etwas bekannt ist.
29 ZDMG 104/2
446 Oscab Benl
l\
^ der am Hof der Shögune Ashikaga Yoshimitsu und Yoshimo-
chi tätig war. In seinem Hauptwerk, dem Bontö-an hentösho ^ ^ ^ jg
^ (1417) berichtete er über die Entwicklung des Renga, über hervor¬
ragende Gedichte und Dichter. Weder hier noch in seinen anderen Poeti¬
ken bringt er wirkhch Neues; er hält sich getreu an Yoshimoto's Auf¬
fassungen.
Der der Reizei-Schule nahestehende Imagawa Ryöshun Jlj "J f^i
schrieb mehr über das Tanka, interessierte sich aber auch für das Renga,
besonders in seinen Schriften Rakusho-roken ^ ^ M M (1417) und
Benyöshö ^^i'jf (1409). Er lernte wie Bontö-an bei Shu'a und Yoshi¬
moto und richtete sich ganz nach letzterem. Er trat mit besonderem
Nachdruck für die Gleichberechtigung des Renga ein.
Der iJewgra-Meister Sözei ^ war wie sein Lehrer Bontö-an mehr
Dichter als Theoretiker. Immerhin verfaßte er am Ende der Öei- oder An¬
fang der Eikyö-Periode (1429—1441) — jedenfaUs in dem Jahre nach
Bontö-an's Tod — sein erstes Poetikwerk Shoshin-kyüeishü ijj» ^ I6c
in dem er vor aUem über Bontö-an und dessen Auffassungen berichtet.
Inder Schrift Äawa wo mogfaH^ CT) ^ i> |! (1452) legt er das dichterische
Werk von vier Äeng-a-Meistem (Gusai, Ryö'a ^ psf, Shu'a und Bontö-
an) dar, bedient sich hierbei aber ganz der Terminologie der Towfca-Poeti- ken Guhishö vmd Sangoki, was wohl auf den Einfluß seines TawÄia-Lehrers
Shötetsu jE zurückgeht. Bezeichnend ist für ihn sein starkes Inte¬
resse für die formale Seite; die Begriffe kotoba und kakari spielen in seinen
UrteUen eine wesenthche RoUe*. Besonders in seiner Schrift Mitsudenshö
^ ^pjf betont er die Wichtigkeit der Teniwoha-Vartikel für die Schön¬
heit des Renga. „Ein Renga ohne (poetisch richtige) T'eniwoha ist wie ein
nackter Mensch" heißt es da etwa.
Unter dem Zen-Mönch Shinkei >ji^ erlebte die Dichtung und auch
die Poetik des Renga eine großartige Tiefe. Bei Sözei lernte er das For¬
male, bei Shötetsu den Geist der Dichtimg ; im übrigen verehrte er die
.Rew^a-Meister Gusai und Bontö-an. Während Nuö Yoshimoto mehr für
Anfänger schrieb, wandte sich Shinkei an die angehenden Meister. Er
erkannte in Tanka und Renga keinen Unterschied mehr. Das wahre Dich¬
ten ergrefft den ganzen Menschen, seine Wurzel hegt im Rehgiösen. Es ist
1 JP, S. 109f.
^ Über sem Leben berichtet Kaneko Kinjibö ^ ^ ß|5 üi Kokugo-
kokubun 7, Bd. 4. » JP, S. 112ff.
* Wie aus dem Nachwort zu dem Shinshiki-kon'an (s. o.) von Ichijö
Kaneyoshi hervorgeht, machte er sich auch sehr um die Festlegung der
iJeng^a-Regeln verdient ; er war bei der Zusammenstellung dieses Werkes auch beteiligt.
» JP, S. 121ff. Vgl. über ihn die hervorragende Studie von Abaki Yoshio
ltt.^kW.' Shinkei, Tökyö 1948.
