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Archiv "Feldschere und „Feldscherismus“ in Rußland" (15.06.1978)

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Ein medizinischer Assistenzberuf nach dem Muster des russischen und sowjetischen „Feldscher" ist ein aktuelles Thema, nicht nur für Entwicklungsländer und dünnbesie- delte, ärztlich unterversorgte Gebie- te. Ein Blick in die Geschichte dieses problematischen Standes, der frü- her in Rußland irgendwo zwischen dem approbierten Arzt und dem Quacksalber eingeordnet wurde, zeigt, daß er in der russischen Lite- ratur zumeist einseitig und abschät- zig dargestellt wurde. Der ungebil- dete und anmaßende Heilgehilfe auf dem Dorfe wurde zum Typ, der die öffentliche Meinung besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts beherrschte und lebhafte De- batten um den „Feldscherismus"

auslöste.

„Feldscher" ist die aus der deut- schen und österreichischen Armee übernommene Bezeichnung für den Heilgehilfen. Hier waren die „Feld- scheere" oder „Feldscherer" bereits im Dreißigjährigen Kriege bekannt.

Der Name deutet auf ihre ursprüngli- che Hauptaufgabe: Sie hatten die Soldaten zu rasieren. In modifizier- ter Bedeutung hat sich der Titel in Rußland gehalten, nicht nur im mili- tärischen, sondern auch im zivilen Bereich, und ist so auch in die mo-

derne Terminologie des sowjeti- schen Medizinalwesens eingegan- gen.

Zuerst: Sanitäter bei der Armee Während heute die Anforderungen an den Feldscher, seine Rechte und Pflichten gesetzlich festgelegt sind, haben wir im 18. Jahrhundert noch erhebliche Schwierigkeiten mit der Definition und Abgrenzung, denn nicht immer wurde zwischen dem Feldscher, dem Bader und dem Wundarzt scharf unterschieden. Pe- ter der Große nannte in seinem Kriegsreglement von 1716 die Feld- scherer bereits neben den Badern und erkannte ihnen offenbar eine höhere Qualifikation zu. Die Feld- scherer in den Kompanien hatten nicht nur die Soldaten zu rasieren, sondern wurden auch in den Grund- lagen der Arzneikunst unterwiesen.

Die tüchtigsten von ihnen konnten die Regimentsärzte für die Ernen- nung zu Wundärzten oder Chirurgen (lekar') vorschlagen.

In dem Reglement, das in russischer und deutscher Sprache erlassen worden war, heißt es dazu: „Die Re- giments-Feldscherer müssen die Compagnie-Feldscherer, nicht allein deskompetenz gibt — in die des Kran-

kenanstaltenwesens, wo der Bund nur eine Rahmenkompetenz besitzt.

Obwohl nun das Verfassungsgericht in der Sache, nämlich hinsichtlich der Parteistellung der Ärztekam- mern überhaupt nichts zu kritisieren hatte und lediglich einen formalen Fehler entdeckte, nämlich die Unter- bringung der Sache in einem fal- schen Gesetz, ist das Urteil katastro- phal. Denn die Krankenkassen ha- ben sich gegen dieses Parteienrecht der Ärzte immer gewehrt, und es ist überaus zweifelhaft, ob die absolute sozialistische Parlamentsmehrheit den Formalakt des Erlasses einer geltenden Bestimmung in einem neuen Gesetz überhaupt in Angriff zu nehmen bereit ist. Wenn das aber nicht geschieht, dann ist am 1. No- vember — also nach der Frist, die das Verfassungsgericht dem Gesetzge- ber zur Reparatur des juristischen Fehlers eingeräumt hat — die öster- reichische Ärzteschaft den Bestre- bungen der Krankenkassen, Ambu- latorien einzurichten, schutzlos aus- geliefert.

Wiens Ärztekammerpräsident Neu- gebauer scheint bereits resigniert zu haben, und er ventiliert neue Wege:

Der Ein-Mann-Betrieb Arztpraxis sei gegenüber Ambulatorien nicht kon- kurrenzfähig, dachte er laut in Ge- genwart eines Zeitungskorrespon- denten. Deshalb müßten die Ärzte — wozu allerdings eine Änderung des Ärztegesetzes erforderlich sei — neue Formen der Praxisorganisation suchen, zum Beispiel die Gesell- schaft mit beschränkter Haftung.

