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Kritische Impulse aus der neo-schumpeterschen Innovationsökonomie

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Kritische Impulse aus der neo-schumpeterschen Innovationsökonomie

Die wissenschaftspolitische Forschungsstelle Science Policy Research Unit (SPRU) in der Universität Sussex, 1966 von Christopher Freeman (1921- 2010) gegründet, stellt bis heute ein Zentrum europäischer Innovationsfor- schung dar. Es hat vergleichbare Einrichtungen wie das von ihm mit Luc Soe- te (geb. 1950) Mitte der 1990er Jahre ins Leben gerufene Maastricht Econo- mic Research Institute on Innovation and Technology (MERIT) beflügelt. Hier entstanden in interdisziplinärer Zusammenarbeit zahlreiche wissenschafts- und forschungspolitisch bedeutsame Studien zu den Wechselbeziehungen von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und institutionellen Akteuren bis hin zu regionalen und nationalen Innovationssystemen („systems of innovation“), die in ihrer historisch-evolutionären Perspektive eine Herausforderung für die ne- oklassischen Lehrmeinungen darstellen.1 Überdies kulminieren die Vorschlä- ge einiger Autoren in einer „grünen“ Innovationsstrategie auf informations- technischer Grundlage, die eine Zurückdrängung der ökonomischen Finanzia- lisierungs- und sozialen Polarisierungsprozesse einschließt. Wir geben eine Einführung in einige konzeptionelle Beiträge aus der in der BRD wenig be- achteten Sussex-Schule, die begründete Alternativen aus der Krise des ge- genwärtigen Kapitalismus eröffnen.

1. Joseph A. Schumpeter: Ideengeber für neuere Innovati- onskonzepte

Für Schumpeter (1883-1950) stand die kapitalistische Dynamik im Mittel- punkt, in der kreative Unternehmer neue Kombinationen von Produktionsfak- toren oder Innovationen durchsetzen. Er insistierte darauf, dass die wirtschaft- liche Expansion von verfügbaren Innovationspotentialen als Motor für profi- table Investitionen vorangetrieben wird.2 Im Unterschied zu Nikolai Dmitri- jewitsch Kondratieffs (1892-1938) Orientierung an längerfristigen Bewegun- gen von Preisen, Zinsraten und Handelsbilanzen führte er die Einzigartigkeit jedes längeren Zyklus auf ein Spektrum technischer Innovationen mit neuen Antriebskräften wie der Dampfmaschine, der Eisenbahn oder elektrischen E- nergie zurück. Nicht Subventionen und Steuergeschenke, sondern steigende Profiterwartungen lösen nach ihm jenes Investitionsfieber aus, für das Keynes den metaphorischen Ausdruck der „tierischen Instinkte“ („animal spirits“)

1 Dosi, G; Freeman, C.; Nelson, R.; Silverberg, G.; Soete, L. 1988: Technical Change and Eco- nomic Theory. London and New York. Freeman, C. 1995: The “National ‘System of Innova- tion’ in Historical Perspective”. In: Cambridge Journal of Economics 19, Nr. 1, 5-24. Free- man, C.; Soete, L. 1997: The Economics of Industrial Innovation. London.

2 Schumpeter, J.A. (1912): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin.

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fand. Schumpeters besondere Aufmerksamkeit galt den kreativen Unterneh- mern als entscheidenden Akteuren in den „aufeinander folgenden industriellen Revolutionen“. Diese zerstören die etablierten, an ihre Grenze stoßenden Pro- duktionsformen durch radikale Innovationen, sich weit verbreitende Basis- technologien, die über ein halbes Jahrhundert Wachstum und Niedergang bestimmen.3 Schon in den 1910er/1920er und dann wieder in den 1970er/1980er Jahren gab es intensive Bemühungen zur statistischen Erfas- sung langer Zyklen oder Wellen anhand verschiedener Indikatoren, die bis heute umstritten blieben.4 Die hier vorgestellten Autoren verschoben die Ak- zentsetzung jedoch von quantitativen Nachweisen zur qualitativen Diskussion komplexer technisch-ökonomischer und politisch-institutioneller Wechselbe- ziehungen im historischen Verlauf der technologischen Revolutionen.5 In einer an Joseph A. Schumpeter anknüpfenden gemeinsamen Studie zu langen Wellen und ökonomischer Entwicklung zeigte Freeman mit John Clark und Luc Soete6, dass längere technisch-ökonomische Entwicklungszusammenhänge or- ganisatorische Innovationen in den Unternehmen und Qualifizierungsprozesse der Beschäftigten bis hin zu institutionellen Anpassungen, insbesondere der Ausbildungssysteme und Arbeitsmärkte, einschließen. Solcherart systemische Sichtweisen erweiterten Schumpeters Innovationstheorie um die vorhergehende Phase der wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen sowie um die folgende Phase der Diffusion neuer Produkte und Prozesse mit klein- schrittigen Verbesserungen und Lerneffekten zwischen Produzenten und Nut- zern in der breiteren Anwendung.7 Es handelt sich um vielfältige Interaktions- prozesse, die sich schließlich zu einem vorherrschenden technisch- ökonomischen Entwicklungspfad bündeln. Schumpeter dagegen interpretierte technologische Revolutionen vorwiegend im Kontext dynamischer Markt- gleichgewichte, in denen gesellschaftliche Einflüsse und politische Interventio- nen nur eine marginale Rolle spielen.

3 Schumpeter, J.A. 1961: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Ana- lyse des kapitalistischen Prozesses, 2 Bde. Göttingen 1961 (Business Cycles: 2 vols. 1982).