Das japanische Kettengedicht 447
bezeichnend für ihn, daß er semen Lehrer Sözei als em bloßes Weltkmd
tadelte, das nichts von der Vergänghchkeit des Lebens und von Buddhas
heUigem Gesetze weiß. Auch die Begriffe yügen und en sind wesenthch ^
rehgiös bestimmt; das poetische Ideal ist von dem, was der Dichter m
seinen tiefsten Augenbhcken von der Welt hält, gar nicht zu trennen. Im
Sazamegoto (1463) heißt es: „Wer m diese Kunst eindringen wül, muß
sich, so heißt es, vor ahem um das en bemühen. Dieses en hegt aber durch¬
aus nicht in einer weichen Sanftheit der Gestalt (sugata ) und der Worte
der Verszeilen, sondern es müssen Verse aus der Brust emes Menschen
sein, bei dem in Gestalt und Worten seiner Dichtung die menschhchen
Begierden kaum mehr vorhanden smd und der wahre Liebe zu ahen We¬
sen empfindet, Verse eines Menschen, der empfangenes Zutrauen nicht
vergißt, sondern ohne Bedauern bereit ist, für das Wohlwohen des anderen
mit der Hingabe des eigenen Lebens zu danken. Die Gedichte der Leute
aber, die ihre Gefühle schmücken, wirken, wie weich und sanft auch Ge¬
stalt und Worte beschaffen sem mögen, für die Ohren der wahren Men¬
schen doch wie em Betrug". In der Poetütschrift Hitongoto (vermuthch
aus dem Jahre 1472) zitierte er den chinesischen Dichter Hsü Huk t^,
der in seinem Leben nur das Wasser besungen hat, und er fügte hinzu:
„Wahrhaftig, es gibt nichts von tieferem und remerem Gefühl als das Was¬
ser!" Die kühle, zarte, farblose und doch suggestive Schhchtheit ist die
einzig wahre Haltung im Leben und in der Kunst. Nach dem Shinkei-
sözu-teikin -6 ft ß fH unterschied er drei Stufen des dichterischen
Werdegangs, ihre letzte und höchste ist — im Tanka wie im Renga — das
hie-yase, die kühle, verhaltene StiUe.
Der Renga-UeiBter SÖGi ^ jjgi erreicht nicht die Tiefe von Shinkei,
dessen Schüler er war; er ist aber andererseits vielfältiger als jener. Nicht
eigenthch hervorragend begabt, erlangte er diu-ch sorgfältiges und gedtd-
diges Üben eine erstaunliche Fertigkeit im Dichten. Von umgänghcher,
weltzugeneigter Art sammelte er ahes um sich, was dichterische Begabung
und Leidenschaft besaß, und er galt und güt als der Mann, unter dem die
Äewg'a-Kunst ihre höchste Blüte erreicht hat. Unter Mitarbeit von Ken¬
sai (s. u.) gab er 1495 die zweite, große Äen^a-Anthologie, das Shinsen-
Tsukubashü ^r^^ S5C Ä heraus. Von semen Poetüiwerken sind das
Azuma-mondö ^ ^ Pp^ ^ (1467) und das Oi no susami ^ CT) ^
(1479) besonders zu nennen. Er äußert darm kerne neuen Gedanken, ruht
mehr oder weniger auf der Tradition von Nuö YosinMOTo und den Ideen
Shinkei's, trifft aber immerhin in seinen Formiüierungen jeweils das We-
1 Über sein Leben und Werk vgl. Hisamatsu Sen'ichi ^ }|| „ Nihon-
bungaku-hyöron-shi,Shikaron-hen, Tökyö 1950, S. 163ff., Yoshizawa Yoshi-
nobi ^ # ^ Ilj, Muromachi-hungaku-shi (üi: Nihon-bungaku-zenshü),
Tökyö 1936, S. 355ff.
448 Oscar Benl
sentliche. Seine Stü-UrteUe halten sich ganz im Rahmen der Tawjfca-Poetik ;
sein yügen-Begrifi ist dem ihm wesensverwandten aber tieferen Shötetsit
nahe. Berühmt ist seine DarsteUung der geschichthchen Entwicklung des
Renga. Er bezeichnet dessen Situation vor Nuö Yoshimoto als Vorstufe,
und unterscheidet dann drei Perioden: die Zeit von Yoshimoto, Gusai
und Shu'a, wo die Grundsätze und Maßstäbe geschaffen werden, nach
denen fortan Renga gedichtet wurden und das Renga seine praktische
Gleichstellung mit dem Tanka erreichte, — sodann die mittlere Epoche
mit BoNTÖ-AN, welche das Angefangene fortsetzt, und schließhch die
Gegenwart ab SÖGI selbst : sie versucht eine Wiedererweckung der ersten
Periode.
Kensai ^ war ein SchiUer von Shinkei und Sögi. Begabt, eigen-
wiUig und gar nicht geselhg, ohne allerdings Shinkei's ganze Tiefe zu
besitzen, wurde er nach dem Tod SÖGi's fast wie jener geschätzt, von der
Nachwelt aUerdings fast vergessen. Seine Äewgra-Auffassung, die im wesent¬
hchen auf der von Shinkei fußt, ist im Kensai-södan ^ %^ ent¬
halten. In der Schrift Wakakusa-yama ^ ^ iJj berichtet er über alte
und neue Stilarten und betont sehr den Wert hingebender Übung, in
Usubana-zakura W- ^ ^ schreibt er über iJewgra-Wörter und aUgemein
über den dichterischen Ausdruck.