Das hätte den Vorteil, daß die Ärzte sich in ihren eigenen Gesellschaften anstellen und damit die Vorteile in Anspruch nehmen könnten, die das Steuerrecht zwar der gewerblichen Wirtschaft und den Arbeitnehmern, nicht aber den freien Berufen ein- räumt. Ein — wohl beabsichtigt — grotesker Gedanke. Denn die Ärzte sehen sich, wenn sie Neugebauers Gedankengängen folgen, gezwun- gen, die Medizin wie ein Geschäft zu betreiben, weil die Krankenkassen unter dem Schlagwort „Medizin darf kein Geschäft sein" ihnen mit der Ambulatorienkonkurrenz auf den Leib rücken. bt

Feldschere und „Feldscherismus"

in Rußland

Heinz Müller-Dietz

Aus der Abteilung Medizin

(Direktor: Professor Dr. med. H. Müller-Dietz)

des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin

Noch heute sind im sowjetischen Gesundheitswesen 20 000 Feld- schere auf ärztlichen Planstellen tätig. Der Berufsstand dieser Heilge- hilfen hat eine Tradition, die schon auf Peter den Großen zurückgeht;

aus der Armee wuchs die Feldschertätigkeit allmählich auch in den zivilen Bereich hinüber.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 24 vom 15. Juni 1978 1459

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Russische Feldschere

die Soldaten zu barbiren, auch in der Chirurgie unterweisen: und daß sie fleißig bey den Patienten und Bleßirten herum gehen. So gebühret auch einem Regiments-Feldscherer nicht, bey einer schweren Kranck- heit oder anderer gefährlichen Ope- ration zum Exempel bey Abneh- mung einer Hand oder Fuß ohne dem Doctor und Stabs-Feldscherer vor sich selbst zu curiren, oder ein Glied abzunehmen; sondern sind schuldig sich mit ihnen zu berath- schlagen, wie der Patient am besten geheilet werden könne; trägt es sich aber zu, daß weder Doctor noch Stabs-Feldscherer zugegen, muß er sich mit seinem Confrater, einem andern Regiments-Feldscherer, dar- über bereden. Solte der auch von ohngefehr nicht bey der Hand seyn, mag er, weil es die Noth erfordert, allein die Cur und Operation vorneh- men."

In diesen Formulierungen zeigt sich die zwiespältige Stellung der Feld- schere. Auch eine andere Problema- tik wird in dem zitierten Abschnitt des Reglements deutlich, die den Stand der Feldschere in Rußland bis heute belastet: Der Feldscher sollte zwar nur ein „Arzthelfer" sein, muß- te bei Bedarf jedoch als „Hilfsarzt"

fungieren.

Der Begriff wurde zu verschiedenen Zeiten im 18. Jahrhundert in unter- schiedlicher Bedeutung gebraucht.

Ja. Öistoviö identifizierte die Feld- schere mit den niederen Zöglingen der Hospitalschulen. Als zwischen 1740 und 1760 in St. Petersburg und Moskau einige Schüler zur „Ausbil- dung in der Subchirurgenkunst" an die Hospitäler kommandiert wurden, um die eigentlichen Eleven während des Unterrichts bei ihren Pflichten in der Krankenpflege zu entlasten, nannte er diese die „ersten Feld- schere". Im Hospital erhielten sie fünf Jahre lang Unterricht in ver- schiedenen manuellen Fertigkeiten.

Sie lernten Aderlassen, das Anlegen von Verbänden und Kompressen, Klistiersetzen, das Reponieren von Brüchen und andere Handgriffe.

