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Der Gottesdienst im Altenheim

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Erfahrungen - Anregungen - Herausforderungen

Bearbeitet von Ruth Lödel

1. Auflage 2011. Taschenbuch. 240 S. Paperback ISBN 978 3 17 018880 8

Format (B x L): 15,5 x 23,2 cm Gewicht: 364 g

Weitere Fachgebiete > Religion > Praktische Theologie > Liturgik, Christliche Anbetung, Sakramente, Rituale, Feiertage

Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

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1. Das Alter: Lob oder Klage? Eine Gedankenreise

Es ist Sonntag. In K. läuten die Glocken der kleinen Dorfkirche. Frau Bach steckt seufzend das viel zu schwere neue Gesangbuch in die Handtasche, nimmt ihre Urenkelin an der Hand und macht sich auf zum Gottesdienst. Bevor sie die Kir- che betritt, geht sie noch schnell am Grab ihres Mannes vorbei. Gottes Acker! In ihn wird man auch sie legen, wenn Gott, der Herr über Leben und Tod, sie – vielleicht bald schon? – abgerufen haben wird. Man wird drei Schaufeln voll Erde auf ihren Sarg werfen und sie der Hand Gottes anbefehlen: Es wird gesät verwes- lich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft.1 Die Glocken rufen. Das braucht Frau Bach.

Es ist Sonntag. Auch in der nahen Großstadt läuten die Glocken. Ihr Klang ist vielstimmig, denn die Zahl der Kirchen ist (immer noch) groß. Frau Kern hört die Glocken trotzdem nicht. Sie liegt im Bett und hört Musik aus dem Radio.

Laut! Hip-Hop, auf irgendeinem Privatsender. Braucht Frau Kern den Ruf der Glocken nicht? Frau Kern ist Bewohnerin eines der 40 Pflegeheime der Stadt. Sie ist eine sehr alte Frau. Sie gehört zur sogenannten vierten Generation.2 Menschen wie Frau Kern brauchen vieles nicht. Sie brauchen kein Shopping-Center und keinen Erlebnisparcours. Sie brauchen weder ein iPad noch ein CallYa-Paket, sie brauchen keinen USB- und schon gar keinen Joystick. Frau Kern braucht zwar zur Fortbewegung vier Räder, aber keinen S 65 AMG mit 612 PS. Frau Kern braucht vieles nicht. Auch keinen Hip-Hop. Doch den kriegt sie ungefragt wie die Pampers und die PEG-Sonde.

Es ist unschwer zu erraten, welche der beiden Frauen sich leichter tun wird, lobende Worte über das Alter zu finden: Frau Bach traut man dies eher zu. Ent- scheidend ist dabei nicht der Gegensatz zwischen Stadt und Land. Jedes soziale Umfeld hat seine Vorteile und seine Härten. Auch ist in der kleinen Szene aus ihrem Leben nichts darüber ausgesagt, unter welchen Altersbeschwerden Frau Bach zu leiden hat, ob sie die Tatsache, dass sie sich noch auf den eigenen zwei Beinen fortbewegen kann, als Privileg oder als Selbstverständlichkeit empfindet, ja nicht einmal, ob sie sich in ihren Lebensbeziehungen wohl oder schlecht fühlt.

Es ist vom Verlust des Partners die Rede und von ihrem eigenen nahen Tod. Und doch sagt uns unser Gefühl: So wie es ist, so ist es gut. Ein gutes Leben. Frau Bach hat einen Menschen, den sie führen darf. Sie weiß sich an ihrem Ort geborgen, weil sie geführt wird. Ihr steht in diesem letzten Abschnitt ihres Lebens eine

1 Zitiert nach Lutherische Agende III, Bestattung, Agende für Evangelisch-Lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. 3, Die Amtshandlungen, Teil 5, Die Bestattung, Herausgegeben von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, neubearb. Aus- gabe 1996, Hannover 1996, 56.

2 Zur Definition der Begriffe „vierte Generation“, „viertes Lebensalter“, „Hochaltrigkeit“, vgl. 4.

Altenbericht, 53ff.

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Sprache zur Verfügung, die sie trägt und tröstet. Und dass es in diesem Leben und in dieser Welt vieles gibt, was Frau Bach getrost weglassen kann, das ist spürbar.