Die Renga-T?oeük hat zweifellos in Shinkei ihren Höhepunkt erreicht,
unter Sögi und Kensai wurde sie traditionahsiert. In der Poetik wurde
fortan kaum mehr etwas geschaffen, was Erwähnung verdiente. Von
den Zeitgenossen Kensai's sollen nur noch Shöhaku ''^ der sich wie
Kensai auch um die i?e?ij7£i-Etikette und -Regeln bemühte, und schhe߬
hch SÖCHÖ ^ ^ genannt werden, Söoi's getreuester Schüler, der nicht
nur in Renga, sondem auch in ausgezeichneten Reisetagebüchern seine
hohe dichterische Begabung erwies und vermuthch Verfasser^ des Renga-
hikyö-shü jiE J:fc -Jl Ä ist, einer praktischen Gebrauchsanweisung zum
Renga-Jiichten; in seiner Poetikschrift Ame-yoru noki^'^^O) gji fußt er
ganz auf Sögi, in seiner Vorliebe für StUle und Versunkenheit erweist er
sich als echter Nachfahr Shinkei's.
Das Renga-shihöshö i£ ^ M ^ (s. u.) des iJewgra-Meisters ShÖha ^
E,' unddasMugonshö M W fJ? (1580) vonÖGÖ Jjg ^ sind keine PoetUien
mehr, sondern einfache Regelbücher. In dieser Zeit zerfiel das alte Renga be¬
reits. Man könnte auch sagen, es kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück,
es wurde literarisches Spiel. Es entstand das witzige, parodistische Renga,
das Haikai no Renga oder einfach Haikai genannt wurde, aus dem sich
dann schheßhch das Haiku entwickelte.
1 Hisamatsu a. a. O. S. 175f.
2 VieUeicht kommt auch Kensai (s. o.) als Verfasser in Frage.
3 Verfasser des Kommentars zum Genjimonogatari: Shöha-shö ^
Das japanische Kettengedicht 449
5. Die Kettendichtung als japanische Kunstform
Wie kam es, daß die Kunst des Renga, die von manchen von uns keines¬
wegs als notwendig empfundene Aneinanderreihung von mehr oder
weniger selbständigen Strophen, in Japan jahrhundertelang begeistern
konnte ? Worauf beruht die Eigenart, die Schönheit, die Kunst des
Renga ? Sie hegt keineswegs nur in der dichterischen Kraft der einzelnen
Strophen, die in drei oder zwei Zehen gefaßte Prägnanz der Empfindun¬
gen und Büder, sondern vor ahem in der Art und Weise, wie die verschie¬
denen Strophen sich aneinanderreihen, sich ineinanderfügen, wie in rei¬
cher Fühe immer neue Büder aufeinanderfolgen. Wir können das künst¬
lerische Erlebnis des Renga etwa mit Musik vergleichen, wo in ähnhcher
Weise in natürhchster Anmut Wunder aus Wunder quillt, — oder mit
einem großen,kostbaren Gewebe, auf dem in bunter Menge Muster aus Mus¬
ter sprießt. Da es sich beim Renga fast immer um Naturlyrüi handelt, mag
es damals manch einem unterhaltend wie auf einer Reise vorgekommen
sein, wie auf einer Flußfahrt durch das Märchenland der Wirklichkeit.
Phüosophisch oder rehgiös gestimmte Gemüter mögen etwas von der
Vergänglichkeit und dem Geheimnis der Welt empfunden haben, wie da
Bild um Büd flüchtig und unvergeßlich schön an ihnen vorbeizog.
Die große Kunst des i?enga-Dichters bestand darin, mit sicherem Ge¬
fühl für Harmonie und Wechsel die jeweüs vorangegangene Strophe so zu
erfassen, daß sich für ihn seine Strophe wie von selbst ergab. Renga-
Dichten hieß keinesfaUs etwa, mit Assoziationen auf Anregungen zu rea¬
gieren. Und außerdem mußte ständig die harmonische Emheit des Gan¬
zen gewahrt bleiben; nicht nur jede Strophe für sich und im Zusammen¬
klang mit der vorausgehenden und nachfolgenden, sondern auch das
Ganze, aUe Strophen insgesamt mußten dichterisches Kunstwerk sein.
Man begreift, daß das iZen^a-Dichten an jeden TeUnehmer der „Veran-
staltvmg" unerhörte Forderungen an Einfühlung und Konzentration
stehte.
