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1.1 Zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Arbeit

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1. Einleitung

1.1 Zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Arbeit

„Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr an- vertrauten Jugend hineinbrennt. Es soll kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein.“1 Adolf Hitler

Dieses Zitat zeigt den zentralen Stellenwert der Rassenideologie des Nationalsozia- lismus im Schulunterricht des Dritten Reiches. Es entstammt der Programmschrift

„Mein Kampf“, die Hitler bereits in den Jahren seiner Festungshaft in Landsberg am Lech 1924-1926 verfasste, also schon lange vor der eigentlichen „Machtergreifung“ im Jahre 1933. Im Schlusswort heißt es: „Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden.“2 Hier wird explizit die Rassenhygiene zum zentralen Programm einer Weltanschauung erhoben und zum Garanten einer angestrebten Weltherrschaft.

In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie den rassenhygienischen Forderungen Hitlers im Bildungswesen des Dritten Reiches Rechnung getragen und das Schulfach Biologie dadurch als Instrumentarium politisch-ideologischer Indoktrination miss- braucht wurde. Zunächst sollen einleitend die historischen Wurzeln und die Inhalte der Rassenhygiene als eines Teilbereichs der Medizin vorgestellt werden. Die rassenhygie- nischen Theorien wurden nicht von Biologen, sondern von Medizinern entwickelt, allerdings weitgehend auf der Basis einer biologischen Theorie, des Darwinismus. Über die Anthropologie und die Genetik fanden die eugenischen Ideen dann allmählich Aufnahme in die Biologie. Das eugenische Konzept, das einseitig die frühen Erkennt-

1 Adolf Hitler, Mein Kampf, 651./655. Auflage, München 1941, S. 475 f.

2 Hitler (wie Anm. 1), S. 782

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nisse und Entdeckungen der Humangenetik überbetonte und andere, z. B. soziale Faktoren vernachlässigte, wurde in die nationalsozialistische Ideologie übernommen und führte in Deutschland zu Zwangsmaßnahmen gegen Bevölkerungsgruppen, denen erbliche Minderwertigkeit zugeschrieben wurde, so z. B. zu Zwangssterilisationen.

Schließlich diente es auch als Rechtfertigung für die Vernichtung „lebensunwerten“

Lebens.

Da Rassenhygiene und Rassenkunde bereits ab 1933 als verbindliche Teildisziplinen des Biologieunterrichts eingeführt wurden, erwuchs dem Deutschen Biologenverband und dem „Sachgebiet Biologie“ des Nationalsozialistischen Lehrerbundes eine zentrale Funktion bei der geforderten weltanschaulichen Ausrichtung des Schulfaches Biologie.

Ausgehend von einer Untersuchung der Stellung des Biologieunterrichts im Fächer- kanon der Schule bis 1933 wird die Analyse der Fachzeitschrift „Der Biologe“ einen Schwerpunkt meiner Arbeit bilden. In diesem bis heute in der Sekundärliteratur kaum aufgearbeiteten wissenschaftlichen Publikationsorgan der NS-Biologie werden aus- führlich rassenideologische Grundlagen und deren Einarbeitung in den Biologie- unterricht erörtert. Außerdem finden sich dort neben didaktischen Vorschlägen und Anleitungen zahlreiche methodische Hilfsmittel für die praktische Umsetzung. Einen besonderen Stellenwert hat die Ausbildung der Lehrer bzw. deren auf politisch- ideologische Gleichschaltung ausgerichtete Umschulung und Fortbildung.

Inwieweit die ideologischen Forderungen der NS-Biologen schulpolitisch tatsächlich umgesetzt wurden, soll die Untersuchung der ministeriellen Erlasse seit 1933 und der seit 1938 herausgegebenen neuen Richtlinien und Lehrpläne zeigen. Entsprechend der Erlasslage wurden zunächst Ergänzungshefte für die schon bestehenden Schulbücher und rassenkundliche Fachbücher konzipiert. Auf der Grundlage der neuen Lehrpläne erfolgte schließlich in den Jahren 1939-1942 die Fertigstellung neuer Schulbücher. Da die Schulbuchliteratur als Grundlage des Unterrichts diente und die tatsächliche Durch- führung des Unterrichts erheblich mitbestimmte, wird deren Analyse unter rassenideo- logischen Gesichtspunkten einen weiteren, bislang nur wenig erforschten Schwerpunkt meiner Arbeit darstellen.

Es zeigt sich, dass die Rahmenbedingungen für eine umfassende und wirklich durch- greifende „Reform“ des Biologieunterrichts erst ab 1939 gegeben waren. So war die

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Phase, in der die Schüler nach nationalsozialistischen Lehrplänen mit Hilfe neuer Schulbücher und entsprechend ausgebildeter Lehrer unterrichtet werden konnten, nur kurz und wurde durch die Kriegsereignisse rasch in immer stärker werdendem Maße beeinflusst. Die Tätigkeitsberichte des Sachgebietes Biologie in den einzelnen Gauen des Reiches aus den Jahren 1933-1938 geben einen Einblick in die Reaktion der Lehrerschaft auf die rassenideologische Erlasslage. Es hing letztlich vom politischen Engagement des einzelnen Lehrers ab, welchen Stellenwert weltanschauliche Inhalte im

Biologieunterricht hatten und in welchem Maße eine politisch-ideologische Indoktrination der Schüler stattfand. Dem entspricht die Tatsache, dass die Zeitzeugen-

berichte der damaligen Schülergeneration zum Unterricht in Rassenkunde durchaus widersprüchlich sind.3

Grundlage meiner Studie ist die Fachzeitschrift „Der Biologe“ von 1931-1944, die mir nach Sichtung der entsprechenden Institutsbibliotheken verschiedener Universitäten vollständig vorlag, sowie umfangreiches, zum Teil unveröffentlichtes Quellenmaterial aus dem Bundesarchiv in Berlin (Abteilung Reich). Einen weiteren erheblichen Fundus für die vorliegende Untersuchung lieferten die Schularchive und –bibliotheken verschie- dener Gymnasien. Vor allem die Bestände des Bischöflichen St.-Josef-Gymnasiums (bis 1993 in Trägerschaft der Kapuziner) in Bocholt erwiesen sich als wahre Fundgrube.

Während die Themenbereiche „Rassenhygiene“ einerseits und „Schule im Dritten Reich“ andererseits in der Sekundärliteratur aufgearbeitet wurden, liegt kaum Literatur vor, die beide Gebiete aufeinander bezieht und speziell das Verhältnis von „Rassen- hygiene und Schule“ analysiert. Eine systematische und strukturierte Untersuchung der Fachzeitschrift „Der Biologe“ ist, wie oben angedeutet, unter diesem Aspekt bislang nicht erfolgt.

3 Vgl. Änne Bäumer-Schleinkofer, NS-Biologie und Schule, Frankfurt a.M. 1992, Vorwort S. XIV

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1.2 Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland

1.2.1 Historische Wurzeln der Rassenhygiene

Die Rassenhygiene im Allgemeinen und ihre spezielle Entwicklung in Deutschland nahm ihren Ausgang in der Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882). In seinem 1859 publizierten Werk „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der Arten der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein“ deutet er die Evolution im Sinne von Höherentwicklung, Variation und Selektion. Damit wurde das Bild des einmaligen Naturschöpfungsaktes, wie es bis zu jener Zeit nach der Lehre der Kirchen vorherrschend war, grundlegend in Frage gestellt.