Nur wenigen von ihnen gelang der Aufstieg zu einer besseren medizini-

schen Ausbildung und zum Subchir- urgen. In der Regel wurden diese Feldschere nach den Lehrjahren in den Hospitälern zu den Kompanien abgestellt und konnten dort, unter der Aufsicht des Regimentswund- arztes ihre bescheidenen Künste an- wenden. De facto dürfte die Aufsicht lückenhaft gewesen sein, so daß die Kompanie-Feldschere in den Garni- sonen und noch mehr auf den Feld- zügen eine gewisse Selbständigkeit erlangten. Häufig hatten sie in den Kriegen die Stellen fehlender Sub- chirurgen einzunehmen, ohne auch nur annähernd die dafür erforderli- chen Kenntnisse zu besitzen.

Ohne Versorgung

— in die zivile Praxis

Die Dienstzeit in der russischen Ar- mee war lang. Wenn ein alter Feld- scher nach 25 Dienstjahren entlas- sen wurde, hatte er keinen Anspruch auf ausreichende Versorgung, und wenigen gelang es, in einer Kran- kenanstalt oder im zivilen Verwal- tungsdienst Unterschlupf zu finden.

Zur Sicherung seiner Existenz bot sich dem Feldscher in der Regel nur ein Ausweg: Er zog aufs Land und eröffnete in einem Dorf eine „Pra- xis". Ohne Grundkenntnisse vom Wesen der Krankheiten, von ihrer Verhütung und Behandlung, nur mit seiner begrenzten praktischen Er- fahrung, mit einigen angelernten Handgriffen und Verschreibungen und mit dem wenigen, das er außer- dem noch den Ärzten bei den Visiten abgelauscht hatte, richtete der Feld- scher unter den kranken Bauern wahrscheinlich mehr Schaden als Nutzen an. Die Bauern aber achteten ihren Feldscher hoch. Für sie war er ein welterfahrener Gelehrter, ein

„Herr", mit dem sie gleichwohl in ihrer Sprache reden konnten und der aus ihrem Milieu hervorgegan- gen war. Einen richtigen Arzt beka- men die Bauern selten und zumeist nur bei unangenehmen Anlässen zu sehen: bei Seuchen, zur Musterung der ausgehobenen Rekruten oder bei gerichtsmedizinischen Untersu- chungen. Die wenigen niedergelas- senen Ärzte und die beamteten Kreisärzte praktizierten in den Städ-

ten und vermieden nach Möglichkeit die beschwerlichen Reisen in die weit auseinander liegenden Dörfer.

So wurde der Feldscher, der demo- bilisierte Sanitätssergeant, zum Bauern-Doktor und blieb während der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- derts meistens die einzige medizini- sche Autorität auf dem Lande, wenn Schäfer, Popen und mildtätige Guts- frauen nicht helfen konnten. Das be- kam aber dem Feldscher gar nicht gut. Das rauhe Leben unter den Sol- daten hatte ihn nicht gerade zum feinsinnigen, kultivierten Wohltäter geformt. In der Armee ständig ge- duckt und getreten, verlor er nun, als Respektsperson unter den Bau- ern, jedes Maß für seine Möglichkei- ten und Grenzen. Der Prototyp des auf dem Lande praktizierenden, ehemaligen Kompanie-Feldschers jener Zeit war selbstherrlich, grob, anmaßend, geldgierig, ungebildet und dabei meistens betrunken. Er hatte keine Scheu vor den gewagte- sten Diagnosen und Kuren. Und doch galt er bei seiner Klientel trotz allem als großer Spezialist. Nur eine glückliche Behandlung oder eine Spontanremission festigten seinen Ruf mehr, als zehn Mißerfolge ihm schaden konnten. Erst gegen Mitte des Jahrhunderts entstanden bei der Armee regelrechte Lehranstalten für die Feldschere, doch die so ausge- bildeten und später entlassenen Feldschere hatten für die Versor- gung der Zivilbevölkerung auf dem Lande schon keine Bedeutung mehr.