Das Alter beider Frauen ist nicht klar definiert. Trotzdem hat man das Gefühl, Frau Kern sei älter. Frau Kern hat nach dem Volksmund ein „biblisches“ Alter erreicht. Wer noch einigermaßen in der biblischen Sprache zu Hause ist, assozi- iert dabei den in der Bibel immer wiederkehrenden Satz: „Und er starb alt und lebenssatt.“ Wann wird Frau Kern lebenssatt sein? Wenn sie, gut digitalisiert und künstlich ernährt, dem „Hundertsten“ zugeht? Oder hat sie vielleicht jetzt schon dieses Leben satt und möchte viel lieber tot sein?

Die vielen Fragezeichen deuten auf eine große Unsicherheit hin. Alt werden ist schön, suggerieren die einen. Nein, es ist ein Fluch, seufzen die anderen. Ist es eine Frage der Einstellung, des Charakters, des Schicksals oder vor allem eine Frage des Geldbeutels, ob sich uns das Alter zu einem sonnigen Lebensabend, zu einer „Blütezeit der Seele“ (so Seneca), zur Zeit der höchsten Reife gestaltet oder ob wir es als eine Horrorreise erleben, deren Ziel es ist, in einer Furcht erregen- den unaufhaltsamen Talfahrt unseren Lebenskarren an die Wand zu fahren?

Warum finden die einen Menschen im Alter, was sie brauchen, und die anderen bekommen, was sie nicht wollen, und das, was sie brauchen, bekommen sie nicht?

Wer über das Alter nachdenkt, wird nachdenklich. Er ist schnell vom Wunsch beseelt, die Fragen und Probleme, Sehnsüchte und Notwendigkeiten des Alters zu definieren, zu systematisieren und in Stereotype zu fassen. Ob man sich durch Ordnen und Sichten wirklich Klarheit verschaffen kann? Ein Stück weit sicher schon. Gleichwohl sollte sich der Altersforscher vor allem die Nachdenklichkeit erhalten, wird er doch sonst nur allzu schnell über seine eigene Selbstgerechtig- keit stolpern und sich trotz aller (auch der professionellen) Erkenntnisse im Gestrüpp der Unwägbarkeit menschlicher Lebensvielfalt verheddern.

Vom ersten Tag unseres Lebens an leben wir in der Regel zusammen mit alten Menschen. Sie gehören zum Erscheinungsbild einer jeden Gemeinschaft dazu und prägen das Altersbild der Jüngeren. Doch da sind die Alten immer die ande- ren. Wenn man aber selbst in die Jahre kommt, beginnen die fest gefügten Vor- stellungen vom Umgang mit dem Alter zu schwanken. Man ist, so stellt man erstaunt fest, nicht schlagartig alt. Man wird alt. Und das ist ein – oft sehr schmerzhafter – Prozess. „Die kann nicht alt werden“, flüsterte die junge Frau früher selbst hämisch hinter der Blondine her, die, ihre postklimakterischen Wölbungen in die hautenge Jeans gepresst, mühsam ihres Weges stöckelte. Ist sie dann selbst betroffen, kommt sie ins Grübeln: Bedeutet Altwerden wirklich, rechtzeitig umzusteigen auf Bundfaltenrock und Gesundheitssandalen? Wer bestimmt eigentlich, was altersgemäßes Verhalten ist? Da stellt sich schnell her- aus: In Würde alt werden ist gar nicht so leicht.

Dass das Altern bei jedem Menschen mit der Geburt beginnt, ist eine Tatsache, die wir hier getrost außer Acht lassen können. Aber wann beginnt ein Mensch

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1. Das Alter: Lob oder Klage? Eine Gedankenreise 13 wirklich alt zu werden? Ist man tatsächlich nach einer landläufigen Redewen- dung so alt, wie man sich fühlt? Nach einer „Zeit“-Umfrage glauben 72% der über 50jährigen in der BRD, sie sähen jünger aus als sie sind. Hier hat sich offen- sichtlich eine ganze Generation ein Altersbild aufgebaut, dem sie selbst nicht oder nicht mehr entsprechen will. Aber heimtückischerweise wird gerade da das Altern offensichtlich, wo sich der Kampf um den schönen Schein von Jugend verdichtet.