Parallel hierzu existierten aber auch schon weniger wissenschaftliche Thesen, die in die nun rasant sich entwickelnde Wissenschaft mit eingreifen sollten. Die grundlegenden Unterschiede im Erscheinungsbild der menschlichen Rassen waren lange bekannt. So äußerte sich beispielsweise der französische Schriftsteller Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816-1882) in seinen Schriften4 über den Niedergang der Kulturvölker durch Rassenmischung und bezeichnete die langköpfigen germanischen „Arier“ als Eliterasse, deren letzte verbleibende Kerne er in England und Norddeutschland sah. Sein Gedankengut fand Anhänger in Deutschland und wurde populär gemacht durch Richard Wagner und den sogenannten Bayreuther Kreis, der für die Verbreitung der Gobineauschen Schrift und ihrer völkisch-rassistischen Botschaft eintrat.5

Einer der ersten in Deutschland, der die darwinsche Evolutionstheorie auf die histo- rische Entwicklung des Menschengeschlechts und auf die gesellschaftlichen Verhält- nisse übertrug, war der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919). Durch ihn wurden auf sozialdarwinistischer Ebene Schwerpunkte gesetzt, die in der Biologenschaft breite Resonanz fanden. Nicht zuletzt dadurch wurde Haeckel als wissenschaftlicher Wegbereiter des Nationalsozialismus bezeichnet.6

4 J.A. Comte de Gobineau, « Essai sur l´inégalité des races humaines » , Paris 1853-55

5 Vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene, Frankfurt a.M. 1988, S. 94

6 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 196

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Wichtige Gesichtspunkte dieser neuen Strömung des Sozialdarwinismus waren zum Beispiel, dass das Wohl der Gemeinschaft über den Interessen des Einzelnen stehe, dass die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse notwendige Zwangsmaßnahmen nach sich zögen, dass die Erbsubstanz gefährdet sei und dass die Verbesserung der Gesell- schaft höchstes Ziel sei, wobei man optimistisch war, dieses zu erreichen.7

Haeckels Weltanschauung spiegelte sich wider im sogenannten „Monismus“8, wonach alles Geschehen (sowohl die Natur als auch die Kultur) aus einer monokausalen Höherentwicklung zu begründen sei. Der Haeckelsche Monismus besagt, dass alles Bestehende auf eine einzige Seinsursache zurückzuführen ist, dass es also keinen onto- logischen Unterschied zwischen Leben und Nicht-Leben, Geist und Materie, Natur und Kultur gibt. Folglich ist alles den gleichen Gesetzen unterworfen. 1906 gründete Haeckel in Jena den Monistenbund, der sich u.a. gegen den Einfluss der Kirchen auf den Schulunterricht und gegen die christliche Soziallehre richtete.9 Des Weiteren schlugen sich Haeckels Ideen eines Monismus im Sinne Darwins auch in seinen Werken

„Natürliche Schöpfungsgeschichte“ von 1868 und „Welträtsel“ von 1899 nieder.

Der Begriff der Eugenik wurde bereits im Jahre 1883 durch den britischen Natur- forscher Francis Galton (1822-1911) eingeführt und bezeichnete die Erforschung und Pflege der menschlichen Erbgesundheit (Erbgesundheitslehre). Galton lieferte bereits praktische Vorschläge für die Förderung der Entwicklung gesunder Erbanlagen (sogenannte positive Eugenik) und sorgte damit für die Popularisierung seines Forschungsgegenstandes. Er plädierte für eine eugenische Ausrichtung der Gesund- heitspolitik, d.h. für ein System, das die Selektion nach Darwin wieder vor den Schutz der Schwachen stellte. Diese Beseitigung schlechten Erbguts aus der Erbmasse (negative Eugenik) sollte den Gang menschlicher Entwicklung beschleunigen bzw.

steuerbar machen.

7 Vgl. Änne Bäumer, NS-Biologie, Stuttgart 1990, S. 56. Nach Bäumer ergab sich aus der Tatsache, dass man die Gesellschaft als Fortsetzung der Entwicklungsreihe Natur-Mensch ansah, für viele Wissen- schaftler ein Ansatzpunkt zur Rechtfertigung der Übertragung des Kampfes ums Dasein auf gesell- schaftliche Bereiche (vgl. S. 57).

8 Als „Monismus“ wird in der Philosophie, speziell in der Ontologie, eine Lehre bezeichnet, die alles Sein aus einem einzigen Prinzip erklärt.

9 Vgl. Gerhard Trommer, Natur im Kopf, 2. Aufl., Weinheim 1993, S.190

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In Deutschland kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung ähnlicher eugenischer Gedanken, vor allem, als die Wiederentdeckung der Mendelschen Erb- gesetze im Jahre 1900 eine weitere wissenschaftliche Grundlage und somit auch

„genetische Ergänzung“ der Darwinschen Evolutionstheorie bilden konnte. Was an Erkenntnissen über die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zunehmend bekannt wurde, gab nun zahlreichen Forschern Anlass, die Zukunft bzw. das Schicksal der Menschheit vor dem Hintergrund des Zuchtgedankens ins Auge zu fassen.

Als Begründer der deutschen Rassenhygiene gelten die beiden Mediziner Wilhelm Schallmayer (1857-1919) und Alfred Ploetz (1860-1940). Schallmayer, der 1891 in seiner ersten rassenhygienischen Schrift „Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit“ schreibt, lässt Forderungen im Sinne der „negativen Eugenik“

erkennen, die darauf abzielen, die Vermehrung der Schwachen zu verhindern. Dem stehe zunehmend der Fortschritt in der Medizin entgegen, was zur Folge habe, dass nicht mehr nur die körperlich Stärksten, sondern auch die körperlich Schwachen sich ausreichend vermehren können.10 Im selben Zusammenhang propagiert Schallmayer die Weiterentwicklung der Hygiene als Teildisziplin der Medizin, da es nach seiner Ansicht nur auf den Ausgangspunkt ankomme, von dem aus man sich die Medizin zunutze mache.11

Der deutsche Begriff der „Rassenhygiene“ geht auf Alfred Ploetz zurück, der damit eine Form von Hygiene beschrieb, die sich nicht auf das Individuum, sondern auf den Fort- pflanzungsprozess des gesamten Menschengeschlechts bezieht. Sein Rassenbegriff bezeichnete eine „durch Generationen lebende Gesamtheit von Menschen im Hinblick auf ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften“.12 Ploetz verstand unter Rasse nicht nur die Systemrasse der Anthropologie, sondern auch die Vitalrasse im Sinne von

„menschlicher Rasse“. Rassenhygiene zielte damit auf die Förderung und Vervoll- kommnung der gesamten Menschheit. Obwohl sich die deutsche Rassenhygiene unabhängig von der durch Galton geprägten Eugenik entwickelte, wurden beide Termini in Deutschland zunächst synonym benutzt.

10 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 38 f.

11 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 38 f.

12 Weingart (wie Anm. 5), S. 41

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Ploetz wurde bekannt mit seinem Werk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“ (1895). Hierin verweist er auf die Gefahren, „mit denen der wachsende Schutz der Schwachen die Tüchtigkeit unserer Rasse bedroht“.13 Bezüglich ihrer

„Tüchtigkeit“ ordnet Ploetz den Rassen einen unterschiedlichen „Culturwert“ zu, wobei er die „Westarier“ hervorhebt.