Staatliche Schulen

1829 begannen die Verwaltungen für die öffentliche Fürsorge, denen die meisten Krankenanstalten unter- standen, an den größeren Kranken- häusern bescheidene Feldscher- Schulen einzurichten, um für die ei- genen und die privaten Krankenhäu- ser Arzthelfer heranzuziehen. Sie nahmen 12- bis 16jährige Söhne von freien Bürgern auf, die lesen und schreiben konnten und auf Staats- kosten unterrichtet wurden. Nach dem Reglement (von 1857) wurden die Zöglinge vier Jahre lang in

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Rechtschreibung der russischen und lateinischen Sprache, in Reli- gion, etwas Arithmetik — soweit die- se für die Apothekermaße und -ge- wichte gebraucht wurde — ferner in den Grundzügen der Anatomie und Pharmazie unterwiesen. Sie lernten, Kranke zu pflegen, die gebräuch- lichsten Verbände anzulegen, zur Ader zu lassen, Scheintote wieder zu erwecken, die Pocken einzuimpfen, Zähne zu ziehen und gebrochene Knochen zu richten. Sie schrieben Rezepte nach Diktat und lernten, nach Anweisung der Ärzte Arzneien zusammenzustellen — alles Tätigkei- ten also, die sie befähigten, Arzthel- fer, „Handlanger" zu sein. Bevor sie dann zum Dienst in die Krankenhäu- ser entlassen wurden, wo sie eben- falls unter Aufsicht arbeiteten, leg- ten sie ein Examen vor dem Kreis- arzt (Amtsarzt) ab.

In den Krankenhäusern schien die damit eingeführte Feldscher-Ausbil- dung zunächst noch keinen Wandel zu schaffen. A. Buddeus, ein deut- scher Arzt und Rußland-Reisender, beklagte 1844 in den zivilen Kran- kenanstalten St. Petersburgs das paramilitärische Regime und die Mißwirtschaft der Feldschere: „Fast alle verständigen Ärzte verklagen eben diese Feldscherer als Plagen der Hospitäler, als eine der Hinde- rungen glücklicherer Heilresultate.

Diese medicinisch Halbgebildeten schaden fast mehr, als sie nützen.

Wie alle Halbgebildeten haben sie den ärgsten Wissenshochmuth, wie alle Halbwisser kritisiren sie am ab- sprechendsten das Verfahren ihrer Obern, wie alle Befehlenden niede- rer Bildung sind sie die strengsten Herrn gegen ihre Untergebenen. Die Ärzte der Hospitäler bestimmen die Kuren, aber die Feldscherer leiten dieselben hinter deren Rücken nach eignem Ermessen."

Mit der Anordnung des Jahres 1829 waren jedoch erstmals die obligaten Minimalkenntnisse der Feldschere festgelegt, war eine Basis für ihre Tätigkeit und für die Kontrolle ihrer Arbeit geschaffen worden. Bis aber diese examinierten Feldschere (da- mals „Schul-Feldschere" genannt) das durch die alten Kompanie-Feld-

schere ruinierte Ansehen des Stan- des zum Besseren wenden konnten, verging noch mehr als ein halbes Jahrhundert. Für die ambulant täti- gen Feldschere schrieb das Gesetz (Medizinal-Reglement von 1857,

§ 714) vor: Der Feldscher ist ver- pflichtet, seinen Wohnsitz in der von der Verwaltung des Gouvernements bezeichneten Gemeinde zu nehmen.

Er hat alle den Schutz der Volksge- sundheit betreffenden Anweisungen des Arztes zu befolgen. In den zuge- wiesenen Bezirken hat er Schutz- impfungen gegen Pocken durchzu- führen. Bei lebensgefährlichen Zu- ständen — bei Schlaganfall, Hitz- schlag, Ertrinken und Ersticken, bei Erfrierung, Vergiftungen und Blitz- schlag sowie bei Knochenbrüchen und Verrenkungen — hat er Erste Hil- fe zu leisten, ebenso auch bei ande- ren Krankheiten, für die seine Kennt- nisse ausreichen. In ernsteren Fällen aber hat er den Rat und die Hilfe eines Arztes einzuholen. Damit ver- wies der Gesetzgeber den Feldscher klar in den Bereich der vorärztlichen Hilfe oder der Tätigkeit unter ärztli- cher Aufsicht.

Im ländlichen Gesundheitssystem Das war die Situation, als 1861 die Leibeigenschaft in Rußland ihr Ende fand und als drei Jahre später (1864) in einem Teil der Gouvernements die

„Landständischen Selbstverwaltun- gen" eingerichtet wurden, die sog.