Nicht primär der Verlust von Gesundheit und die Häufung von Krankheiten definieren Alter, denn Krankheit ist ein altersunabhängiges Phänomen. Erlebten sich in früheren Zeiten auf Grund der Kindersterblichkeit die Alten als die Wi- derstandsfähigen, empfinden sie heute, gestützt durch die Segnungen der mo- dernen Medizin, Krankheit als etwas Reversibles. So sind sie noch eher bereit, Alterserscheinungen als Krankheit zu sehen, als in ihnen einen unumkehrbaren Vorgang am eigenen Leib zu akzeptieren. Die gepflegte 60-jährige Patientin einer Münchener Dermatologin mag als Beispiel dienen: Sie kam in die Praxis, weil sie die Falten an ihrem Dekolleté für eine Hauterkrankung hielt.

Krankheiten sind also nicht die Signale verwelkenden Lebens. Das Alter macht sich vor allem als schmerzhafte Konfrontation mit dem fortschreitenden Schwinden der Schönheit bemerkbar. Was aber wehtut, schreit nach Strategien der Schmerzvermeidung. Sie werden erprobt in einem zähen Stellungskrieg ge- gen den unaufhaltsamen Verfall. Allerdings bewegen sich Frauen und Männer dabei auf verschiedenen Schauplätzen, wobei das „starke“ Geschlecht sehr viel verdeckter kämpft als das „schwache“. Da „die Männer nicht zugeben wollen, wie wichtig ihnen die Illusion der Jugend, die erotische Bereitschaft also, ist, haben sie die unangenehme Aufgabe, tatsächlich zu altern, den Frauen übertra- gen“3. Der Verlust der Schönheit durch das Altern des Körpers ist zumindest vordergründig ein Frauenproblem. Frauen konzentrieren sich demzufolge im Kampf gegen das Altern auf die Erhaltung der körperlichen Reize. Sie kämpfen mit Farbe, Kräutern, Chemie und Textilien aller Art und, wenn es sein muss, sogar mit dem Skalpell. In seinen Kernelementen ist dieser Kampf unabhängig von Stand und Kultur, und er macht auch nicht halt vor der sogenannten vierten Generation. Die Antriebsfeder dieses Kampfes ist eher Scham als Eitelkeit. Die Scham angesichts des körperlichen Makels mag manchmal sogar größer sein als die Angst vor dem Sterben. Als Beispiel gelte die 90jährige Generalswitwe aus einer renommierten Seniorenresidenz, die auf die eindringliche Aufforderung ihrer Schwiegertochter, sie solle doch angesichts der Hitze in der Intensivstation ihre Perücke ablegen, mit heftiger Zurückweisung reagierte: „Wenn ich schon sterben muss, möchte ich dabei wenigstens gut ausschauen.“ Mag nun manch einer vielleicht angesichts so grimmiger Entschlossenheit den Kopf schütteln, allein die Haltung gebietet doch Respekt.

Natürlich findet die Häme derer, die sich gerne über weibliche Versuche, das

3 Schlaffer, H. (2003), 14.

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Alter zu vertuschen, lustig machen, reichlich Nahrung. Das Anschauungsmate- rial entdecken sie auf der Straße. Sie können auch unschwer Sprachanleihen nehmen bei Gedrucktem, von der antiken Komödie bis zu Zeitschriftenkolum- nen der Boulevardpresse. Leicht lässt sich spotten über die Gefühle anderer und deren Verhalten kritisieren, solange es einen selbst noch (!) nicht betrifft.

Der Schmerz über das Welken der Lebensblüte ist ernst zu nehmen und ebenso die Strategien, ihn wegzuschminken oder wegzureden, auch wenn dies manchmal sehr bemüht und ein wenig komisch wirkt. So sind Versuche, das Bild der Altersschönheit mit großem Ernst romanhaft zu beschwören, allenfalls gut gemeint. Das Coming-out der Klatschmohnfrau4 bleibt – trotz guter Verkaufs- zahlen des Romans – nur peinlich.