Mit ihrem Sendungsbewusstsein wandten sich die deutschen Rassenhygieniker an Staat und Bevölkerung, um sie von ihren Ideen zu überzeugen. Während anfangs noch kleinere Gruppen Gleichgesinnter für Austauschmöglichkeiten sorgten – Ploetz grün- dete beispielsweise 1910 in München den sogenannten „geheimen nordischen Ring“ - , waren es in den 1920er Jahren gesundheitsaufklärerische Vorhaben, die die breite Masse ansprechen sollten: Ausstellungen, Vorträge, Volkshochschulkurse, Radio- sendungen, Kinofilme etc..14 Ebenso wandten sich vor allem in der Weimarer Zeit Bücher und Schriften an die breite Öffentlichkeit, viele waren allgemeinverständlich gehalten.

Einen umfassenden wissenschaftlichen Austausch ermöglichte u.a. die Zeitschrift

„Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesell- schaftshygiene“, deren erste Ausgabe im Jahre 1904 erschien. Herausgeber waren neben anderen Alfred Ploetz, Ernst Rüdin, Anastasius Nordenholz und Ludwig Plate. Hierin wurden Arbeiten zum Thema Rassenhygiene gesammelt und publiziert. Die Zeitschrift verstand sich im weiteren Verlauf auch als Organ einer Vereinigung, die ihre Ursprünge im Jahr 1905 in Berlin fand, der sogenannten „Gesellschaft für Rassenhygiene“, die im wesentlichen auf Ploetz zurückgeht. Nach Berlin folgten in den Städten München, Freiburg und Stuttgart Gründungen weiterer Ortsgruppen.

Einige Jahre später, im März 1910, kam es zur Verabschiedung der Satzung einer neugegründeten „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“, welche u.a. vorsah, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft der weißen Rasse angehören mussten.15 Als weitere Ausweitung der Arbeit zum Thema Rassenhygiene kann die „Internationale Hygiene-

13 Alfred Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, Berlin 1895, V, VI

14 Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945, New York 1989, S. 409

15 Vgl. Satzungen der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, in: Stadtarchiv Bremen, Signatur 4, 21-609, zit. nach Weingart (wie Anm. 5), S. 205

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Ausstellung“ gelten, die 1911 durch das Dresdner Hygiene-Institut („Sondergruppe Rassenhygiene“) für eine erste Popularisierung dieses Themas in der Bevölkerung sorgte.

In dasselbe Jahr (1911) fällt auch die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die sich zwar nicht primär mit der Rassenhygiene befasste, aus welcher aber Institute mit rassenhygienischen Forschungsschwerpunkten hervorgingen. Während die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene im Jahre 1913 Mitglied in der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ wurde und dort der medizinischen Hauptgruppe zugehörte – dies gilt heute als Beweis für deren akademische Anerkennung16 -, kam es im Bereich der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft auf außeruniversitärer Ebene zur Ausbildung neuer Institute, so z.B. des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie (Leiter: Eugen Fischer), menschliche Erblehre (Leiter: Otmar v. Verschuer) und Eugenik (Leiter:

Hermann Muckermann). Zur Eröffnungsfeier im September 1927 auf dem V. Inter- nationalen Kongress für Vererbungsforschung sprach Eugen Fischer von Grundsätzen wie Forschung auf „rein naturwissenschaftlicher Grundlage“ und bezeichnete das Institut als „rein theoretisches Institut zur Erforschung der Natur des Menschen“.17

So erlangte ab Mitte der 1920er Jahre die Rassenhygiene in Deutschland eine wachsende Bedeutung. An den Hochschulen wurden rassenhygienische Themen in die Lehrpläne aufgenommen, Fritz Lenz erhielt 1923 in München ein Extraordinariat für Rassenhygiene. Zusammen mit Eugen Fischer und Erwin Baur gab er das erste deutsche Lehrbuch der Rassenhygiene heraus, den sogenannten Baur-Fischer-Lenz, das zum größten Teil von Fritz Lenz bearbeitet wurde und bis 1945 das führende, auch inter- national anerkannte akademische Lehrbuch auf diesem Gebiet sein sollte.18

Die Eugenik der Weimarer Zeit, die geprägt war von der bürgerlich-gemäßigten Variante der Rassenhygiene, verbreitete sich mit ihrem Anspruch einer neuen Wissenschaft, noch ohne einen ausgeprägten Rassismus bzw. Antisemitismus weitläufig erkennen zu lassen, wenn auch Teile der „rassenhygienischen Bewegung“ diesen

16 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 207

17 „Von wissenschaftlichen Instituten“, in: Kultur und Leben, 1927,4, S. 315-316

18 Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz, Grundriß der menschlichen Erblehre und Rassenhygiene, München 1921, 2. Aufl. 1923, 3. Aufl. I 1927, II 1931

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Vorstellungen anhingen. Lenz beispielsweise interessierte sich schon früh für die Verbindungspunkte der Rassenhygiene mit der aufkommenden Ideologie des National- sozialismus. 1931 kommentierte er Hitlers „Mein Kampf“ mit den Worten: “Jedenfalls hat er [Hitler] die wesentlichen Gedanken der Rassenhygiene und ihre Bedeutung mit großer geistiger Empfänglichkeit und Energie sich zu Eigen gemacht, während die meisten akademischen Autoritäten diesen Fragen noch ziemlich verständnislos gegen- überstehen.“19

Gerade diese gemäßigte Sichtweise machte es möglich, dass die Eugenik auch in Regie- rungskreisen an Einfluss gewinnen konnte und schließlich sogar in das Fürsorgesystem des Weimarer Staates als „differenzierte Fürsorge“ Einzug hielt. 1926 kam es zur Einrichtung von Eheberatungsstellen, die unter anderem die Heiratswilligen im Hinblick auf die Nachkommenschaft nach eugenischen Gesichtspunkten beraten sollten.

Mit dem Anwachsen der wirtschaftlichen und politischen Probleme zum Ausgang der 1920er Jahre konnte die Rassenhygiene ihre Rolle im Gesundheitswesen der Weimarer Republik weiter ausbauen. Der Gesichtspunkt der Kostenersparnis durch gezielte Eheberatung in den sogenannten „familien-biologischen Beratungsstellen“ gewann an Bedeutung.

Gleichzeitig wurde von Seiten der Eugeniker die Maßnahme der freiwilligen Sterili- sation diskutiert. Diese galt während der Weimarer Zeit strafrechtlich als Körper- verletzung. 1932 fanden ihre Forderungen zur Legalisierung von Seiten des Staates Gehör: In Preußen kam es zur Vorlage eines Gesetzesentwurfes zur freiwilligen Sterilisation aus eugenischer Indikation. Zur Umsetzung gelangte dieser Entwurf jedoch nicht mehr.

Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30.1.1933 hatte sich also bereits ein breites Fundament der rassenhygienischen Denk- und Handlungskonzepte gebildet, auf das die Partei zur Durchsetzung ihrer Rassenideologie zurückgreifen konnte. So wurde schon am 14.7.1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verab- schiedet, das auf der Vorlage des Gesetzesentwurfes von 1932 basierte.