4 So fand in den 1980er Jahren nicht nur in den angelsächsischen Ländern, sondern auch in der Bundesrepublik eine kontroverse Diskussion statt. Hierfür stehen zwei Argumentationen pro und contra mit umfangreichen Literaturnachweisen: Kleinknecht, A. 1984: Innovationsschübe und Lange Wellen: Was bringen „neo-schumpeterianische“ Kriseninterpretationen? In: Pro- kla 57, Dez., 55-57. Goldberg, J. 1985: Das Konzept der ‚Langen Wellen der Konjunktur‘. Ei- ne Kritik theoretischer Aspekte. Informationsbericht 41 des IMSF, Frankfurt/M., 51-96. Ferner ein diskursiver Austausch der Zeitschriften Prokla, SPW und Sozialismus sowie der Arbeits- gruppe Alternative Wirtschaftspolitik und des Instituts für Marxistische Studien und For- schungen zu ökonomischen Tendenzen und gesellschaftlichen Entwicklungsperspektiven:

Kontroversen zur Krisentheorie, Hamburg 1986.

5 Ausführliche methodologische Überlegungen bei Freeman, C.; Louça F. 2001: As Time Goes By: From the Industrial Revolutions to the Information Revolution. Oxford, 9-135.

6 Freeman, C.; Clark, J.; Soete, L. 1982: Unemployment and Technical Innovation. A Study of Long Waves and Economic Development. London.

7 Lundvall, B.-A. (Ed.) 1992: National Systems of Innovation. Towards a Theory of Innovation and Interactive Learning. London.

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Die Autorengruppe führt aus, dass zu Beginn einer technologischen Revoluti- on die rasche Expansion neuer technischer Anwendungen mit dem Ziel von Extraprofiten und größeren Marktanteilen im Vordergrund steht. Im Zuge steigender Reife verlagert sich infolge intensiverer Konkurrenz der ökonomi- sche Druck jedoch zu kostensparenden Prozessinnovationen, insbesondere durch Mechanisierung, Automatisierung und Computerisierung. Diese techni- schen Leitpfade bringen mit wachsender Kapitalintensität und sinkenden Pro- fiten einen Umschlag der Akkumulationsbedingungen mit sich, die eine Phase geringeren Wachstums, steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender sozialer Spannungen einläuten.8 Nunmehr sollte gegenüber monetärer Zurückhaltung oder die Nachfrage stimulierender Fiskalpolitik, so schlagen die Autoren vor, die öffentliche Förderung von Forschung und Entwicklung, Innovationen und Investitionen ein größeres Gewicht gewinnen.

Auch wenn Schumpeter im Unterschied zu den beschriebenen Tendenzen ei- ner Vergesellschaftung der Innovationsfunktion grundsätzlich von dem schöp- ferischen „Entrepreneur“ ausging, reflektierte er bereits die zunehmende Vor- herrschaft großer bürokratisch geführter Kapitalkomplexe, mit denen bei ho- her technokratischer Leistungsfähigkeit zugleich die kreativen unternehmeri- schen Innovationsfunktionen erlahmten.9 Diese drohen dann in wirtschaftliche Sackgassen zu führen, wenn angesichts sinkender Nachfrage infolge verstärk- ter Polarisierung der Einkommen bei einsetzender Finanzialisierung die Pro- fitvermehrung durch Finanztransaktionen an Gewicht gewinnt. Mit der Fi- nanzspekulation gerät die Balance mit der Realökonomie aus dem Lot.

2. Christopher Freeman: sozio-institutionelle Bedingungen kapitalistischer Innovationssysteme

Was Marx bereits in seiner These der künftigen Verwissenschaftlichung der Produktion angedeutet hatte, sollte später J.D. Bernal anhand der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften empirisch herausarbeiten.10 Bernals opti- mistische Vorstellung ihrer grenzenlosen Möglichkeiten als entscheidender menschlicher Lebensäußerung zur Lösung sozialer Probleme brach sich jedoch, wie er selbst zeigte, immer wieder an ihrer militärischen und herrschaftlichen

8 Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zu Marxens Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, aber auch zu Keynes‘ Vorstellung einer sinkender Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals.

9 Schumpeter, J.A. 3. Aufl. 1972: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. München (Capi- talism, Socialism and Democracy. New York 1942). Achtes Kapitel: Monopolistische Prakti- ken, 143-175. In diesem Zusammenhang weisen Freeman et al. (a.a.O. 78) die Kritik Ernest Mandels an Schumpeters Vernachlässigung des Profitmotivs zurück, würdigen aber zugleich Mandels Beiträge zu Tendenzen gespaltener Profitraten (Mandel, E. 1972: Der Spätkapitalis- mus. Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt/Main, 70-100).

10 Marx, K. 1953: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858.

Berlin. Bernal, J.D. 1986: Die soziale Funktion der Wissenschaft, Köln (London 1939); Ber- nal, J.D. 1961: Die Wissenschaft in der Geschichte (London 1954; Taschenbuchausgabe Rein- bek bei Hamburg 1970).