„zemstva". Zu ihren Kompetenzen gehörte auch das Gesundheitswe- sen. Von den Ämtern für öffentliche Fürsorge übernahmen die Zemstva die ungeheuer schwere Aufgabe, mit unzureichenden Mitteln den Ge- sundheitsschutz der Landbevölke- rung sicherzustellen, für die bisher kaum Ärzte, nur wenige examinierte Feldschere, aber eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Kompanie-Feld- schere zur Verfügung standen, die sich ärztliche Befugnisse anmaßten und wie Ärzte praktizierten. Zu- nächst, etwa zwanzig Jahre lang, bot sich für die medizinische Betreuung der Landbevölkerung nur eine Orga- nisationsform an: das „Reisesy- stem". Ein Arzt residierte in der Kreisstadt mit einem kleinen Kran-

kenhaus und Ambulatorium und be- suchte regelmäßig — ein- bis zwei- mal im Monat — die von Feldscheren verwalteten Revierstuben in den Dörfern. Bei den damaligen Kommu- nikationsmitteln und Wegen und bei den großen Entfernungen war das ein außerordentlich strapaziöses und wenig effektives Verfahren.

Aber solange nicht mehr Landärzte zur Verfügung standen, gab es dazu kaum eine Alternative. Nun, da die Feldschere in ein Versorgungssy- stem integriert wurden, mußte die Öffentlichkeit sich mit ihnen ausein- andersetzen. Eine lebhafte, ja, erbit- terte Diskussion entspann sich um den Nutzen und die Notwendigkeit der Feldschere. Sie dauerte ein hal- bes Jahrhundert lang an — so lange wie die Zemstva bestanden. Zwei Gruppen der Gesellschaft waren von der Frage unmittelbar betroffen: die Bauern und die Ärzte. Die Bauern stimmten „mit den Füßen" ab, in- dem sie die Feldschere weiterhin konsultierten, und brachten ihre Meinung durch die Bauern-Vertreter in den Zemstvo-Versammlungen zum Ausdruck. Diese stimmten fast ausnahmslos für die Beibehaltung der Feldschere.

Den Ärzten stand für die Diskussion die Fach- und Tagespresse zur Ver- fügung, und darin finden wir in je- nen Jahren zahlreiche Analysen und Meinungsäußerungen über den

„Feldscherismus", wie der Amts- mißbrauch der Feldschere genannt wurde. Auch unter den Ärzten gab es viele, die meinten, daß für die Bauern ein Feldscher als Arzt gut genug sei. Der bekannte Hygiene- Professor A. P. Dobroslavin be- hauptete, in 80 Prozent der Fälle er- ziele der Feldscher die gleichen Be- handlungsresultate wie der Arzt, und in den übrigen 20 Prozent kön- ne auch ein Arzt nicht helfen. Die meisten Landärzte aber bildeten ei- ne Front gegen die Feldschere, un- ter deren Grobheit und Unwissen- heit sie direkt zu leiden hatten.

Plastische und temperamentvolle Situationsschilderungen lieferten einige schriftstellernde Ärzte, z. B.