19 Fritz Lenz, Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene, in: “Archiv für Rassen- und Ge- sellschaftsbiologie”, 1931, Bd. 25, Heft 3

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Es folgten im weiteren Verlauf der Regierungszeit der NSDAP zahlreiche Beispiele für die Durchführung eines Parteiprogramms, das Rassenhygiene als eine zentrale Forderung enthielt: am 15.9.1935 wurden die Nürnberger Rassegesetze, am 18.10.1935 das Ehegesundheitsgesetz verabschiedet.

Parallel hierzu wurden im Auftrage Hitlers die Verwaltungen der Ministerien der Länder zentralisiert (als Beispiel die Errichtung des „Reichsministeriums für Wissen- schaft, Erziehung und Volksbildung“ am 1.5.1934), die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene wurde gleichgeschaltet, d.h. unter staatliche Aufsicht gestellt. Als neuer

„Reichskommissar“ der Gesellschaft wurde der Münchner Psychiater Ernst Rüdin ernannt. Dieser galt als glühender Anhänger Adolf Hitlers. Rüdin war außerdem Mitherausgeber des „Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass die führenden Rassenhygieniker in Deutschland teil- weise enge persönliche Bindungen zueinander hegten. So war Alfred Ploetz z. B. eine Zeit lang mit der Schwester Rüdins verheiratet, Wilhelm Schallmayer wurde gefördert durch Ernst Haeckel, der Freiburger Anthropologe Eugen Fischer war Studienkollege Erwin Baurs und Lehrer von Fritz Lenz.20 Auch Ploetz war ein Lehrer von Lenz und Lenz wiederum – neben Fischer – der Lehrer Verschuers.

Politik und Wissenschaft kamen sich immer näher. Die 1925 gegründete „Deutsche Gesellschaft für physische Anthropologie“, die sich die Rassenforschung zur Aufgabe gemacht hatte (1937 wurde sie in „Deutsche Gesellschaft für Rassenforschung“, DGfRf,

umbenannt), wurde im Herbst 1938 an das Rassenpolitische Amt der NSDAP gebunden, deren Leiter Walter Groß war. Der jeweilige Vorsitzende der DGfRf wurde

als Fachreferent in die „Hauptstelle Wissenschaft“ des Rassenpolitischen Amtes berufen. Diese Angliederung diente dem Ziel der wissenschaftlichen Legitimierung der NS-Ideologie.

Den bisher erwähnten, meist als rein wissenschaftlich deklarierten Organisationen und Forschungsunternehmungen zum Thema Rassenhygiene steht der traurige Aspekt der rassenpolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten gegenüber, die in der Verfolgung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen gipfelten.

20 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 189-192

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1.2.2 Inhalte und Tendenzen der Rassenhygiene

Im Folgenden gilt es, die gegenseitige Abhängigkeit und auch Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Nationalsozialisten zu untersuchen und die Gefahren aufzuzeigen, die sich zu den unterschiedlichen Zeitpunkten der Entwicklung im Inhalt des Themas Rassenhygiene verbargen.

Grundlage der Rassenhygiene war die Vererbungslehre, die mit der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze im Jahr 1900 eine wichtige Rolle übernahm und den Menschen als Träger des Erbgutes ins Zentrum des Interesses rückte.

Schlagworte wie der „Kampf ums Dasein“ aus der Darwinschen Evolutionstheorie wurden dabei schon frühzeitig auf die menschliche Gesellschaft übertragen, der Begriff der Rasse spielte ab jetzt eine wichtige Rolle.

1.2.2.1 „Herrenmenschen“-Ideologie und Germanenmythos

Die oben skizzierte Entwicklung des Rassedenkens steht in engem Zusammenhang mit der „Herrenmenschen“-Ideologie. Der Begriff „Herrenmensch“ ist wissenschaftlich nicht definiert. Eine nähere Interpretation dessen, was die NS-Ideologen unter „Herren- mensch“ verstehen wollten, ergibt sich also nur aus den Erklärungen und Absichten der Machthaber selbst und soll im Folgenden kurz umrissen werden.

Bezüge lassen sich bei Friedrich Nietzsche (1844-1900) finden, mit dessen Werk sich Hitler in nicht unerheblichem Maße befasst hat. Was er aber von dem Philosophen tatsächlich gelesen und was er im einzelnen übernommen hat, lässt sich kaum fest- stellen. Jedenfalls war es für die Nationalsozialisten (wie auch für die italienischen Faschisten) leicht, aus Nietzsches häufig fragmentarischen und oft einander wider- sprechenden Äußerungen Leitmotive ihrer eigenen Ideologie herauszulesen. Was in das Konzept nicht passte, wurde unterschlagen.21 Allein Nietzsches Fragment „Der Wille zur Macht“ wurde von Hitler als „programmatisches Postulat“ für die NSDAP

21 Vgl. Das große Lexikon des Dritten Reiches, Zentner/Bedürftig (Hg.), München 1985, S. 418 f.

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umgedeutet.22 Nietzsche passte auch insofern in das Raster der NS-Ideologie, als er durchaus antisozialistische, antidemokratische und antichristliche Auffassungen vertrat.

Bedeutsam blieben seine oder die ihm zugeschriebenen Spekulationen über eine

„Herren-Moral und Sklaven-Moral“ sowie seine Überlegungen zum Werden eines neuen Menschen, den er auch als Übermenschen, als Angehörigen einer arischen

„Eroberer- und Herren-Rasse“ sah, denn „in den höchsten Exemplaren der Menschheit“

bestand für ihn das „Ziel der Weltgeschichte und des Handelns“.23 Die „Anleihen“ bei Nietzsche zur „Herren-Moral“, zur „Herren-Rasse“ und zum „Übermenschen“

verschmolzen in der NS-Ideologie allmählich zum Begriff des „Herrenmenschen“. Die inhaltliche Ausfüllung dieses Terminus steht in einem engen Zusammenhang mit den Bestrebungen der „Rassenhygiene“, durch eugenische Maßnahmen eine „Aufnordung“

des deutschen Volkes zu erreichen.

Das nationalsozialistische Geschichtsbild entwickelte sich vor allem aus den umrissenen rassistischen Anschauungen. Es wurde vermittelt durch eine rassentheoretisch-völkische Geschichtsschreibung, die einen Einblick in das Werden und Vergehen der Kultur- völker, insbesondere des deutschen, geben sollte.24 Geschichte stellte sich in der völkischen Geschichtsschreibung als Kampf der Völker um „rassische“ Vorherrschaft dar, wobei die „rassisch wertvolleren“ Völker für sich ein biologisch begründetes Natur- recht auf Herrschaft beanspruchen konnten. Imperiale Großmachtträume und deutsch- tümelige nationale Sehnsucht ließen die Schriften, die sich mit der Vormachtstellung der weißen Rasse und des „Arier- und Germanentums“ befassten (s. vor allem Gobineau), ab dem späten 19. Jahrhundert populär werden.25 In diesem Zusammenhang sei auch auf die antiken und germanischen Mythen und Heldensagen verwiesen, die seit der Zeit des romantischen Nationalismus auf ein immer größeres Interesse stießen und die später von alldeutschen Nationalisten funktionalisiert und idealisiert wurden.

22 Uwe D. Adam, Nationalsozialismus im Unterricht, Studiereinheit 8: Herrenmenschentum und Rassen- vernichtung, Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen, Fernstudium Geschichte, S. 29 f.