Wer mit Humor und einem Schuss Sarkasmus den eigenen Frust gekonnt seziert, bringt am ehesten höhnisches Gerede über das Hinwelken der Schönheit zum Verstummen. So die Lyrikerin Susanne Neuffer:

„maskerade 2

Ich sehe es nicht im spiegel da lächle ich schnell genug werfe die haare um mich

sichtbar wird nur auf fotos

dass das fleisch von den knochen fallen und erde zu erde will

die ablage im bad

ist vollgestellt mit letzten ölen täglich mache ich mir das gesicht das mir einen guten abgang sichern soll“5

Hier wird um die Erfahrung nicht herumgeredet: Altern zieht nach unten. Den- noch hat die Dichterin den Angriff der bitteren Wahrheit gut pariert: Gut, wer auch im Alter die Kunst, über sich selbst zu lachen, nicht verlernt.

Die männliche Schönheit lässt das Altern scheinbar ungeschoren. Doch dieser Schein trügt. Männer begegnen dem körperlichen Verfall, indem sie ihn ignorie- ren. Frauen werden alt. Männer gewinnen an Würde. Frauen verwelken. Männer reifen. Die Frau geht ihrer Reize verlustig, der Mann gewinnt an Erfahrung. Folgt man der Argumentation des greisen Cicero, wird man zu dem Schluss geführt, gerade das Nachlassen der Körperkräfte – und hier besonders der Kraft der Len- den – lasse Besonnenheit und Geisteskraft wachsen und führe so erst zur wahren charakterlichen und sittlichen Reife. So sei das Alter als die Lebenszeit zu loben,

4 Châtelet, N. (2001).

5 Neuffer, S. (1999), 11.

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1. Das Alter: Lob oder Klage? Eine Gedankenreise 15 in welcher der Mann erst fähig sei, wahrhaft große Dinge zu vollbringen. Denn dazu bedürfe es nicht so sehr der Eigenschaften der Jugend wie Körperstärke, Behändigkeit und Schnelligkeit, sondern der Planung, der Umsicht und der Ent- scheidungskraft. Dies alles besitze erst der Alte in hohem Maße. So appelliert der alte Cicero an den Verstand der Jungen, sie mögen doch die Fähigkeiten der Alten nicht unterschätzen, sondern diese in Anspruch nehmen. Ein ehrfurchts- voller Umgang mit den Alten zeuge von einer guten sittlichen Verfassung einer Gesellschaft. Er wünsche den Jungen das Erreichen des Greisenalters, damit sie das, was sie von ihm gehört hätten, durch die Erfahrung der Wirklichkeit guthei- ßen könnten.6 Ciceros Schrift ist eine tapfere Apologie, die auch mit Ratschlägen nicht spart, wie es dem einzelnen Alten gelingen könne, sich diese Fertigkeiten bis ins hohe Alter zu erhalten. Der Lohn folge gewiss: Wer auch im Alter noch in der Lage sei, Verantwortung zu übernehmen, dem werde man sie auch übertra- gen. Büchermarkt und Wochenpresse zeigen uns: Cicero ist aktuell. Man könne auch „erfolgreich“ altern, die „Produktivität“ im Alter müsse nur entdeckt und gefördert werden, dann könnten die Alten der Gesellschaft noch durchaus nütz- lich sein. Es gelte, die „Potenziale“ der Alten auszuschöpfen. Von der Berliner Altersstudie bis zum 5. Altenbericht der Bundesrepublik zielt nahezu die gesamte Altersforschung in diese Richtung.7 Natürlich, der Blick fürs Große und Ganze erfordere Abstand, konstatiert Jan Ross in der „Zeit“8, und erzählt uns, Deutsch- lands Elder Statesmen stünden hoch im Kurs. Die Reportage zeigt 6 Photos mit zufriedenen Gesichtern: Die großen Alten der Nation.

Doch sind sie wirklich vorbildlich? Sicher: Wem man Verantwortung zu- spricht, der fühlt sich gebraucht. Und Gebrauchtwerden schafft Wohlbefinden.

Das gilt nicht nur für Einzelne, sondern für jeden Menschen und besonders für den alten. Gebrauchtwerden tut Männern wie Frauen gut, hält sie lebendig. Ge- brauchtwerden stimmt sowohl einen ehemaligen Bundeskanzler positiv als auch die eingangs beschriebene Frau Bach, die ganz privat ihre Verantwortung als Großmutter wahrnimmt. In einer Zeit der zerbrechenden Familienstrukturen und der berufstätigen Mütter fallen den Großeltern wichtige Aufgaben zu.