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Indienstnahme. Umso mehr Gewicht legte sein Schüler Freeman auf gesell- schaftliche und wissenschaftliche Institutionen, die kritische Debatten auf der Grundlage von Fakten, Experimenten, Erfahrungen und logischen Argumenten befördern. In den Untersuchungen zu Forschung und Entwicklung, Innovation und Diffusion in forschungsintensiven Branchen wie der Chemie und Elektro- nik gewann Freeman ein erweitertes Verständnis von wirksamen Zusammen- hängen zwischen radikalen und kleinteiligen Innovationen, komplexen techno- logischen Systemen und Innovationskonstellationen bis hin zu technisch- ökonomischen Paradigmen.11 Die Wechselwirkungen zwischen technisch- industriellen und sozial-ökonomischen wie auch politisch-institutionellen Fakto- ren konstituieren zugleich einen historisch nichtlinearen Prozess, der als Ge- genstand der Analyse den Übergang zur „evolutionären Ökonomie“ markiert.12 Freeman lässt mit Marx und Schumpeter keinen Zweifel daran, dass bei allen technisch-ökonomischen Interaktionen eine vorherrschende Rolle den Gewin- nerwartungen der Unternehmen zukommt, die Extraprofite in einem quasi sozi- aldarwinistischen Wettbewerb erzielen wollen.13 Die hierdurch angetriebenen Diffusionsprozesse neuer Technologien in der gesamten Wirtschaft haben schließlich sinkende Profite mit Zusammenbrüchen, Konzentrationsprozessen und Rationalisierungsschüben zur Folge, die den Ausgang für einen neuen in- novationsgestützten Wachstumszyklus bilden können. Auch wenn starke Ge- werkschaften und soziale Regelwerke die „Profitimperative des kapitalistischen Wettbewerbs“ dämpfen, schließt Freeman, rückblickend in die USA des frühen 20. Jahrhunderts, die Möglichkeit einer Verhinderung der Einführung des Fließ- bandsystems und des Verbrennungsmotors als Grundlage der Massenproduktion aus. Angesichts der komplementären organisatorischen Innovationen und insti- tutionellen Anpassungsprozesse im sich herausbildenden Fordismus stellt Freeman eine entscheidende politisch-strategische Frage für Gestaltungsoptio- nen: „Wie viel Freiheit haben wir wirklich, eine große Welle technischer und organisatorischer Innovationen zu modifizieren und anzupassen, wenn sie ent- scheidende ökonomische Vorteile für konkurrierende Unternehmen in einer ka- pitalistischen Wirtschaft bieten?“14

11 Freeman, C. 1992: The Economics of Hope. Essays on Technical Change, Economic Growth and the Environment. London and New York. Die Essaysammlung umfasst ein breites Spekt- rum des Wirkens von Freeman zu wissenschaftlichen und technischen, vor allem innovations- und evolutionstheoretischen Aspekten, aber auch zu Fragestellungen ökologischen Wachs- tums, der Lebensqualität und des gesellschaftlichen Fortschritts. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text.

12 Die Ausführungen Freemans können hier nicht weiterverfolgt werden. Schon Schumpeter spricht, sich auf Marx beziehend, vom „evolutionären Charakter des kapitalistischen Produkti- onsprozesses“ (1972 [1943], 136) Siehe das 1982 veröffentlichte Standardwerk von R.R. Nel- son und S.G. Winter: An Evolutionary Theory of Technical Change. (Cambridge), das in seiner Stoßrichtung gegen die Neoklassik zugleich Grundlagen für die neo-schumpetersche Innovati- onsökonomie liefert.

13 Siehe auch Keynes, J.M. 1930: Treatise on Money. Volume 2. London, 86.

14 Freeman, C. 1992: Innovation, changes of techno-economic paradigm and biological analo-

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Ausgehend von der Erschöpfung der fordistischen Betriebsweise der Massen- produktion, ihrer technisch-organisatorischen Grundlagen, einer allgemeinen Marktsättigung und der Erosion der Profitraten beginnt sich seit den 1980er/1990er Jahren ein weitgehend informationstechnisch bestimmter Para- digmenwechsel abzuzeichnen. Mit den hierbei auftretenden Brüchen und Dis- proportionen, Reibungen und Konflikten im Widerstreit unterschiedlicher In- teressen, den Bremsspuren des überkommenen institutionellen Rahmens er- klärt Freeman die zunächst relativ geringe oder gar sinkende Arbeitsprodukti- vität („Solow´s Paradox“), die er auf nicht ausreichende organisatorische In- novationen, betriebliche Lernprozesse und institutionelle Anpassungen, die

„Fesseln bisheriger Produktionsverhältnisse“, zurückführt. Diese Deutung sieht er durch die Produktivitätsstudie des MIT zur Situation der amerikani- schen Wirtschaft bestätigt.15 Schon Jahre zuvor hatte er in dem Aufsatz

„Prometheus unbound“ (160-174) für ein Zusammenspiel des zu erneuernden sozio-institutionellen Rahmens mit einem durch Informations- und Kommu- nikationstechniken (IKT) geprägten neuen ökonomischen Paradigma plädiert.

Mit der Abkehr von material-, energie- und kapitalintensiven Produktionspfa- den sowie der Orientierung an einem kapitalsparenden und Beschäftigung schaffenden Wachstum könnten, so seine optimistische Perspektive, entgegen den „Grenzen des Wachstums“ ökologisch und sozial nachhaltige Wirkungen erzeugt werden, die breite, sich wechselseitig bedingende Partizipations- und Qualifizierungsmöglichkeiten einschließen.

Das aktivierte demokratische Potenzial stellt, so Freeman, einen Geburtshelfer für transformative gesellschaftliche Entwicklungsprozesse dar, denen die IKT eine technisch-organisatorische Grundlage bieten könnten.16 Entsprechend schlug er 1992 ein langfristiges Wachstumsprogramm zur Verringerung der weltweiten sozialen Polarisierungsprozesse vor, das zugleich als ein „Envi- ronmental Bretton Woods“ auf ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtet wer- den müsste (190-211).17 Hiermit sollten die erforderliche Rekonstruktion na- tionaler und vor allem internationaler Institutionen im Rahmen der UN, der Weltbank und des Weltwährungsfonds sowie die Gründung einer neuen Inter- nationalen Technologieagentur einhergehen.

gies in economics. In: The Economics of Hope.…, hier 131. Hierauf haben arbeits- und tech- nikpolitische Programme seit den 1970er Jahren in Europa entsprechend ihren jeweiligen ge- sellschaftlichen Rahmenbedingungen eine unterschiedliche Antwort gegeben (Siehe Oehlke, P.