23 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter (Hg.), Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 1047 (Vgl. ferner E. Sandvoss, Hitler und Nietzsche, Göttingen 1969)

24 Vgl. Martin Broszat, Die völkische Ideologie und der Nationalsozialismus, in: Deutsche Rundschau 84 (1958), S. 53 ff. (Vgl. außerdem Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart 1990)

25 Vgl. Trommer (wie Anm. 9), S. 211

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Die Auffassung von der „arischen Kulturträgerschaft“ bedeutete, dass alle Kultur- leistungen und politischen Erfolge im Mitteleuropa der vergangenen Jahrtausende einen gemeinsamen Ursprung hatten: die Eroberung und Unterwerfung „rassisch minder- wertiger“ Völker durch „nordische Heldenstämme“. So wurden die Hochkulturen der Antike (besonders der Griechen und Römer) auf Völkerwanderungen nordischer Stämme zurückgeführt.26 Einer der später führenden nationalsozialistischen Ideologen, Alfred Rosenberg (1898-1946), legte in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ als unumstößliche Tatsache fest, dass der „’Sinn der Weltgeschichte’ von Norden aus- strahlend über die ganze Erde gegangen ist, getragen von einer blauäugig-blonden Rasse, die in mehreren großen Wellen das geistige Gesicht der Welt bestimmte, auch dort noch bestimmte, wo sie untergehen mußte“.27

Schon früh wurde der Niedergang der Kulturvölker durch unvorteilhafte Rassen- mischung erklärt. Durch die Herausbildung eines deutsch-germanischen Elite- bewusstseins sahen sich viele Deutsche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Kulturvolk nordischen Ursprungs. Durch die positive geschichtliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte (Aufstieg Preußens, Sieg über Frankreich, Ausrufung des Zweiten Kaiserreiches) hatte die „Gefahr nationaler Überheblichkeit“

zugenommen.28 Dieser aufkommende Nationalismus war von Bismarck, der sich des

„Dilemmas der ‚halbhegemonialen Stellung’“29 des Reiches in Europa bewusst war, schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts kaum noch zu kontrollieren. Er führte in der Wilhelminischen Phase nach 1890 zu einem „geradezu überschäumenden Überle- genheitsgefühl“30 der „verspäteten Nation“ der Deutschen und beeinflusste maßgeblich die Weltmachtpolitik des „Neuen Kurses“ mit seinem Ziel, doch noch einen „Platz an der Sonne“ (Reichskanzler von Bülow) zu finden.

Aufgenommen und weiterentwickelt wurde dieses Gedankengut durch den 1894 gegründeten „Alldeutschen Verband“, die wichtigste Organisation des deutschen Natio-

26 Vgl. Harry Grießdorf, Unsere Weltanschauung, Berlin 1941, S. 29

27 Alfred Rosenberg, Der Mythus der 20. Jahrhunderts, 21.-22. Aufl., München 1934, S. 28

28 Trommer (wie Anm. 9), S. 211

29 Andreas Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972, S. 129

30 Immanuel Geiss, Der lange Weg in die Katastrophe, München 1990, S. 142

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nalismus, in deren völkischen und imperialistischen Zielsetzungen bereits wesentliche Elemente der NS-Ideologie (wie Antisemitismus, die Propagierung eines aggressiven Landerwerbs, die Notwendigkeit eines starken Führers und die Ablehnung der Demo- kratie als „undeutsch“) zu finden sind.

Die sogenannte „Schädlichkeit der Rassenmischung“, die später zum Grunddogma der Rassenhygiene heranwuchs, wurde am Beispiel der Kolonien verdeutlicht. Der Freiburger Universitätsprofessor Eugen Fischer kam 1913 in seinem Buch „Die Rehoboter Bastards und das Bastardierungsproblem beim Menschen“ zu dem Schluss, dass die Mischlinge in der Missionssiedlung in Südwest-Afrika weniger leistungsfähig seien als die burischen Siedler selbst. Er stellte die These auf, dass „ausnahmslos jedes europäische Volk [...], das Blut minderwertiger Rassen aufgenommen hat - und daß Neger, Hottentotten und viele andere minderwertig sind, können nur Schwärmer leugnen - [...] diese Aufnahme minderwertiger Elemente durch geistigen, kulturellen Niedergang gebüßt“ habe.31 Hier handelt es sich um eine Wertung Fischers, die er keinesfalls belegen konnte, die aber später immer wieder als Beleg für die „Minder- wertigkeit“ bestimmter Individuen angegeben wurde.

Als Folge gewann die Vorstellung einer germanischen Herrenrasse weiter an Bedeu- tung. Sogar die Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde von einigen auf das Versagen

„minderwertiger Elemente“ zurückgeführt. Gerade die Defiziterfahrung des verlorenen Krieges verhalf der völkischen Ideologie zu ungeahnter Popularität.

„Die Enttäuschung über das Scheitern des Weltmachtstrebens, die Verzweiflung über den Verlust des Kaiserreichs, die Erbitterung über die Schande des verlorenen Krieges ließ in den Jahren 1919 bis 1923 [der Zeit der politischen Prägung der Generation Hitlers] eine geradezu phantastische Welle völkischer Literatur aufschießen, die nun (im Unterschied zur Zeit vor dem Kriege) unzählige Leser fand [...]. Das Völkische ist hier Ersatz für die verlorene Größe und Macht, Rausch aus Pseudovergangenheit (wie sie traditionell gepflegt wurde) und Zukunftstraum, ein Rausch, der über die schlimme Gegenwart hinweg- helfen sollte.“32

31 Eugen Fischer, Die Rehoboter Bastards und das Bastardierungsproblem beim Menschen, Jena 1913, S. 302

32 Karl Ferdinand Werner, Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1967, S. 20

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1.2.2.2 Antisemitismus

Ein weiterer Aspekt, der geschichtlich zurückverfolgt werden soll, ist die Entstehungs- geschichte des Antisemitismus. Der Begriff „Semiten“ wurde nach dem ersten Sohn Noahs geprägt. Man glaubte im Mittelalter, die drei Hauptrassen der damals bekannten Welt würden sich von den drei Söhnen Noahs, Sem, Cham und Japhet ableiten und unterschied Hamiten (schwarze Rasse), Semiten (Araber, Juden usw.) und Japhetiten (Europäer). Der Begriff „semitisch“ wurde im 19. Jahrhundert von der Sprach- wissenschaft aufgenommen zur Bezeichnung verwandter Sprachen des Nahen Ostens wie Arabisch, Hebräisch, Aramäisch usw. Erst der deutsche nationalistische Journalist

Wilhelm Marr (1818-1904) schließlich prägte in seiner Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ von 1879 den Begriff „Antisemitismus“ und bezeichnete damit Judenhass. Der Terminus ist irreführend und wissenschaftlich un- sinnig, da es sich eigentlich um einen Antijudaismus handelte. Sprachwissenschaftlich betrachtet sind beispielsweise auch die Araber Semiten, gegen die sich der Anti- semitismus aber nicht richtete.