Doch warum beschwört man im Bezug auf Verantwortung und Erfahrung alter Menschen mit Vorliebe die Kraft der großen alten Männer? Könnte es nicht sein, dass dadurch abgelenkt werden soll vom größten Schmerz, der dem alten Menschen widerfährt: Der fortschreitenden Verdammnis zur Untätigkeit durch das Schwinden der Kräfte?

Für die meisten Menschen bleibt das Bild vom großen weisen Alten, der bis zuletzt voll Scharfsinn den Zeitenlauf beobachtend die andächtig lauschende Jugend lehrt, ein fernes Wunschbild. Manchem mag es als Decke dienen, die er schamhaft über die eigenen Unzulänglichkeiten zieht. Doch wird er trotzdem

6 Vgl. Cicero, M. T. (1998), 37; 59ff.; 85; 111.

7 Vgl. Schneider-Flume, G. (2008), 51ff. u. 5. Altenbericht.

8 Ross, Jan, Großvater Staatsmann erzählt, in: Die Zeit, Nr. 39, 16.9.2004, 4.

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frieren, wird erfahren, dass diese Decke ziemlich kurz ist. Altwerden ist nichts für Feiglinge, schreibt der Schauspieler Joachim Fuchsberger in großer Ehrlichkeit, berichtet aber auch von dem plötzlich auftauchenden unstillbaren Wunsch nach einer schwarzen Motorradkluft und stahlverstärkten Stiefeln.9 Nicht wenige versuchen, dem Altern durch Betriebsamkeit zu begegnen.

Dem großen Alten steht heute die wachsende Schar der „Senioren“ gegenüber, die sich durch Gesundheits- und Trimm-dich-Programme stresst, um „fit“ zu bleiben, ohne sich zu fragen wofür. „Das Alter genießen“ lautet das Motto, dem jene sich verschrieben haben. „Ein banaler Slogan, passend zur Gesellschaft der totalen Vermarktung, die an die Stelle des Lobliedes auf den ehrbaren und wei- sen Alten getreten ist“, meint der greise Rechtsphilosoph Norberto Bobbio.10 Diese fröhlichen Konsumenten vermeiden es in peinlicher Verdrängung, den Drohbildern des Alters ins Auge zu blicken. Doch diese liegen ihnen schwer als Faust im Nacken: Die Zahl der Hochaltrigen steigt. Und unfreiwillig werden sie zum bedrückenden Anschauungsmaterial für die Unaufhaltsamkeit des Alte- rungsprozesses. Der Anblick der unzuverlässigen Körper straft den propagierten schönen Abgang Lügen. Noch sichtbarer wird dies bei denen, die von Alters- armut betroffen und deshalb für den Markt uninteressant geworden sind. Je mehr die Gruppe der vierten Generation anwächst, desto unübersehbarer wer- den die Leiden des Alters. Sie lassen sich nicht mehr schamhaft verstecken.

Hochaltrige erleben es als hartes Los, dass Krankheit nicht nur ein zufälliges Handikap ist, das es zu therapieren oder – vielleicht sogar zur Steigerung der geistigen Kräfte – zu ignorieren gilt. Krankheitserfahrung wird nun zum ständi- gen unliebsamen Begleiter. Und wie auch immer die Alten mit der fortschreiten- den Reduzierung ihrer Möglichkeiten umgehen oder umgehen müssen, allein ihr Da- und Sosein spricht eine Sprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Altwerden ist mit dem unaufhaltsamen Schwinden der Lebenskräfte verbunden.

Die Umgangssprache ist hier deutlicher als jeder Wissenschaftsjargon. „Alles lässt nach“, sagt man. Oder noch anschaulicher: „Alles wird immer weniger.“

Dieses „Alles“ umfasst ein ganzes Bündel an Negativ-Erfahrungen, wie Ein- schränkungen des Bewegungsapparates, Herz- und Kreislaufschwäche, nachlas- sende Gedächtnisleistung, Mangel an Koordinationsvermögen und damit ein- hergehend an psychischen Veränderungen wie Melancholie, Depressionen und Angstzuständen. Die Wissenschaft gab diesem Phänomen einen Namen: Multi- morbidität, „Viel-Kranksein“. Das ist nicht nur ein hässlicher, sondern zudem ein entlarvender Begriff. Denn immer noch suggeriert er, dass Altsein etwas sei, was sich in quantitativen Kategorien ausdrücken und damit in den Griff be- kommen lasse. Aber dieses „Alles“ ist mehr. Es zeigt an, dass die Erfahrungen des

9 Vgl. Fuchsberger, J. (2011), 72ff.

10 Bobbio, N. (2004), 36f.

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1. Das Alter: Lob oder Klage? Eine Gedankenreise 17 Alters das Leben selbst betreffen. Alte können nicht mehr „Schritt halten“. Das Leben geht weiter – und sie bleiben zurück.