Watstjji Tetsueö^ bezeichnet dasjZew als die eigenthche Grundlage der
Renga-'K.wa.at. ZweifeUos war eine Reüie von hervorragenden Renga-
Meistern Zew-Mönche oder Ritter, welche den Geist des Zen lebten: die
Ehte der MuEOMAcm-Zeit stand weitgehend im Bann des Zen, und sie
war es ja, welche die iJew^a-Kunst vor ahem betrieb. Aber sehen wir einen
Augenbhck von der geschichthchen Situation ab. Das Problem ist dann:
war etwa das Renga, gerade weü es sich um eine gemeinschaftliche
Schöpfung handelte, nur auf der Grundlage des Zen möghch ? Aus unein-
heithchen Teilen kann nie etwas zu einem Kunstwerk zusammengefügt
werden, denn für dieses ist die iimere, organische Einheit wesentlichste 1 Watsuji a. a. O. S. 208ff.
450 Oscab Bbkl, Das japanische Kettengedioht
Voraussetzung. Damit also das Renga als Kunst entstehen konnte, mußte
sich jeder TeUnehmer bei aUer Wahrung sehier dichterischen Persönlich¬
keit selbstvergessen in das Ganze einfügen, er mußte zur Schaffung einer
höheren Einheit beitragen, aus der heraus dann gedichtet wurde. Er
mußte sich in die Strophe semes „Vorgängers" versenken, um in der
gleichen schöpferischen Ergriffenheit weiterdichten zu können. Das
scheinbar unpersönhche Einordnen in einen engen Rahmen, um das all¬
umfassende „Nichts" zu spüren, kennzeichnet durchaus die mittelalter-
hche Kunst, die ja nun weitgehend durch den Geist des Zen geprägt ist.
Vieheicht geht es zu weit, das Zen als die Grundlage der Äew^a-Kunst zu
bezeichnen. Aber sicherhch konnte diese nur entstehen, weU das Zen diese
innere Haltung der selbstlosen Stille und Versenkung hat fördern helfen.
Und insofem ist das Renga eine echt japanische Kunst.
I\)
Ausdrueksformen des Denkens
in indonesischen Sprachen*
Von Hans Kähleb, Hamburg
Ausdrueksformen des Denkens kann man durch die sprachpsycho¬
logische oder durch die morphologische Analyse erschheßen. Denn jede
Sprache ist der Ausdruck einer bestimmten geistigen Haltung und sozi¬
alen Organisation, die mit der ahgemeinen Beschaffenheit der betreffen¬
den Gruppe oder Vöhcerschaft zusammenhängt. Ich möchte hier kurz
emige Ergebnisse sprachpsychologischer und morphologisch-syntakti¬
scher Untersuchungen über Sprachen des indonesischen Raumes mit-
teUen. Dabei ist es unvermeidhch, daß sich die ersteren gelegenthch mit
Ergebnissen überschneiden, die R. Bbandstettbb in seinen bekannten
Monographien publiziert hat, welche unter dem Titel Wir Menschen der
indonesischen Erde zusammengefaßt sind.
Ausgangspunkt für die zusammenhängende Rede in Sätzen ist das
Wort. Ein großer Teü der Dingwörter, die relativ unveränderhche Sümes-
eindrücke aus der Umwelt unabhängig vom Zeitfaktor bezeichnen, weisen
auf das konkrete,eideti8che Denken der Indonesier. — Lebewesen und
Dinge werden oft nach einem hervorragenden Merkmal benannt. Eigen¬
namen von Personen haben, soweit es sich nicht um arabische oder (wie
vor ahem auf Java) um Sanskrit-Namen bzw. solche mit Sanskrit-Ele¬
menten handelt, häufig konkrete Bedeutung, z. B. neu javanisches si
Burik der Pockennarbige, si Gundul der Kahle. Dm-ch das vorgefügte si
ist angedeutet, daß es sich um eine Person handelt. — Bisweüen tragen
Personen die Namen von Dörfern, Flüssen, Bergen oder Pflanzen (bei
den Toradjas von Celebes)^, oder sie werden benannt nach der letzten
Handlung der Mutter vor der Geburt (auf Halmahera) 2.
Minangkabau' „Krebs, Landkrabbe" ist „die auf Händen und Füßen
1 Nach einem anläßlich des 12. Orientalistenkongresses im Juli 1952 in
Borm gehaltenen Vortrag. .. An Transkriptionszeichen sind hier verwendet:
3 für den Murmelvokal (Papa<); eü für das „lange Papat" ; ,j für den Velar- nasal; < (nach O. Dempwolff) für den weichen, ' für den festen Vokalem¬
und absatz. Diphthonge sind durch emen Bogen unter beiden Vokalen be¬
zeichnet.
* Nach J. H. F. Kohlbruoge, Naamgeving in Insulinde. Bijdr. 52, S.
140/78.
3 QueUen: J. H. van dek Toorn, Minangkabaicsch-Maleisch-Nederlandsch Woordenboek, und id. Minangkabausche Spraakkunst.