2013: Arbeitspolitische Impulse für soziale Produktivität. Fallstudien zu regionalen, nationa- len und europäischen Aktivitäten. Hamburg)

15 Dertouzos, M.L.; Lester, R.K.; Solow, R.M. 1989: Made in America: Regaining the Produc- tive Edge. Cambridge/Mass.

16 Die gesellschaftliche Aktivierung im Interesse einer sozialen Integration neuer Technologien, sozialer Innovationen und demokratischer Werte wird explizit in der OECD-Studie New Tech- nologies in the 1990s. A Socio-economic Strategy (Paris 1988) einer Expertengruppe unter Vorsitz von Ulf Sundqvist angesprochen, in der Freeman and Soete mitgewirkt haben.

17 A green techno-economic Paradigm for the world economy. In: The Economics of Hope …, 190-211.

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3. Carlota Perez: Die wechselnde Rolle des Finanzkapitals bei techno-ökonomischen Paradigmenwechseln

Carlota Perez (geb. 1939) hat, gestützt auf Erkenntnisse ihres Lehrers Freeman, eine Theorie der „techno-ökonomischen Paradigmenwechsel“ ausgearbeitet, die in „gewaltigen Wogen“ („huge surges“) die letzten 240 Jahre des Industriekapi- talismus bestimmten. Wo Kondratieff ein langfristiges Auf und Ab von Preisen entdeckte, Schumpeter eine qualitative Abfolge von technologischen Revolutio- nen herausstellte, zeigt Perez darüber hinaus ein komplexes Zusammenspiel von neuen Technologien, Märkten und Institutionen: „Jede technologische Revolu- tion bringt nicht nur eine komplette Umstrukturierung der Produktion, sondern letzten Endes eine Transformation der Institutionen, der Regierung, der Gesell- schaft und sogar der Ideologien und Kulturen mit sich, die so tief gehen, dass man von der Konstruktion aufeinanderfolgender und verschiedener Wachs- tumsmodi in der Geschichte des Kapitalismus sprechen kann“ (24f).18 Zugleich zeigt sie auf, dass jede „gewaltigen Woge“, bei aller historischen Individualität in ihrem Verlauf, wiedererkennbaren Mustern folgt.

In diesem Kontext arbeitet sie die unterschiedlichen Existenzformen des Pro- duktions- und Finanzkapitals sowie die unterschiedlichen Funktionen des letzte- ren im Verlauf längerer Zyklen heraus. Während das nicht gegenständlich ge- bundene und flexibel agierende Finanzkapital sich auf die Re-Allokation des Produktivkapitals mit dem Ziel kurzfristiger Profitmaximierung orientiert, ist das letztere eingebettet in Produktions-, Arbeits- und Organisationsstrukturen, externe Netzwerke aus Zulieferern, Verkäufern und Kunden, aber auch For- schungs- und Wissens-, Bildungs- und Erfahrungsbestände. Während diese Un- terschiede im ökonomischen Mainstream wenig beachtet werden, spielen sie, so die Autorin, eine entscheidende Rolle in den Aufschwung- und Abschwungpha- sen der Zyklen. Perez gibt eine differenzierte Analyse der Rolle des Finanzkapi- tals, das quasi als Geburtshelfer den finanziellen Brennstoff für die Einführung radikaler Innovationen als Motoren wirtschaftlicher Entwicklung liefert – eine zunächst progressive Rolle, die mit der von ihm im Ablauf des Zyklus bewirk- ten Verschärfung sozio-ökonomischer Differenzierungs- und Polarisierungspro- zesse ins Gegenteil umschlägt, bevor ruhigere Fahrwasser durch erfolgreich er- neuerte Regulationsformen erreicht werden können, mit denen das Produktions- kapital wieder in veränderter Gestalt instandgesetzt wird.

In der regulationstheoretisch angereicherten Fortschreibung der Theorie lan- ger Wellen identifiziert Perez fünf Zeitalter, die geprägt sind durch technolo- gische Cluster: die industrielle Revolution (mit Werkzeug-, Textil- und Dampfmaschinen) ab 1771; Dampfkraft und Eisenbahn ab 1829; Stahl, Elekt- rizität und Schwermaschinenbau ab 1875; Öl, Auto und Massenproduktion ab

18 Perez, C. 2002: Technological Revolutions and Financial Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden Ages. London. Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch. Siehe auch Perez, C. 2004: Finance and technical change: A long-term view. In: Hanusch, H; Pyka, A.

(Eds.): The Elgar Companion to Neo-Schumpeterian Economics. Cheltenham.

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1908; die Informations- und Telekommunikationstechniken ab 1971 (11). Die Jahreszahlen verweisen auf einen technischen „Big Bang“ am Beginn jeder

„gewaltigen Woge“, der vorausschauenden Zeitgenossen die neuen Potentiale vor Augen führt. Das galt für Arkwrights wasserbetriebene Spinnmaschine im ersten Zyklus, die „Rocket“-Dampflokomotive im zweiten ebenso wie im vierten für das Model T der Ford Motor Company und im letzten für den In- tel-Microprozessor in Santa Clara, der die Ablösung der fordistischen Mas- senproduktion durch die Informationsökonomie einläutete. Jede technische Revolution ermöglicht ein höheres Produktivitätsniveau, das im Verlauf jeder Woge in den zentralen Wirtschaftsbereichen der Kernländer nach und nach realisiert wird – zunächst in Großbritannien, dann auch in den USA und Deutschland, schließlich in weiteren europäischen und asiatischen Ländern.