Greisinnen und Greise brauchen keine Appelle zur Entschleunigung. Der Le- bensrhythmus verlangsamt sich von selbst. Das „Ich komme nicht mehr mit“

belastet alte Menschen ebenso wie die mal mehr, mal weniger taktvollen Hin- weise derer, die „mitten im Leben stehen“, Alte sollten sich aus allem raushalten, im modernen Leben müsse man spritzig, wendig, innovativ und kreativ sein.

Solange alte Menschen noch einigermaßen Anteil nehmen können am gesell- schaftlichen Leben und solange sie die Härten des Altwerdens mit sich selbst ausmachen, solange sie noch – wie auch immer – tätig sind, kurz: solange sie dem Traum von ewiger Jugend nicht im Wege stehen, erfahren sie Respekt und noch ein bisschen echte Aufmerksamkeit. Doch von der bitteren Seite des Alt- werdens möchte keiner etwas hören und sehen. Das Beste sei deshalb, die Alten hielten sich dann, wenn ihre Potenziale schwinden, von den aktiven Lebenspro- zessen fern.

Wenn man die Alten dann wenigstens in Frieden ihren eigenen Rhythmus leben ließe. Aber auch das geht nicht. Das aktuelle, aktive Leben heißt Fortschritt und es zieht jeden mit; auch die, die selbst nicht mehr mitkommen.

Blicken wir noch einmal zurück auf Frau Kern. Frau Kern lebt isoliert und in hohem Maße eingeschränkt. Ihr Leben steht deutlich im Kontrast zu dem der Menschen außerhalb ihres eng begrenzten Lebensraums. Sie selbst könnte den Verzicht auf vieles verschmerzen. Und doch darf sie nichts getrost weglassen. Das Außen dringt in ihr abgegrenztes Leben und misst es an den (echten oder auch fremdbestimmten) Bedürfnissen jüngerer Menschen. Diesen „Konkurrenz- kampf“ kann Frau Kern nur verlieren. Einige Punkte dieses aussichtslosen Ge- fechts seien hier angedeutet: Das Konsumbedürfnis von Frau Kern ist auf ein Minimum geschrumpft. Für sie selbst ist das kein Problem. Sie ist für die Reize der Konsum- und Erlebnisgesellschaft weitgehend unempfindlich. Dies jedoch macht sie als Wirtschaftsfaktor unbrauchbar. Die moderne Erfahrungswelt ist ihr nicht mehr vertraut. Ihr Mangel an Partizipation macht sie kommunikationsun- fähig. Sie wird als „disengagiert“ und „inaktiv“ erlebt.11 Gleichwohl lebt Frau Kern. Sie braucht Hilfe, allerdings keine Hilfe, die auf eine äußere Verbesserung ihres Zustandes zielt. Die Segnungen des medizinischen Fortschritts und der modernen Unterhaltungsindustrie, an welchen man sie teilhaben lässt, zielen an ihren eigentlichen Bedürfnissen weit vorbei. Alte Menschen werden sehr viel schneller satt als junge, nicht nur, wenn es um die körperliche Nahrung geht. Sie brauchen das Leben in immer kleiner werdenden, mundgerechten Dosen. Sie bekommen, was sie nicht brauchen, und was sie brauchen, bekommen sie nicht.

Warum ist das so? Die Antwort ist klar: Ihre Befindlichkeit weist auf die unauf-

11 Ob dieser Zustand als wünschenswert oder zu bekämpfen gilt, darüber streiten sich die Soziolo- gen. Zur Aktivierungs- und Disengagementtheorie vgl. Joss-Dubach, B. (1987), 31ff. u. Moser, U.

(2000), 44ff.