In seiner religiösen Form existiert der Antisemitismus schon seit dem Aufstieg des Christentums zur Zeit Kaiser Konstantins. Die Juden galten als „Gottesmörder“ und schienen schon allein durch ihre Existenz zur Rache aufzurufen. Sie wurden seit dem 12. Jahrhundert in Ghettos abgeschoben und mussten ihr wirtschaftliches Betätigungs- feld wechseln. So wurden sie vom Handwerk ausgeschlossen, da die Zünfte als christ- liche Gemeinschaften galten. Auch als Bauern durften sie nicht tätig sein. Ihnen blieb der Geldverleih gegen Zinsen, der den Christen nach kirchlichem Gebot versagt war.

Darunter litt ihr Ansehen. Sie wurden als „Wucherer“ beschimpft. Ihre außerordentliche Geschicklichkeit im Erlernen und Ausüben vieler Berufe gab darüber hinaus Anlass zu Argwohn und Missgunst.

Schon zur Zeit der Kreuzzüge richtete sich die Aggression nicht nur gegen die moslemische Welt, sondern auch gegen die Juden mit dem Ziel, sie zum Christentum zu bekehren. Außerdem gab es Bestrebungen, die Juden von öffentlichen Ämtern aus-

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zuschließen, da sie „schon von altersher [...] zur Buße für ihr Verbrechen zu ewiger Knechtschaft verurteilt“ seien.33

Zunächst wurden die Juden, die ehemals als Träger, Wegbereiter und Lehrmeister des Handels galten, in vielen deutschen Städten noch gefördert. Dies hielt an, bis auch der christliche Kaufmannsstand sich kräftigte. Mit diesem Zeitpunkt wurden die Juden zu Konkurrenten, die es zu bekämpfen galt. Das Bild des Juden als Schuldträger und Unheilbringer war vorgeformt.

Erst viel später, im 19. Jahrhundert kam der Aspekt des rassischen Antisemitismus hinzu. Die Verbindung der Rassentheorie Gobineaus mit den Erkenntnissen Darwins und Mendels ließ ein explosives Gemisch an ideologischen Vorstellungen entstehen, das in den Jahren nach der Reichsgründung (1871) genügend Stoff zu spekulativen Überlegungen bot. Erste Tendenzen zeigten sich in dem bereits erwähnten Werk Marrs.

Dieser knüpfte darin an rassistische Degenerationsängste und die Befürchtung jüdischer Weltherrschaftsansprüche an. Da der Einfluss der Juden in Deutschland überhand- nehme, sei es an der Zeit, mit politischen Mitteln etwas gegen sie zu tun.34

Während der religiöse Antisemitismus den Juden wenigstens noch die Möglichkeit der Konversion zum Christentum ermöglichte, ließ der Rassenantisemitismus diese Möglichkeit nicht mehr zu: Rasse war Schicksal, da konnte man nicht aussteigen. Hier deutet sich daher die Vernichtung als letzte Konsequenz schon an.

Mit dem wachsenden Nationalbewusstsein der Deutschen wurde „die Bewertungsweise des ursprünglich rein religiös motivierten Symboltypus auf die nationalen Unterschei- dungsgründe übertragen“.35 „Der Jude wird so zur nationalen Gefahr, vor der gewarnt sein muss; sein Hass säendes Volkstum droht die Deutschen ‚völlig unter die Füße zu treten’.“36 Mit diesem Zitat Fichtes weist Müller-Claudius in seinem Buch „Deutsche

33 aus einem Privileg, das Kaiser Friedrich 1237 der Stadt Wien erteilte, in: Michael Müller-Claudius, Deutsche Rassenangst, Berlin 1927, S. 77

34 Vgl. Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Frankfurt 1996, S. 285

35 Müller-Claudius (wie Anm. 33), S. 83. Müller-Claudius sieht in dem wachsenden Nationalbewusstsein der Deutschen, das sie dazu veranlasst, ihre nationale Verschiedenheit gegenüber den Juden herauszu- stellen, die „Geburt der Rassenangst“: „Der Jude steht nun dem Deutschen gegenüber wie der Barba- ros dem Griechen.“

36 Johann Gottlieb Fichte, aus den Reden an die Deutsche Nation, 1807/1808 , in: Müller-Claudius (wie Anm. 32), S. 85

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Rassenangst“ von 1927 warnend auf eine viel größere Gefahr hin, den Antisemitismus selbst, der im Begriff sei, das deutsche Volk blind zu machen und so in sein eigenes Verderben hineinzuführen.37

Eine wichtige Rolle in der Vermittlung und Verbreitung rassistischer und anti- semitischer Vorstellungen spielte der Wagner-Kreis in Bayreuth.38 Richard Wagner selbst war Rassist und Antisemit und unterstützte den französischen Theoretiker des Rassismus Gobineau finanziell. Wie bereits erwähnt ging es Gobineau darum, die Überlegenheit der weißen Rasse darzulegen und ihre Durchmischung mit anderen Rassen als Ursache des Niedergangs der Kulturvölker darzustellen.

Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts stieß der britische Publizist und Wahl- deutsche Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) zum Wagner-Kreis. Er verband die Rassentheorie Gobineaus mit den Schriften und „Erkenntnissen“ der antisemitischen Autoren seiner Zeit.39 Unter Einbeziehung der Forschungen Darwins entstand sein Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (2 Bände, 1899). Darin betrachtet Chamberlain vor allem die germanischen Völker, deren „rassische Grundkräfte“ beson- ders im deutschen Volk am unverbrauchtesten bewahrt seien, als kulturschöpferisch. Er propagiert eine methodische „Hochzüchtung“ der germanischen Rasse, da deren

„ursprüngliche Reinheit“ verlorengegangen sei. Mit größter Intensität warnt er vor

„Rassenvermischungen“, insbesondere mit den Juden, die geradezu eine „Antirasse“

zum Germanentum darstellten. Im Falle einer Zeugung von „Bastarden“ werde deren Blut auch nach vielen Generationen immer wieder „durchschlagen“.40 Chamberlains

37 Vgl. Müller-Claudius (wie Anm. 33), S. 124-126

38 Vgl. Herbst (wie Anm. 34), S. 285

39 Neben Marr sind hier der Wissenschaftstheoretiker Eugen Karl Dühring (1833-1921) und der Publizist Theodor Fritsch (1852-1933) zu nennen. Dühring vertrat in seinem Traktat „Die Judenfrage als Ras- sen-, Sitten- und Culturfrage“ (1881) die Auffassung, dass der Jude alle Bereiche des gesellschaftlich- kulturellen Lebens parasitär besetze. Fritsch verfasste einen umfangreichen „Antisemiten- Katechismus“ (1887; in späteren Auflagen „Handbuch der Judenfrage“; 41. Auflage 1940 mit einem Vorwort Hitlers). Er wurde damit zu einem herausragenden Vertreter der völkischen Bewegung und für die Nationalsozialisten zu einer Kultfigur. Er sah die Juden vom körperlichen und geistigen Aspekt her als „Zersetzungsprodukt“, d.h. als eine uralte, aussterbende Rasse, die andere Rassen parasitär ausbeuten müsse, um nicht unterzugehen. (Vgl. Adam (wie Anm. 22), S. 14 f.)

40 Vgl. a) Adam (wie Anm. 22), S. 15 f., b) Das große Lexikon des Dritten Reiches (wie Anm. 21), S. 100, c) Karl Saller, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Darmstadt 1961, S. 33 ff.

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Werk wurde von Hitler sorgfältig durchgearbeitet und beeinflusste die national- sozialistische Weltanschauung nachhaltig.