Doch um die Potentiale erschließen zu können, braucht es Menschen, die sich damit auskennen und unterstützende Infrastrukturen. Ein Auto nutzt nicht viel ohne Straßen, Tankstellen und Menschen, die es fahren oder reparieren kön- nen. Und damit nicht genug. Wo stände die Autoindustrie heute ohne die Er- findung des Konsumentenkredits? Eine technologische Revolution erfordert also, um wirken zu können, massive und anhaltende Investitionen in die tech- nische und soziale Infrastruktur, in menschliches Wissen und Können, aber auch Geld- und Kreditgeber, ein entfaltetes Banken- und Finanzsystem wie staatliche und heute transnationale Förderprogramme. Somit erweisen sich Pe- rez‘ techno-ökonomische Paradigmen als ein begriffliches Pendant zur regula- tionstheoretischen Dialektik von „Akkumulationsregimen und Regulations- weisen“. Zugleich steckt in der impliziten Analogie zu Thomas Kuhns Theo- rie der wissenschaftlichen Revolutionen auch der Hinweis, dass die Abfolge der Paradigmen kein linearer, friedlicher Vorgang ist, sondern eher „kreative Zerstörung“, wenn das Neue sich in erbitterten Kämpfen gegen das wider- ständige Alte durchsetzt. Hierbei unterscheidet Perez vier Phasen: Die beiden ersten, der „Ausbruch“ und die „Raserei“ (engl. frenzy) bilden zusammen die

„Installationsperiode“, die folgenden Phasen der „Synergie“ und der „Reife“

die „Verbreitungsperiode“.

Während des „Ausbruchs“ aus dem alten Paradigma muss das Neue erste Wurzeln schlagen und seine praktische Tauglichkeit erweisen. In dieser Phase gewinnen die Financiers eine progressive Funktion, indem sie Unternehmern zu innovativen Investitionen und zu förderlichen Rahmenbedingungen verhel- fen, denen sich die ökonomischen Schwergewichte, aktuell im Energiesektor zu beobachten, mit aller Macht widersetzen. Je klarer sich das anfänglich e- norme Profitpotential abzeichnet, desto näher rückt jedoch die Stunde des Umschlags in spekulative Blasen, ob es sich um die Eisenbahnen in den 1840er oder die Dotcom-Blase um die 2000er Jahre handelt. So kommt es in der zweiten Hälfte der Installationsperiode des neuen Paradigmas zur „Rase- rei“, in der das Finanzkapital sich vom Produktionskapital entkoppelt und die Börse in ein Kasino verwandelt. Während einzelne Personengruppen sich ex- trem bereichern, spitzen sich die sozialen Unterschiede zu: Menschen, Klas- senfraktionen, Unternehmen, Regionen und Länder, die sich des neuen Para-

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digmas erfolgreich bedienen, stehen einer schrumpfenden Mehrheit gegen- über, die noch an das alte Paradigma gebunden ist.

Meist markiert ein Finanzcrash einen sozial-ökonomischen „Wendepunkt“ mit folgenden instabilen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen der sozio- institutionelle Rahmen für die anschließende Synergiephase restrukturiert wird. Gegenüber den sozialdarwinistischen Auswüchsen der „tierischen Instink- te“ gewinnen soziale Belange mit ersten Schritten zur Regulation des Finanz- kapitals wieder an Gewicht. In einer veränderten gesellschaftlichen Einbet- tung kann das wieder an Reputation gewinnende Produktionskapital in erwei- terten Produkt- und Prozessinnovationen mit erneuerten materiellen und im- materiellen Infrastrukturen einen Aufschwung befördern.19 Im Zuge des lang- fristigen Übergangs in die „Reife“ beginnen sich die Möglichkeiten für weite- re profitable Investitionen wieder zu erschöpfen , die wirtschaftliche Dynamik geht zurück, und es öffnet sich in einer längeren Inkubationszeit („gestation period“) der soziale Raum für eine neue technologische Revolution, die wie- derum eine „gewaltige Woge“ vorbereitet.

Von großem Interesse ist der „Wendepunkt“ mit dem Übergang zur Phase der

„Synergie“. An dieser Stelle des Zyklus bieten sich unter dem neuen Para- digma unterschiedliche Wege in die Zukunft an. Angesichts sich verschärfen- der sozialer Widersprüche prallen in einem krisenhaften und unübersichtli- chen Prozess gegensätzliche Interessen und Vorstellungen in aller Härte auf- einander. So zitiert Perez aus Keynes’ Essay „The Grand Slump of 1930“:

„Aber meines Erachtens kann es keine wirkliche Erholung geben, wenn die Vorstellungen der Kreditgeber und produktiven Kreditnehmer nicht wieder zusammengebracht werden … Selten in der modernen Geschichte ist die Kluft zwischen beiden so weit und so schwierig zu überbrücken gewesen.” (167) Im „Wendepunkt“ der 1930er Jahre gelang es in den USA (aber auch in Nor- wegen und Schweden), durch die Politik des „New Deal“ den sich widerset- zenden, durch die Weltwirtschaftskrise geschwächten Großkapitalen gewisse Grenzen zu setzen und damit zugleich neue Wege der Kapitalreproduktion zu eröffnen. Die Regulierung des Finanzsektors und Kaufkraftstärkung der Be- völkerung erschlossen im „New Deal“ Roosevelts der vorher stagnierenden industriellen Massenproduktion erweiterte Absatzchancen, zusätzlich ange- facht durch die Kriegskonjunktur und später durch den Nachkriegs- Wiederaufbau in Westeuropa – eine Grundlage für den jahrzehntelangen Auf- schwung der Weltwirtschaft. Ein historischer Vergleich mit der heutigen Situ- ation verdeutlicht, welches Krisen-, aber auch Handlungspotential die IKT- geprägte „Synergie“-Phase möglicherweise noch in sich birgt.