der Zemstvoarzt 1.1. Molleson. Er führte ironisch das ganze Reisesy-

1462 Heft 24 vom 15. Juni 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Russische Feldschere

stem ad absurdum, da es die biolo- gischen und physikalischen Mög- lichkeiten der Ärzte bei weitem über- steige und da die Feldschere alle ärztlichen Bemühungen zunichte machtön. Mit Recht verwies er auf das Medizi nal-Reglement (von 1857), nach dem niemand ohne Arzt- Diplom in Rußland Kranke behan- deln dürfe, und das auch den Kran- ken verbietet, Empiriker und Schar- latane zu konsultieren, zu denen Molleson alle nicht examinierten Feldschere rechnete. In seiner le- senswerten Schrift „Die Zemstvo- Medizin" (1871) schreibt er: „Ver- folgt man die Tätigkeit dieser impro- visierten Ärzte, so zeigt sich die Kehrseite der Medaille: . . . unver- standene Krankheiten, unsinnig ver- ordnete Arzneimittel, vergeudete Zeit, unnötige Aderlässe, Behand- lungen mit Quecksilber, Laxantien, Dekokten und anderen ,Heilmitteln', die — unsichtbar für die Augen der meisten — von denen, die das Un- glück hatten, einen Feldscher zu konsultieren, einen nach dem ande- ren in das Grab bringen. Da dies aber zumeist bei den Bauern ge- schieht, die erst lange nach dem Ausbruch eines Leidens zur Be- handlung kommen, so wird einer- seits der Tod als natürlicher Aus- gang der Krankheit angesehen, und andererseits dringt der Protest nicht bis zu den Ohren jener, deren Aufga- be es wäre, diese Zustände zu bes- sern. So hat die Behandlung durch die Feldschere weiterhin bei uns Hausrecht und wird sogar als eines der mächtigsten Instrumente bei der ,Fürsorge für die Volksgesundheit' angesehen."

Ärztliche Kritik

Auch der geniale Erzähler A. P. Öe- chov hatte Feldschere, die er aus eigener landärztlicher Erfahrung kannte, in seine Geschichten einge- baut: „Ihre Medizin (replizierte ein Dorfbursche dem nicht mehr ganz nüchternen Feldscher Ivanov) ver- stehen wir nicht. Aber wer, erlauben Sie zu fragen, hat im vergangenen Jahr anstelle eines Leichnams bei- nahe den betrunkenen Zimmermann obduziert? Wenn er nicht zufällig

aufgewacht wäre, hätten Sie ihm den Bauch aufgeschnitten. Und wer gibt Rhizinusöl anstelle von Leinöl?

Und wer hat die alte Melanja ins Jen- seits befördert? Sie haben ihr Ab- führmittel gegeben, dann Stär- kungsmittel, dann wieder Abführ- mittel. Das hat sie nicht ausgehalten.

Sie sollten, entschuldigen Sie schon, nicht Menschen behandeln, sondern Hunde" (Das Gericht, 1881). Von einem Zahnreißer erzählt Öechov, von dem Feldscher „G leb Gleboviö, der sich offenbar seit dem Tage seiner Geburt nicht gewaschen und gekämmt hatte" und vielen an- deren unerfreulichen Gestalten.

Molleson berichtete einmal auf ei- nem Ärztekongreß in Perm: „Ich kenne Fälle von Arm- und Beinam- putationen, welche Feldschere mit einer einfachen Tischlersäge oder einer Sichel vorgenommen haben — ohne Chloroform. Einmal brach die Säge während der Operation ab, ei- ne zweite war im Dorf nicht aufzu- treiben. Also mußte man in das Nachbardorf schicken, während der halbbetrunkene Feldscher kaltblütig auf das Instrument wartete." Bei derartigen Äußerungen erinnert man sich unwillkürlich des alten bran- denburgischen Stabsarztes J. A. von Gehema, der 1690 in seiner Schrift von „Krancken Soldaten" gegen die Feldschere wetterte und die Offizie- re warnte, sich im Krankheitsfalle nur eines Feldscherers zu bedienen,

„der dann eben so geschickt darzu ist / als ein Esel zu tantzen / und auß Laßdunckenheit /Einbildung / Leichtfertigkeit / , Verwegenheit / und grosser Unwissenheit / nicht al- leine dem leichtgläubigen Patienten ein hauffen unnütze Pralereyen für- schwätzet / und denselben sicher machet / sondern auch mit unbe- sonnenen / höchstschädlichen ge- fährlichen und grausahmen Mord- mitteln / als Aderlasse / purgiren / kühlträncken / oder allerhand Chy- mischen und nicht gnug experimen- tirten Medicamenten / die er etwa hie oder dort auß einem verschim- melten und von diesem oder jenem Prahlhansen zusammen geschmier- ten Buch außgeschrieben u. barbari- scher weise tractiret / martert / pei- niget / und gar ermordet."