Ein weiteres Mitglied des Wagner-Kreises, Ludwig Schemann (1852-1938) übersetzte Gobineaus Werke ins Deutsche. 1894 gründete er die Gobineau-Vereinigung mit dem Ziel, Gobineaus Rassenwerk einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen.

Er wie auch Wagner und sein Bayreuther Kreis trugen entscheidend zur propagan- distischen Verbreitung des Gobineauschen Schrifttums bei. So wurde Gobineau in Deutschland früher und intensiver rezipiert als in Frankreich. Im Unterschied zu Gobineau gab Schemann seinen Interpretationen eine eindeutig antisemitische Richtung.41

In der Folgezeit wurden Verbindungen geknüpft zwischen der Gobineau-Vereinigung und der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und anderen wissenschaftlichen Organisationen.42 Diese Verbindungen waren inoffiziell und eher persönlicher Art.

Öffentlich wollte sich die Gesellschaft für Rassenhygiene nicht zum Gobinismus bekennen, weil dieser als „unwissenschaftlich“, auf jeden Fall nicht naturwissen- schaftlich galt. Bekannte Rassenhygieniker wie Ploetz, Fischer und Lenz unterstützten bzw. befürworteten Schemanns Aktivitäten und waren ihm freundschaftlich-kollegial verbunden. Fischer hatte beispielsweise eine staatliche Unterstützung für Schemanns

Werk als Gutachter befürwortet und war deshalb im Parlament von einem SPD-Abgeordneten angegriffen worden.

1.2.2.3 Erbforschung

Verfolgt man an dieser Stelle den Fortgang der genetischen Forschung, so fällt auf, dass viele Erkenntnisse erst in der Entwicklung begriffen waren. Dass die Chromosomen als Träger der Erbmasse sich im Zellkern befinden, und dass die Gene aufgrund ihrer Loka- lisation unterschiedlich stark aneinander gekoppelt sind, wurde erstmals durch Thomas Hunt Morgan (1866-1945) in den USA erkannt.43 In seinen Veröffentlichungen „The

41 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 94

42 Vgl. Weingart (wie Anm. 5), S. 97

43 Vgl. G. Heberer, Crossing Over oder Konversion der Gene, in: Der Biologe, 2. Jahrgang 1932/33,3, S. 63, über Morgans Hypothesen zur Erklärung der Faktorenkoppelung und des Faktorenaustausches

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Mechanism of Mendelian Heredity“ (1915) und „The Physical Basis of Heredity“

(1919) formulierte er treffend seine Vorstellungen von der Rolle der Gene als Erbträger.

Neue Erkenntnisse bezüglich der multifaktoriellen Vererbung sowie des „Crossing- Over“ schlossen sich an. Mendel hatte die freie Kombinierbarkeit der Erbfaktoren postuliert. Morgan glaubte, dass die Gene – der Begriff stammte von dem britischen Biologen William Bateson – perlschnurartig auf den Chromosomen angeordnet seien.

Alle auf einem Chromosom sich befindlichen Gene wurden tendenziell gemeinsam, d.h.

gekoppelt vererbt. Nachdem Morgan das „Crossing-Over“ entdeckt hatte, postulierte er, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Gene gekoppelt vererbt würden, umso größer sei, je enger diese beiden Gene auf einem Chromosom beieinander lägen.

In Deutschland richteten die Botaniker Carl Correns und Erwin Baur unterdessen ihr Augenmerk auf das Erbmaterial außerhalb des Zellkerns. 1909 veröffentlichte Correns die Ergebnisse seiner cytoplasmatischen Vererbungsforschung bei der Wunderblume Mirabilis. Er bezeichnete plasmatische Faktoren als Ursache der nicht-mendelnden Vererbung. Baur, der mit dem Löwenmäulchen forschte, führte bestimmte Erschei- nungsformen im Phänotyp der Pflanzen auf genetische Veränderungen in den Plastiden44 zurück (diese neuen Erkenntnisse sind nach heutigem Wissen zutreffend).

Ab 1926 übernahmen die deutschen Wissenschaftler die Taufliege Drosophila melano- gaster als Versuchsobjekt, da diese sich in den USA (Morgan-Schule) und in Russland (Chetverikov/Timoféeff-Ressovsky)45 aufgrund ihrer Vorteile als Forschungsgegen- stand bewährt hatte (geringer Raumbedarf, billige Haltung, reiche Merkmalsbildung und eine extrem kurze Generationsdauer).

In den 1930er Jahren kam es zur Entdeckung neuer Gesetzmäßigkeiten. Fortschritte im Bereich Molekulargenetik wurden in der Genetischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm- Instituts (KWI) für Hirnforschung erzielt. Der Russe Nikolai W. Timoféeff-Ressovsky

44 Plastiden sind von zwei Membranen umgrenzte Zellorganellen des Protoplasmas. Sie tragen in verschiedener Weise zur Speicherung von Energie bei.

45 Timoféeff hatte bei Chetverikov Manifestationen der Polyphänie bei Drosophila entdeckt. Im Hinblick auf Fragen zum Mechanismus der Evolution erkannte Chetverikov als erster die trotz ihrer morpholo- gischen Einheitlichkeit große genetische Variabilität in tierischen und pflanzlichen Populationen, die Material für das Wirken der Selektion darstellt. Er hatte so eine Synthese von Mendelgenetik und klassischem Darwinismus (Selektionstheorie) geschaffen. (vgl. Ute Deichmann, Biologen unter Hitler, Frankfurt a.M. 1995, S. 160)

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(1900-1981), der nach 1925 diese Abteilung als Assistent mit aufbaute und ab 1928 dem KWI für Hirnforschung als Abteilungsleiter vorstand, arbeitete an der Klärung von Fragen der Genmanifestierung, das heißt der Beeinflussung der Wirkung eines Gens durch andere Gene oder durch Umweltfaktoren. Als Schüler des russischen Genetikers Sergej Chetverikov ging Timoféeff von der Erkenntnis aus, dass tierische und pflanz- liche Populationen über eine große genetische Variabilität verfügen, die nicht im äußeren Erscheinungsbild erkennbar ist.

1927 wies Hermann J. Muller, ein Assistent Morgans, an Drosophila die künstliche Mutationsauslösung durch Röntgenstrahlen nach. Timoféeff definierte die Mutation als

„Ein-Treffer-Ereignis, das durch eine einzige strahlenbedingte Ionisation in einem Trefferbereich, dem Gen, zustande kommt.“ Dies war für ihn und seine Kollegen Delbrück und Zimmer, mit denen er 1935 das Werk „Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur“ veröffentlichte, die Erklärung für die molekulare Beschaffenheit eines Gens.46

Vergleiche zur Vererbung beim Menschen konnten allerdings aufgrund der sehr viel längeren Generationsfolge nur allmählich gezogen werden bzw. konnten letztendlich nicht wissenschaftlich belegt werden. Die Basis der menschlichen Erbforschung blieb die Ahnen- und Familienforschung.

1.2.2.4 Rassenhygiene und Nationalsozialismus

Hitler sah in der Abwendung der Degeneration eine Aufgabe der Politik. Er forderte die rassische Höherentwicklung des deutschen Volkes durch eugenische Maßnahmen und durch die Entfernung alles „fremdrassigen“ und vermeintlich „schlechten Erbguts“ aus dem deutschen „Volkskörper“. Die Radikalität dieser Forderungen schlug sich in den Kampfparolen des politischen Antisemitismus nieder.