19 Diese Übergangsphase kennzeichnet die gegenwärtige Situation, in der nach der Finanzkrise unter dem Leitbegriff der „digitalen Revolution“ in der Bundesrepublik Deutschland versucht wird, die industrielle Wertschöpfung mit Hilfe öffentlicher Programme zu verstärken. Entspre- chend werden gegenwärtig von der Europäischen Kommission in Pilotprojekten multinationale Konsortien von KMU und wissenschaftlich-technischen Einrichtungen gefördert: „Fast Track to Innovation“ http://www.nks-kmu.de/foerderung-fti.php

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Perez diagnostiziert strukturelle Ungleichgewichte in technisch-ökonomischen Übergangsperioden, mit denen eine Zerrüttung der sozio-institutionellen Sek- toren einhergeht. Sie stellt die Frage, ob ein sich vertiefendes Verständnis der Finanzkrisen gangbare Wege für weniger sozial schmerzvolle Lösungen er- öffnet: angesichts der sich ausbreitenden Arbeitslosigkeit, der hiermit verbun- denen Qualifikationsverluste, der fortschreitenden Zerstörung der sozialen Lebensbedingungen, der geographischen Entwurzelung und vor allem der Po- larisierung zwischen Armut und Reichtum.

Entsprechend benannte sie schon in ihrem Hauptwerk drei strukturelle und krisenverursachende Spannungsbereiche (167-171), die in der Gegenwart in verstärktem Maße als Widersprüche hervortreten und Gegenmaßnahmen ver- langen:

 einmal Widersprüche zwischen wachsenden Papierwerten und realem Reichtum, die eine entschiedene Regulation und Zurückdrängung der Praktiken einer kurzfristig orientierten Kasinoökonomie mit überzogenen Profiterwartungen erfordern;

 zum anderen Diskrepanzen zwischen dem Potenzial der ökonomischen Expansion und dem verteilungspolitischen Profil der Nachfrage, die eine gezielte Förderung der neuen Wachstumsmärkte und der sich „entwi- ckelnden Welt“ notwendig machen;

 schließlich die sich verschärfende Kluft zwischen reicher werdenden und in Schulden gefangenen Ländern mit aufbrechenden Konflikten und mas- siven Migrationsbewegungen, die effektive Aktivitäten zur Lösung dieser Probleme dringlich werden lassen.

Neben der Eindämmung militärischer Konflikte im Kontext imperialer Ambi- tionen kommt den einzelnen Ländern, ihren transnationalen Verbünden und internationalen Institutionen – im Gegensatz zu den derzeit in der Europäi- schen Union vorherrschenden Austeritätsstrategien – eine zentrale Rolle in der Förderung von technischen und sozialen Innovationen und Investitionen in die materiellen und immateriellen Infrastrukturen zu. Hierfür sind demokratische Staaten und entsprechend legitimierte supranationale Institutionen als Regula- toren, wirtschaftliche Akteure und politische Richtungsgeber unerlässlich.

4. Mariana Mazzucato: Plädoyer für den Staat als Innovati- onspionier

In den meisten westlichen Ländern dominiert das Bild eines bürokratischen, inkompetenten, trägen Staates, mit dem Senkungen von Steuern, Sozialleis- tungen und öffentlichen Investitionen legitimiert werden. Die neoliberal ko- dierten Vorstellungen politischer Repräsentanten und internationaler Instituti- onen vom „schwachen Staat“ entlarvt Mariana Mazzucato (geb. 1968) als in- teressengebunden und stellt der Marktideologie in ihrem aktuellen Bestsel-

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ler20 das Leitbild eines dynamischen und gestaltenden, unternehmerische und innovative Funktionen wahrnehmenden, ja eines Märkte schaffenden Staates entgegen (1-24, 243-245).

Mazzucato weist im Einzelnen nach, dass in der gegenwärtigen Entwick- lungsphase die Grundlagen für Basisinnovationen überwiegend öffentlich fi- nanziert und anschließend zur Verwertung privaten Händen überlassen wer- den. Somit komme für die Entwicklung neuer Technologien weniger dem pri- vaten Sektor, sondern mehr dem Staat eine in der öffentlichen Diskussion kaum wahrgenommene dynamische Rolle zu. Er liefere den Konzernen zu Vorzugskonditionen neue Profitchancen, während diese ihre Forschungsaus- gaben und ihre vermeintliche Risikobereitschaft im Zuge der Finanzialisie- rung weiter zurückfahren, aber mit ihren teilweise exorbitanten Gewinnen verstärkt eigene Aktien rückkaufen. In einer Reihe von aktuellen Fallstudien – von den Informationstechnologien über Bio- und Nanotechnologien bis hin zu den erneuerbaren Energien – deckt sie auf, dass der Privatsektor die Bereit- schaft zu investieren erst findet, nachdem mit Hilfe des „unternehmerisch“ a- gierenden Staates in riskanten und kostspieligen Innovationsprojekten der Weg geebnet worden ist, d.h. kostenaufwendige Forschungs- und Entwick- lungsinvestitionen gesellschaftlich vorfinanziert worden sind.