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haltsame Grenze des Lebens hin. Das macht sie all denen suspekt, die, mitten im Alltag stehend, das Schwinden der Lebenskräfte erfolgreich verdrängen müssen.

Das Leben der Alten, auch das Leben der scheinbar sehr zurückgezogen in ihren Wohnungen oder in Heimen lebenden Alten, findet nicht in hermetisch abgeschlossenen Lebensräumen statt. Wie die Welle ein Stück Holz vor sich hertreibt, so schieben die nachkommenden Generationen die Alten vor sich her und drohen sie einfach wegzuspülen.

Es wäre jedoch auch ein Missverständnis zu meinen, die Alten würden in je- dem Fall glücklich sein, überließe man sie nur in den ihnen verbliebenen Räu- men sich selbst. Die Schicksale, die sozialen Umstände, körperliche und geistige Befindlichkeiten, welche die Menschen im Alter bewältigen müssen, sind so unterschiedlich und vielfältig wie die Lebensgeschichten, die sie geprägt haben.

Die Kunst, sich im immer enger werdenden Lebensraum so zu bewegen, dass das Alter trotz aller und durch alle schmerzhaften Erfahrungen hindurch eine gute Zeit bleibt, beherrscht nicht jeder gleich gut. Und die Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich.

Es ist zweifellos ein Unterschied, ob ich im Alter allein bin oder viele liebe Menschen um mich habe, ob ich Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss oder mir eine optimale Rundumpflege leisten kann, ob mir meine körperlichen und geisti- gen Kräfte noch viel Selbstständigkeit lassen oder ob ich bei jedem Handgriff auf Hilfe angewiesen bin. Es prägt Menschen in verschiedener Weise, wenn sie vom Reichtum eines bunten und erfolgreichen Lebens zehren können oder mit einer düsteren Lebensbilanz zurechtkommen müsssen.

Und doch bestimmt dies alles nicht Lob oder Klage. Es gibt arme Alte, die reich sind an Zufriedenheit, und Reiche, die das Alter verfluchen. Es gibt Allein- stehende, die im Gleichklang leben mit ihren Zeitgenossen und mit ihren Toten, und andere, die sich auch unter vielen Menschen immer einsam fühlen. Die einen verzetteln sich im Kampf mit ihrem altersschwachen Leib, die anderen leben schon im Geist in einer schönen fernen Welt. Mancher trägt schwer daran, nicht mehr zu sein, was er einmal war, ein anderer sieht allein dankbar auf das, was jetzt gerade ist.

Das Alter: Lob oder Klage? Die Frage bedarf vielleicht immer wieder der Er- örterung, aber gewiss nicht der Entscheidung. Wer über das Alter nachdenkt, sollte nie aufhören, nachdenklich zu sein. Er bleibe es, auch wenn dies Geduld und vor allem Mut erfordert. Er verzichte auf Kategorien und Stereotype, er möge kritisch sein gegenüber jeglicher Methodisierung. „Bekommt das Denken

‚Angst vor der eigenen Courage‘, so flüchtet es in die Methode.“12 Welche Me- thode aber wird schon dem Leben gerecht?! Wer also über das Alter nachdenkt, der bewege sich aufmerksam nachdenkend zwischen all den vorgelebten Ge- schichten. Vorgelebtes ist immer noch bewegender als jede Theorie. Die Ge- schichten alter Menschen erregen in uns Abwehr, Zweifel, Unmut, Staunen,

12 Adloff, K., Humor (2002), 11.

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1. Das Alter: Lob oder Klage? Eine Gedankenreise 19 Bewunderung und Mitleid. Nur selten aber lassen sie uns unberührt. Denn sie sind Fingerzeige auch unserer Existenz.

Am widerständigsten und deshalb am erbaulichsten und lehrreichsten sind diese Geschichten da, wo sie sich trotz „Altenlast“ ein bisschen Heiterkeit bewah- ren. Ein bisschen? Ja. Um Gottes willen keinen scheppernden, vielleicht gar ver- ordneten Seniorenfrohsinn. In der Regel vertragen alte Leute keinen Lärm, und schon gar nicht viel Lärm um Nichts: sei es nun Hip-Hop oder Humba-Humba- Täterä – dies alles ist ja unschwer zu entlarven als geschmacklose Verpackung eines Leerpakets.