Es wurde versucht, die Diskrepanz zwischen Rassenideologie und wissenschaftlicher Entwicklung durch möglichst viele wissenschaftliche Beiträge in der rassen- hygienischen Literatur auszugleichen, aber eigentlich wurde nichts wirklich Neues veröffentlicht, was den rasanten Aufstieg der NS-Ideologie hätte rechtfertigen können.

46 Vgl. Deichmann (wie Anm. 44), S. 163

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Diese fußte also auf einem nur scheinbar wissenschaftlichen Fundament. Als Urheber bzw. Vorantreiber muss man in erster Linie die Rassenhygieniker selbst anführen, hier vor allem die Mediziner und Biologen zahlreicher Sparten. Diese sahen in der NS-Bewegung wohl auch eine Chance zur weiteren Unterstützung ihrer Arbeit und zum Fortgang ihrer Karrieren. Dies wird bestätigt durch die Tatsache, dass die NSDAP die ideologischen Ideen der Rassenhygieniker in ihr Parteiprogramm einarbeitete bzw.

Institute zur weiteren rassenideologischen Forschung schaffte.

Da die „Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene“ also allein schon durch das Parteiprogramm der NSDAP klar definiert zu sein scheint47, ist es interessant zu erfahren, welche Rolle die Rassenhygiene im Nationalsozialismus tatsächlich spielte, wie aus ihr Konsequenzen gezogen wurden, und mit welchen Mitteln bzw. auf welche

Art und Weise sie der Partei zu ihrer angestrebten Weltmacht verhelfen sollte, ob dies bedingungslos geschah oder doch mit einem gewissen Widerstand, und wo letztendlich

die entscheidenden Erfolge zu verbuchen waren. Denn Ziel war es ja vor allem, die Weltanschauung der Gesamtbevölkerung zu beeinflussen, und welches Mittel war da besser geeignet als die Vereinnahmung des Bereiches Schule, den ja jeder einmal durch- laufen muss. (Im Hauptteil der Arbeit soll noch untersucht werden, inwiefern hier ein Widerstand unter den deutschen Biologen erkennbar ist.)

Die folgenden Zitate legen den Standpunkt Adolf Hitlers zum Thema Erziehung und Rassenhygiene dar und entstammen seiner Programmschrift „Mein Kampf“:

„Wer der Jugend Seele kennt, der wird verstehen können, dass gerade sie am freudigsten die Ohren für einen solchen Kampfruf öffnet.“48

„Der völkische Staat wird dafür sorgen müssen, durch eine passende Erziehung der Jugend dereinst das für die letzten und größten Entscheidungen auf diesem Erdball reife Geschlecht zu erhalten. Das Volk aber, das diesen Weg zuerst betritt, wird siegen.“49

„Es ist im übrigen die Aufgabe eines völkischen Staates, dafür zu sorgen, daß endlich eine Welt- geschichte geschrieben wird, in der die Rassenfrage zur dominierenden Stellung erhoben wird.“50

47 Vgl. F. Lenz in: „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“, 1931, Bd. 25, Heft 3

48 Hitler (wie Anm. 1), S. 10

49 Hitler (wie Anm. 1), S. 475

50 Hitler (wie Anm. 1), S. 468

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“Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anver- trauten Jugend hineinbrennt.“51

„Planmäßig ist der Lehrstoff nach diesen Gesichtspunkten aufzubauen, planmäßig die Erziehung so zu gestalten, daß der junge Mensch beim Verlassen seiner Schule nicht ein halber Pazifist, Demokrat oder sonst was ist, sonder ein ganzer Deutscher.“52

„Der völkischen Weltanschauung muß es im völkischen Staat endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst, ein Zeitalter, in dem der eine erken- nend schweigend verzichtet, der andere freudig opfert und gibt.“53

1.2.2.5 Biologismus

Hitlers Vorstellungen vom Daseinskampf, die die „Ausmerze“ aller für minderwertig erklärten Menschen beinhalteten, stützten sich unter anderem auch auf das Denkmuster der „Natürlichkeit“ des Deutschen Volkes. Begriffe wie Heimat, Volk, Rasse, Blut, Auslese, Lebensraum, Lebensgemeinschaft, Boden oder Landschaft wurden im Hinblick auf den „Kampf ums Dasein“ ganz gezielt gefärbt. Es kam zur „biolo- gistischen Vereinnahmung der Natur“.54 So wird der Biologismus häufig auch als „Na- turalismus“ (nicht im literarischen Sinne) bezeichnet, weil er den Primat der Natur über die Kultur betont.

Im Biologismus werden die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Erkenntnis ebenso wie jene des Handelns einzig aus biologischen Bedürfnissen und Gesetzen erklärt. So werden nicht-biologische Phänomene, z. B. aus dem philosophischen, sozialen, histo- rischen oder kulturellen Bereich, biologisch interpretiert. Die Ideologie der National- sozialisten kann als übersteigerte Form des Biologismus aufgefasst werden. Nicht zuletzt dadurch galt Ernst Haeckel als der wissenschaftliche Wegbereiter des National-

51 Hitler (wie Anm. 1), S. 475 f.

52 Hitler (wie Anm. 1), S. 474

53 Hitler (wie Anm. 1), S. 449

54 Trommer (wie Anm. 9), S. 225

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sozialismus, denn er war es, der im Rahmen des Sozialdarwinismus den biologistischen Ansatz populär machte.55

Die sozialpolitischen Maßnahmen in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugunsten der unteren Stände waren in den Augen der Rassenhygieniker als selektio- nistisch ungünstig anzusehen, da die sogenannte ‚Individualhygiene’ nicht nur die Starken, sondern auch die Schwachen förderte. Es kam zur sogenannten Kontra- selektion, bei der die sozial Schwachen sogar begünstigt waren (Herabsetzung der Kindersterblichkeit in den meist kinderreichen Familien).

Die sozial Schwachen und auch die Kranken im Lande seien nicht durch Benach- teiligung innerhalb des sozialen Gefüges schwach bzw. krank geworden. Vielmehr wurde die Vererbung „niederer Eigenschaften“ an den Anfang der Argumentationskette gestellt, um so deren Leben von vorneherein als „minderwertig“ bezeichnen zu können.

Damit deuteten die Eugeniker die soziale Ungleichverteilung von Krankheit und Gesundheit biologisch. Das sogenannte „Ideal der Dekadenz“, wonach körperliche Hinfälligkeit und gesundheitliche Schwäche Mittel bzw. Voraussetzung für die geistige Reifung der oberen Klassen waren, wurde durch die Eugeniker umgekehrt.

Als die sogenannte „biologistische Deutung der Degeneration“ bezeichnet Weingart den folgenden Sachverhalt: Die „Ursache der Degeneration waren nicht die sozialen Verhältnisse, sondern die Degeneriertheit der Betroffenen war Ursache ihrer Lebensbe- dingungen.“56

Diese kurzen Ausführungen zum Begriff des Biologismus sind in den folgenden Kapiteln vor allem dann zu berücksichtigen, wenn vom sogenannten „biologischen Denken“ die Rede sein wird, zu dem die Schüler im Rahmen der NS-Lebenskunde erzogen werden sollten.

55 Vgl. S. 4 f. dieser Arbeit

56 Weingart (wie Anm. 5), S. 124 f.

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