Unentbehrlich — trotz allem

Doch versuchen wir, auch einmal die andere Seite zu sehen. Ohne die Feldschere — ob gut oder schlecht — war die medizinische Minimalver- sorgung der Landbevölkerung in Rußland nicht denkbar. Zwar litt der Ruf des ganzen Standes unter der Insuffizienz der alten Kompanie- Feldschere, die weitaus in der Über- zahl waren. In der Armee wurden viel mehr Kompanie-Feldschere ange- lernt, als man brauchte — in dem Jahrzehnt von 1881 bis 1890 fast 20 000. Viele von ihnen wurden also verhältnismäßig bald wieder entlas- sen. 1891 gab es 13 765 Feldschere der Reserve, die eine adäquate Be- schäftigung suchten. Dem standen in dem gleichen Jahrzehnt nur 2500 Absolventen der Armee-Feldscher- schulen und rund 300 examinierte Feldschere von den zivilen Lehran- stalten gegenüber. Daß es aber un- ter den demobilisierten Kompanie- Feldscheren auch tüchtige und se- riöse Leute gab, wurde von den Gegnern des „Feldscherismus"

ebensowenig erwähnt wie die gute Arbeit der examinierten Armee- und Zivilfeldschere.

Nach einer in den Jahren 1889/90 durchgeführten Zählung lebte in den 34 Zemstvo-Gouvernements ein Siebentel (1818) aller Ärzte (insge- samt 12 521) auf dem Lande, außer- halb der Städte. Doch von diesen Ärzten waren nur 1312 als Zemst- voärzte angestellt — 550 in Kranken- häusern und 762 in den ländlichen Kreisen und Bezirken. Jeder von ih- nen war im Durchschnitt für 44 500 Landbewohner und für ein Gebiet von 2600 km 2 zuständig — ohne Un- terbrechung durch Krankheit, Ur- laub oder Fortbildung. Was hätten die Ärzte bei dieser Überlastung oh- ne die mehr als 5100 Zemstvo-Feld- schere getan? Und wie hätte ein Feldscher gehindert werden kön- nen, seine Kranken selbständig recht und schlecht zu behandeln, wie er es eben verstand, wenn ein Arzt nur einmal im Monat das Dorf zu einer kurzen Visite aufsuchte?

Schließlich hatten auch die Feld- schere ein für uns schier unvorstell- bares Versorgungsgebiet: in 23

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Gehaltstarifvertrag für Arzthelferinnen

Zwischen der Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen der Arzthelferinnen, Haedenkampstr. 1, 5000 Köln-Lindenthal, und dem Berufs- verband der Arzthelferinnen e. V., Kern- pen, dem Verband der weiblichen Ange- stellten e. V., Hannover, der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Hamburg, wird zur Ergänzung der §§ 8 und 11 des Manteltarifvertrages vom 8. Dezember 1976 folgender Gehaltstarifvertrag ge- schlossen:

§1

Gehaltstabelle für vollbeschäftigte Arzt- helferinnen

Monatsgehälter in DM 1. Berufsjahr 1238 2. Berufsjahr 1280 3. Berufsjahr 1322 4. Berufsjahr 1364 5. Berufsjahr 1406 6. Berufsjahr 1448 7. Berufsjahr 1490 8. Berufsjahr 1532 9. Berufsjahr 1554 10. Berufsjahr 1576 11. Berufsjahr 1598 12. Berufsjahr 1620 13. Berufsjahr 1643 14. Berufsjahr 1665 15. Berufsjahr 1687 16. Berufsjahr 1709 17. Berufsjahr 1731 18. Berufsjahr 1752 19. Berufsjahr 1775 20. Berufsjahr 1797 21. Berufsjahr 1820 22. Berufsjahr 1844 23. Berufsjahr 1866 24. Berufsjahr 1889 25. Berufsjahr 1911 26. Berufsjahr 1934

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Ausbildungsvergütung

(1) Die Ausbildungsvergütung beträgt:

im 1. Halbjahr monatlich 365 DM im 2. Halbjahr monatlich 380 DM im 3. Halbjahr monatlich 400 DM im 4. Halbjahr monatlich 420 DM (2) In besonderen Fällen kann auf Antrag der Sorgeberechtigten eine geringere Ausbildungsvergütung vereinbart wer- den.

