Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 2413. Juni 2008 423
M E D I Z I N
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it dem Artikel von Schönhofer et al. zur nicht in- vasiven Beatmung kommt es auf den folgenden Seiten zu einer Premiere im Deutschen Ärzteblatt: In unserer neuen Rubrik „Klinische Leitlinie“ drucken wir eine S3-Leitlinie in Kurzform ab.Das Deutsche Ärzteblatt reagiert damit auf eine Ver- änderung in der medizinischen Kultur, die sich mit der Veröffentlichung von Leitlinien entwickelt hat – in Deutschland vor allem während der vergangenen zehn Jahre. Auch vor dem Zeitalter der Leitlinien bestand für wissenschaftlich orientierte Ärzte die Notwendigkeit, ihre therapeutischen Empfehlungen zu begründen. Ge- rade die S3-Leitlinien gehen jedoch über viele der bis- herigen Versuche hinaus, therapeutisches Wissen syste- matisch zusammenzufassen.
Mehr als eine normale Übersichtsarbeit Im Sinne der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) sind Leitli- nien „systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Ent- scheidungsfindung in spezifischen Situationen“, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen.
Im Fall von S3-Leitlinien, der höchsten Qualitätsstu- fe, bedeutet systematische Entwicklung: Erstens ist die Leitlinie von einem repräsentativen Gremium erstellt worden, zweitens beruhen die Aussagen auf einer syste- matischen Analyse der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz und drittens sind sie im Rahmen einer struktu- rierten Konsensfindung (1) des repräsentativen Gremi- ums verabschiedet worden.
Für die in Kurzform abgedruckten Leitlinien in die- sem Heft etwa bedeutete dies die Bildung eines Gremi- um aus 30 Experten, das 12 Fachgesellschaften und Ver- bände repräsentierte, um alle beteiligten Gruppen einzu- beziehen. Die Experten haben in einer systematischen Literaturrecherche mehr als 2 900 Literaturstellen nach zuvor festgelegten Kriterien geprüft und schließlich et- wa 240 Artikel in einem standardisierten Verfahren aus- gewertet. Die Leitlinie wurde im Rahmen von zwei Konferenzen unter AWMF-Moderation im Sinne einer strukturierten Konsensfindung verabschiedet. Dabei floss nicht nur die ermittelte Evidenz ein, sondern auch die praktische Erfahrung der Experten.
Es ist leicht vorstellbar, welche intellektuelle, logisti- sche und ab und an vielleicht auch nervliche Anstren- gung die Erstellung einer S3-Leitlinie bedeutet. Die Kosten für eine S3-Leitlinie können nach Angabe von Ina Kopp, der stellvertretenden Vorsitzenden der ständigen Kommission Leitlinien der AWMF, durchaus 150 000 bis 300 000 Euro betragen – Mittel, die die be- teiligten Fachgesellschaften aufbringen müssen. Dieser
Aufwand erklärt auch, warum in den letzten zehn Jahren erst 52 S3-Leitlinien erstellt wurden, während auf der zentralen Internet-Seite der AWMF für Leitlinien (www.leitlinien.net) 819 der weniger aufwendigen S1- und S2-Leitlinien einsehbar sind.
So valide die Empfehlungen von Leitlinien nach sys- tematischer Evidenzanalyse und strukturierter Kon- sensfindung auch sein mögen: Leitlinien sind keine Ge- setzestafeln, und sie führen nicht in die „Kochbuch-Me- dizin“. Jeder Arzt muss die Leitlinie auf das konkrete Problem seines Patienten anwenden. Selbst die Lang- version einer Leitlinie, die leicht mehr als 100 Seiten umfassen kann, vermag nicht jede klinische Fragestel- lung zu beantworten. Leitlinien sind nicht rechtlich bin- dend für den Arzt, sie begründen weder eine rechtliche Haftung, noch befreien sie davon.
Das Deutsche Ärzteblatt hofft, seinen Lesern mit den Leitlinien wichtige Informationen zu präsentieren. Für Autoren von S3-Leitlinien besteht daher die Möglich- keit, eine Kurzform einzureichen. Wegen des sorgfälti- gen Evaluationsprozesses und des breiten Konsenses bei der Erstellung von S3-Leitlinien verzichtet die Re- daktion auf eine Begutachtung. Allerdings besteht kein Automatismus zwischen der Erstellung einer Leitlinie und der Veröffentlichung im Deutschen Ärzteblatt: Das Thema könnte etwa zu speziell sein. Auch kann das Deutsche Ärzteblatt keine Kurzformen von Leitlinien abdrucken, die bereits als Kurz- oder Langversion in an- deren Zeitschriften erschienen sind. Es ist sinnvoll, im Rahmen der Leitlinienerstellung frühzeitig mit der Re- daktion Kontakt aufzunehmen, sollten die Autoren und Fachgesellschaften an einer Veröffentlichung in der Ru- brik „Klinische Leitlinie“ des Deutschen Ärzteblattes interessiert sein.
Interessenkonflikt
Der Autor leitet die Medizinisch-Wissenschaftliche Redaktion des Deutschen Ärz- teblattes.
LITERATUR
1. Kopp IB, Selbmann HK, Koller M: Konsensusfindung in evidenzbasier- ten Leitlinien – vom Mythos zur rationalen Strategie. Z ärztl Fortbil Qual Gesundh wes 2007; 101: 89–95.
PD Dr. med. Christopher Baethge
Leiter der Medizinisch-Wissenschaftlichen Redaktion E-Mail: baethge@aerzteblatt.de
Clinical Practice Guidelines in Deutsches Ärzteblatt
Dtsch Arztebl 2008; 105(24): 423 DOI: 10.3238/arztebl.2008.0423
EDITORIAL
S3-Leitlinien im Deutschen Ärzteblatt
Christopher Baethge
Zu dem Beitrag:
„Nicht invasive Beatmung bei respiratorischer Insuffizienz“ von Schönhofer, Kuhlen, Neumann, Westhoff, Berndt und Sitter auf den folgenden Seiten
The English version of this article is available online:
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