Es handelt sich um einen bekannten Tatbestand21, den Mazzucato offensiv und publizitätsmächtig gegen die neoliberale Ideologie des ineffizienten Staates und hochinnovativer Privatunternehmen, insbesondere im Bereich der gefeierten Si- licon Valley-Konzerne, wendet. So enthüllt Mazzucato, dass alle bedeutenden technischen Innovationen, die das iPod, iPhone, iPad u.a. „smart“ machen, über öffentliche Programme finanziert worden sind, darunter das Internet, GPS, der Multi-Touchscreen und das Spracherkennungssystem Siri. Die teilweise exklu- sive, durch Patente geschützte Nutzung wurde dem hochprofitablen Konzern Apple fast unentgeltlich ermöglicht, obwohl dieser als hartnäckiger Steuerver- meider gilt. Die neun Spitzenleute bei Apple verdienten im Jahre 2012 mit 411,5 Mio. $. so viel wie 89.000 Arbeiter bei seinem chinesischen Zulieferer Foxconn, die durchschnittlich 4.622 $ erhielten (218).22

20 Mazzucato, M. 2014: Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum. München (The Entrepreneurial State. London, New York). Seitenangaben im Text dieser Ausgabe. Siehe auch: A mission-oriented approach to building the entrepreneurial state, November 2014, 27 (http://marianamazzucato.com/wp-content/uploads/2014/11/ MAZZU- CATO-INNOVATE-UK.pdf)

21 Dieser ist in unterschiedlichen theoretischen Kontexten schon in der Vergangenheit nachge- wiesen worden; so u.a. von Leisewitz, A. 1976: Staatliche Forschungspolitik und Monopole.

In: Das Monopol – ökonomischer Kern des heutigen Kapitalismus. Frankfurt/M., 278-283.

Siehe unter theoretischem Blickwinkel Hirsch, J. 1974: Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals. Frankfurt/Main, hier 173-205. Alternative Konzepte bei Ahrweiler, G.; Döge, P.;

Rilling, R. (Hg.) 1994: Memorandum Forschungs- und Technologiepolitik 1994/1995. Gestal- tung statt Standortverwaltung. Für eine sozial-ökologische Erneuerung der Forschungs- und Technologiepolitik. Marburg/Lahn.

22 Einen plastischen Eindruck über die Arbeitsbedingungen bei Foxconn gibt Christian Fuchs:

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In Analogie zu den Missbräuchen auf den Finanzmärkten erkennt Mazzucato im Innovationsgeschehen eine systematische Sozialisierung von Risiken bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne. Nach ihrer Beobachtung gestalten sich die „Partnerschaften“ zwischen der öffentlichen Hand und den Privatun- ternehmen eher parasitär als symbiotisch (242). Sie fordert, dass Unternehmen bei staatlichen Unterstützungsleistungen wie Krediten und Bürgschaften oder finanziellen Zuwendungen Inhalte und finanzielles Volumen ihrer Kooperati- onen offenlegen und bei wirtschaftlichem Erfolg einen Rückfluss aus ihren Gewinnen garantieren müssen: „Diese Einnahmen … sollten in einen ‚natio- nalen Innovationsfonds‘ fließen, aus dem der Staat dann weitere Innovationen finanzieren kann.“ (240) Entsprechend sei bei öffentlich finanzierten Patenten sicherzustellen, dass der Patentinhaber anderen Marktteilnehmern Lizenzen umfassend und gerecht anbietet.

Ganz in der Tradition Freemans fordert Mazzucato, den „kollektiven“ Charak- ter von Innovationen“ (243) anzuerkennen. Gestützt auf eine demokratische Legitimation sollten die öffentlichen Hände bewusst die Führungsrolle im In- novationsprozess übernehmen und den risikolosen Verzehr öffentlicher Bud- gets in den High-Tech-Branchen durch einen sich finanziell selbst tragenden Prozess der Innovationsförderung ersetzen. Sie plädiert für einen aktiven Staat als richtungsweisenden Innovationspionier (19), der nicht nur förderliche Rahmenbedingungen für Märkte setzt, sondern diese selbst schaffen muss.23 Dies gilt mit einem Mix von angebots- und nachfrageorientierten Maßnahmen in besonderem Maße für die von ihr propagierte „grüne Revolution“ (147- 180).24 Gegenüber versickernden Steuererleichterungen favorisiert sie gerade für die erneuerbaren und sauberen Energien öffentliche Investitionen und Entwicklungsbanken, die mit langem Atem größere Risiken tragen, langfristi- ge Kredite vergeben, den gesellschaftlichen Nutzen maximieren und einen po- sitiven Kreislauf etwa durch öffentliche Güter in Gang setzen könnten, ohne Dividenden zahlen zu müssen (178-180).

Auf der Grundlage einer kritischen Einschätzung parasitärer Innovationsstra- tegien, in denen Schumpeters „kreative Unternehmer“ zwar noch eine in der Öffentlichkeit ideologisierte, aber realiter keine entscheidende Rolle mehr spielen, bieten Mazzucatos Analysen und Argumente auch einen Ansatz für sozial-ökologische Transformationsprozesse. Diese setzen freilich ganz ande- re gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und demokratische Regulationsformen voraus, die entgegen den jahrzehntelangen Rückbildungsprozessen erst wieder

Zur Theoriebildung und Analyse der digitalen Arbeit. Die globale Produktion digitaler Hard- und Software. In: Z 103 (September 2015), 85-95, hier 91-93.

23 Mazzucato, M. 2015: The Innovative State. Government Should Make Markets, Not Just Fix Them. In: Foreign Affairs, Jan.-Febr. Siehe auch Karl Polanyi 1978: The Great Transforma- tion. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen.

Frankfurt am Main, 192-195.

24 So auch Perez, C. 2013: Financial bubbles, crises and the role of government in unleashing golden ages. In Pyka, A.; Burghof, H.P. (Eds.): Innovation and Finance. London, 11-25.