§ 3 Zuschläge

(1) Für Mehr-, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sind Zuschläge zu zahlen, die nach Arbeitsstunden berechnet wer- den. Dabei wird ein Stundensatz von 1/173

des Monatsgehaltes zugrunde gelegt.

(2) Der Zuschlag beträgt je Stunde:

a) für Mehrarbeit 25 Prozent b) für Sonn- und Feier-

tagsarbeit 50 Prozent

c) für Arbeiten am Neu- jahrstag, dem 1. Mai so- wie an den Oster-, Pfingst- und Weih-

nachtsfeiertagen 100 Prozent d) für Nachtarbeit 50 Prozent (3) Besteht für dieselbe Zeit Anspruch auf mehrere Zuschlagssätze, so ist nur der höchste Zuschlag zu zahlen.

§4

Inkrafttreten und Laufzeit

(1) Dieser Gehaltstarifvertrag tritt rück- wirkend am 1. April 1978 in Kraft. Er ersetzt den Gehaltstarifvertrag vom 4.

Mai 1977.

(2) Dieser Gehaltstarifvertrag kann mit einer Frist von drei Monaten zum Quar- talsende schriftlich gekündigt werden, frühestens zum 31. März 1979.

Frankfurt, den 29. Mai 1978

Bundesärztekammer

Arbeitsmedizinischer Einführungslehrgang

Die Bezirksärztekammer Nordwürttem- berg veranstaltet wie vorgesehen noch einen weiteren arbeitsmedizinischen Einführungslehrgang. Dieser Lehrgang findet statt in der Zeit von Freitag, den 29. September, bis Sonntag, den 1. Okto- ber 1978, und von Freitag, den 6. Okto- ber, bis Sonntag, den 8. Oktober 1978, in Stuttgart Killesberg, Kongreßgebäude.

Weitere Auskünfte erhalten Sie bei der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg, Jahnstraße 32, 7000 Stuttgart 70, Tele- fon: (07 11) 76 50 51-55.

Gouvernements zwischen 400 und mehr als 1000 km 2 . In 29 von den 34 Gouvernements entfiel ein Feld- scher auf 5000 bis 20 000 Einwoh- ner. Die Unmöglichkeit, die unquali- fizierten Feldschere zu kontrollieren und durch ausgebildete Kräfte zu er- setzen - das war das eigentliche Di- lemma des „Feldscherismus".

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, daß die Zemstva nur äußerst bescheide- ne Mittel für den Gesundheitsschutz ausgeben konnten. Je nach der wirt- schaftlichen Lage der Landschaft bezog ein Zemstvoarzt ein Jahresge- halt von 1000 bis 2000 Rubeln. Der Feldscher dagegen erhielt nur ein Fünftel dieses Gehaltes. Das war für die Zemstvo-Verwaltungen schon eine Einsparung, wenn auch nur ei- ne scheinbare, die sie nicht unbe- rücksichtigt lassen konnten - um so weniger als die Bauern zunächst noch die Konsultation eines Feld- schers vorzogen. Die Ärzte waren ih- nen fremd. Sie kamen aus der Stadt, aus einer anderen Klasse, viele so- gar aus einem fremden Land.

Damit sind nur einige relativierende Aspekte angedeutet. Die Probleme des „Feldscherismus" konnten nur gelöst werden, wenn man die Anzahl der Landärzte vervielfachte, so daß die Feldschere auf ihre eigentliche Funktion als weisungsabhängige Arzthelfer zurückgedrängt werden konnten. Doch das war ein langwie-

riger und teurer Prozeß. Wenn wir zum Abschluß fragen, ob das Pro- blem des „Feldscherismus" im zari- stischen Rußland und bis heute eine Lösung gefunden hat, so müssen wir eine Angabe referieren, die der sowjetische Gesundheitsminister Petrovskij vor wenigen Jahren ge- macht hat: In der Russischen So- wjetrepublik waren kürzlich noch 20 000 (I) ärztliche Planstellen, fast alle auf dem Lande, nicht mit Ärzten zu besetzen. Diese Stellen werden von Feldscheren eingenommen.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Heinz Müller-Dietz Hertastraße 7

1000 Berlin 37

1464 Heft 24 vom 15. Juni 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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