Man achte und vertraue vielmehr auf das kleine Augenzwinkern. Es ist die Würze, der heilsame Sand im Getriebe der alten, sich so jugendlich gebärdenden Welt, und sorgt dafür, dass diese nicht allzu selbstgefällig ihre Runden dreht.

Das Heitere wird oftmals übersehen, weil es nicht im großen Pulk einher kommt, sondern meistens nur zu zweit mit seiner Schwester, der Bescheidenheit.

Eines der schönsten literarischen Zeugnisse zu diesem Thema ist der Brief- wechsel zwischen zwei alten Männern. Dass er, obwohl durch Unverstand bei- nahe verhindert, doch zustande kam, mag ein kleiner Hinweis sein auf eine gute Vorsehung, die mit Humor auf krummen Wegen grade schreibt.

Da wendet sich der 81jährige Karl Barth an den ihm persönlich nicht bekann- ten Carl Zuckmayer. Er habe dessen Buch „Als wär’s ein Stück von mir“ gelesen und wolle seine Teilnahme am Lebensweg des Autors zum Ausdruck bringen.

„Aus der Ferne!“ schreibt der Theologe. „Sie kennen mich nicht und haben mei- nen Namen vielleicht gelegentlich gehört und dann vergessen.“13

Um Zuckmayer zu zeigen, mit wem er es zu tun habe, stellt er sich vor: „Ich bin evangelischer Theologe, zuerst 12 Jahre Pfarrer in Genf und im Kanton Aar- gau, nachher 15 Jahre Professor in Göttingen, Münster i.W. und Bonn, wo ich wegen Verweigerung des Beamteneides auf Hitler 1935 unbrauchbar wurde, seither bis 1962 hier in Basel, und habe viele dicke und dünne theologische Bü- cher praktischen, historischen und vor allem – erschrecken Sie nicht zu sehr! – dogmatischen Inhalts geschrieben. Jetzt lebe ich in einem nach Umständen friedlichen und auch noch etwas geschäftigen Ruhestand. Liebliche Frauenge- stalten, auch einen guten Tropfen und eine dauernd in Brand befindliche Pfeife weiß ich immer noch bis auf diesen Tag zu schätzen.“14

Dies ist also der Steckbrief eines alten Mannes, bei dem der Dichter später vor allem „jenes seltsame Lachgefunkel in den Augen“15 erinnerte! Doch bis dort war es zu diesem Zeitpunkt noch eine Weile hin.

Der Brief Karl Barths war in die Post gegangen. Aber erst Wochen später lan- dete er in Zuckmayers Händen – nach einem fröhlichen Purzelbaum. Eine Zuckmayers Post „ordnende Hand“16 hatte ihn in ein dickes Dossier verbannt

13 Zuckmayer, C., Barth, K. (1995), 11f.

14 Ebd., 12.

15 Vgl. ebd., 85.

16 Ebd., 81.

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mit der Aufschrift „Übliche Briefe von Unbekannten, summarisch zu beantwor- ten“17. Durch eine Ungeschicklichkeit – oder war es Geschick? – glitt Zuckmayer der dicke Stoß zu Boden. Beim Aufheben entdeckte er den Brief Karl Barths.

„Glaubten Sie wirklich, daß ich ‚Ihren Namen vielleicht nur gelegentlich gehört und dann wieder vergessen‘ habe?“18, schreibt er an den Theologen und wundert sich ob dieser „kaum faßlichen Bescheidenheit“19.

Eine späte Freundschaft fand damit ihren Anfang, durch Altersklagen und -gebrechen immer wieder behindert und unterbrochen, doch voller Freude an allen noch vergönnten Tröstungen des Leibes und des Herzens und voll des Lo- bes für die geschenkte Zeit.

Kaum ein Jahr später läutete für den größten Theologen des 20. Jahrhunderts das Totenglöcklein. Für die Freundschaft war den beiden alten Männern nach Menschenjahren nicht viel Zeit geblieben. Es reichte gerade für zwei Begegnun- gen und für je ein Dutzend Briefe hin und her.

Doch jeder dieser Briefe gibt Zeugnis von der ewigen Wahrheit:

Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich.

Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit.

Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft.20

17 Ebd., 81.

18 Ebd., 13.

19 Ebd., 13.

20 Vgl. Anm. 1.

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