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zu erringen sind – ein bei Mazzucato weitgehend ausgeblendeter Fragenkom- plex, der eine politisch-soziologische Analyse der gesellschaftlichen Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse, der Interessenbindung und funktionalen Abhän- gigkeiten staatlichen Handelns erforderlich macht. 25

5. Aktuelle Vorschläge für sozial-ökologische Innovations- strategien in Europa

Mariana Mazzucato und Carlota Perez haben vor einem Jahr Vorschläge zur Lösung der europäischen Krisensituation vorgelegt.26 Als entscheidend be- trachten sie, die Abkopplung des Finanzsektors von der realen Produktion umzukehren und die kurzfristigen finanzmarktdominierten Profitorientierun- gen in langfristig wirksame Zielsetzungen gesellschaftlicher Entwicklung zu transformieren. Nur so könnten die stagnativen Tendenzen der herrschenden Kasinoökonomie überwunden werden. Dies verlange im Rahmen einer umfas- senderen Alternativstrategie jedoch u.a. zielorientierte öffentliche Investitio- nen für neue Technologien, während die gegenwärtige Überflutung der Märk- te mit billigem Geld keine Investitionen, sondern eine andauernde Überbewer- tung der Kapitalgüter und Bereicherung des Finanzkapitals erzeugt.

Die gegenwärtige Krise erfordert laut Mazzucato und Perez tiefgreifende in- stitutionelle Umgestaltungen, um den gravierenden Missständen einer finanzi- alisierten Wirtschaft und der Einkommensungleichheit in der Gesellschaft ge- genzusteuern. Hierzu müssten das vorhandene Innovationspotenzial ebenso profitabel genutzt wie die erzielten Gewinne „fair“ mit den öffentlichen Geld- gebern geteilt werden. Das erfordert u.a. Innovationsstrategien mit abge- stimmten Maßnahmenpaketen, die Anreize für öffentliche und private Investi- tionen in langfristige Wertschöpfungsbereiche setzen, also die Entwicklung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, der Infrastruktur und zur Transfor- mation des fossilen Kapitalismus. Dazu stellen sie folgende Kriterien auf:

 öffentliche, zielorientierte Investitionen in strategisch zentralen Bereichen wie Klimawandel, Ressourcenverbrauch und „Humankapital“;

 direkte öffentliche Investitionen insbesondere zur Stärkung wirtschaftlich schwächerer Länder in Europa gekoppelt mit indirekten Investitionsan- reizen in der Steuerpolitik;

 restrukturierte Fiskalpakte, in denen der vorherrschenden Schuldenfixie- rung durch Investitionsförderung gegengesteuert wird;

 eine grüne Transformation der gesamten energie- und materialintensiven Wirtschaft der Massenproduktion mit Hilfe der Informationstechnologien;

25 Zur aktuellen Diskussion über die demokratische „Involution“ (Agnoli) siehe u.a. Crouch, C.

2008: Postdemokratie. Frankfurt am Main. Deppe, F. 2013: Autoritärer Kapitalismus. Demo- kratie auf dem Prüfstand. Hamburg. Streeck, W. 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin.

26 Innovation as Growth Policy: the challenge for Europe, July 2014, hier 21-24 (http://www.sussex.ac.uk/spru/documents/2014-13-swps-mazzucato-perez.pdf).

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 qualitativ orientierte Finanzhilfen für stärker ökologisch und sozial orien- tierte Investitionen mit anhaltenden Beschäftigungseffekten;

 positive Anreize für wertschaffende Produktion und negative Anreize (Sanktionen) für spekulative Formen der Geldvermehrung ;

 intelligente Regulationsformen, die Gewinnerwartungen in Bereiche öf- fentlicher Güter und allgemeiner Wohlfahrt lenken;

 redistributive Steuersysteme, die weniger die Arbeit und stärker den Ver- brauch von Ressourcen und kasinokapitalistische Verwerfungen belasten.

Das wäre so etwas wie ein europäischer „New Deal“, der den Weg für einen sozial-ökologischen Umbau des europäischen Kapitalismus öffnet. Wenn die Autorinnen einen solchen Weg kapitalistischer Entwicklung unter stärkerer Akzentuierung staatlicher Aktivitäten vorschlagen, dann werden zu entschei- denden Herausforderungen die politische Eindämmung der die Wirtschafts- entwicklung und das Innovationsgeschehen weitgehend bestimmenden Ex- port-, Rüstungs- und Finanzinteressen durch national und transnational sich organisierende Gegenkräfte, die Durchsetzung der demokratischen Qualität – im Sinne gesellschaftlich getragener und öffentlich-parlamentarischer Ent- scheidungsfindung – regionaler, einzelstaatlicher und europäischer Innovati- onspolitik sowie die Stärkung öffentlicher Entwicklungsaufgaben vor allem in den schwächeren Ländern Europas. Dies könnten auch Ansatzpunkte für eine weiterreichende Demokratisierung der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwick- lung in einer ökologischen Perspektive sein.

Die Autorinnen befassen sich zwar nicht explizit mit den hegemonialen Um- brüchen in der kapitalistischen Welt: den geografischen Reallokationen des Kapitals, den Veränderungen der Sozialstrukturen, den aufbrechenden Klas- senkämpfen und Kriegen sowie den hiervon ausgelösten Migrations- und Fluchtwellen, auch bleiben in ihrer eher objektivierenden Darstellung die Ak- teure zur Realisierung der eingeforderten Maßnahmenpakete außen vor; den- noch eröffnen sie ein tieferes Verständnis der kapitalistischen Entwicklungs- zyklen einschließlich der gegenwärtig krisenverschärfenden Rolle der Fi- nanzmärkte, ohne einem historischen Pessimismus im Kampf um sozial- ökologische Transformationserfordernisse zu verfallen. Christopher Freemans ultimative Botschaft für die emanzipatorischen gesellschaftlichen Kräfte bis hin zu den einzelnen Akteuren bleibt hochaktuell mit den Worten von Gabriel Garcia Marquez‘ in seinem Roman „Liebe in den Zeiten der Cholera“: „Wei- che niemals zurück vor Zynismus und Verzweiflung. Bleibe den Idealen der Jugend treu.“ („Never give way to cynism or despair. Remain true to the ide- als of youth.“)

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