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Archiv "Hausärztliche Versorgung: Plädoyer für den Allgemeininternisten" (16.06.2006)

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ls im Jahr 1882 der Kongress für Innere Medizin gegründet wurde, ging es nicht darum, die Innere Medizin von den anderen Spezialberei- chen abzugrenzen, die damals in Form von Fachgesellschaften entstanden.

Friedrich Theodor Frerichs, der Vorsit- zende der Gründungsversammlung, nannte ausdrücklich als Zweck dieser Gesellschaft, die Einheitsidee des menschlichen Organismus gegenüber den – notwendigen – Spezialisierungen zu vertreten. Damals war man guten Glaubens, die Einheit der wissenschaft- lichen Medizin im Griff behalten zu können. Der an einer Universität gra- duierte Doktor der Medizin war kom- petent für die gesamte praktizierte Me- dizin und konnte sich daneben auch wissenschaftlich spezialisieren.

Eine verbindliche Weiterbildungsord- nung gibt es erst seit 1926. Damals wur- den 14 Fachbezeichnungen berufsrecht- lich kodifiziert, darunter auch der Fach- arzt für Innere Medizin. Bereits um die Jahrhundertwende war der „Praktizie- rende Arzt“ zum „Praktischen Arzt“

mutiert. Das bedeutete, dass es sich um einen Arzt handelte, der nur sein Dok- torexamen gemacht hatte, ambulant be- handelte und keine spezialisierende Weiterbildung absolviert hatte. Das war zunächst nicht negativ besetzt. Der prak- tische Arzt hatte in der Regel viele Jahre Erfahrung in Krankenhäusern gesam-

melt. Er stand in hohem Ansehen, als je- mand, der Überblick über den Medizin- betrieb, Erfahrung und Patientennähe besaß – und dankbar war, bei besonde- ren Problemen einen Spezialisten zurate ziehen zu können.

Statusdifferenz

Mit dem Fortschritt der Medizin begann sich das Bild zu wandeln. Röntgenologie und Labormedizin,Augenheilkunde und Pädiatrie machten den Anfang, auch die Fortschritte der Chirurgie trugen das Ih- re zum Wandel bei. 1920 änderte der Kongress für Innere Medizin seinen Na- men in Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin. Der Namenswechsel signali- sierte auch einen Bewusstseinswandel.

Ein Kongress wendet sich an alle Ärzte, eine Fachgesellschaft sondert sich ab.

Die enormen Fortschritte der natur- wissenschaftlichen Medizin seit dem aus- gehenden 19. Jahrhundert bewirkten ei- ne Fokussierung des öffentlichen und des ärztlichen Bewusstseins auf Pathophy- siologie und Diagnostik und ließen das Interesse an der personalen Ganzheit des

kranken Menschen in den Hintergrund treten. Dem praktischen Arzt blieb die Versorgung auch derjenigen Patienten, für die die Wissenschaft noch keine Hilfe zu bieten hatte: Er wurde zum Hausarzt, der Kluft zwischen Theorie und Praxis ausgesetzt. Die Schere zwischen dem Arzt und dem Spezialisten öffnete sich.

Aber noch betrafen die Unterschie- de eher die Art der Berufsausübung als die spezielle Qualifikation. So ist auch bei der berufsrechtlichen Kodifizierung des Fachgebietes Innere Medizin 1926 niemand auf den Gedanken gekom- men, der Internist müsse auf die hausärztliche Tätigkeit verzichten. Die Weiterbildungsordnung war zum einen Folge des zunehmenden Wissens, zum anderen entsprach sie dem Bedürfnis, zwischen klinisch seriös weitergebilde- ten Ärzten und solchen mit nicht weiter kontrolliertem Erfahrungswerdegang zu unterscheiden. Damit entstand eine Statusdifferenz zwischen praktischem Arzt und Facharzt, zunächst ohne be- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 24⏐⏐16. Juni 2006 AA1657

Hausärztliche Versorgung

Plädoyer für den Allgemeininternisten

Die Weiterbildungsnovelle aus dem Jahr 2002 schafft den Internisten ohne

Schwerpunkt ab – ein Fehler mit weitreichenden Folgen für die Qualität der Versor- gung, meint der frühere Präsident der Bayerischen Landesärztekammer.

Hans Hege

Noch sorgen allgemeininternistische Kran- kenhausabteilungen und in sechs Jahren wei- tergebildete Internisten ohne Schwerpunkt für eine fundierte Weiterbildung des Nach- wuchses.

Foto:Eckel

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sonderes Getöse und überdeckt von der Kollegialitätsforderung, die an alle Ärz- te gerichtet blieb. Aber die Kluft wurde doch empfunden. Beleg dafür ist die Gründung der Vereinigung praktischer Ärzte im Jahr 1927.

Für die praktischen Ärzte war der In- ternist zunächst keine Konkurrenz. Ihre postuniversitäre Weiterbildung war in der Regel nicht kürzer als die der Fachärzte, nur bunter strukturiert. Die praktischen Ärzte übernahmen die Brei- tenversorgung, einschließlich der häusli- chen, und konsultierten Fachärzte in Fäl- len, die den Einsatz von Technik (Radio- logie, EKG) oder besonderes Wissen er- forderten. Hausbesuche machte ein In- ternist nur ausnahmsweise und ungern.

Die Facharztdichte war gering, deshalb war er an der hausärztlichen Tätigkeit nicht interessiert, zumindest nicht, wenn es sich um Kassenpatienten handelte.

Binnen weniger Jahrzehnte änderte sich dieses Bild friedlicher Arbeitstei- lung, zunächst in den Ballungszentren.

Mehrere Ursachen wirkten dabei zu- sammen: der rasante Fortschritt der Me- dizin, die zunehmende Arztdichte infol- ge der Aufhebung der Zulassungsbe- schränkungen (1961), die Struktur der Gebührenordnung und die Verpflich- tung der Krankenkassen, die Honorare ohne Abzug, wenn auch nach Prüfung, auszuzahlen (1965). Technische und La- borleistungen wurden üppig honoriert – zum einen, weil sie sich gut kontrollieren ließen, zum anderen, weil sie als Signal für einen auf der Höhe des Wissens ste- henden Arzt galten. Die ärztlichen Ge- sprächsleistungen, die körperliche Un- tersuchung, die Anamnese sah man da- mit als abgegolten an. „Fürs Schwätzen zahlen wir nichts“ und „Opas Praxis ist tot“ lauteten die Parolen.

Die Folge war ein rasches Ansteigen der Facharztzahlen und ein sinkendes Ansehen der praktischen Ärzte. In die- ser Situation traten zunächst die Lobby- isten der Praktiker auf den Plan. Sie bemühten sich um die Modernisierung der Hausarztpraxen, um die Anhebung der Kompetenz der Hausärzte und um die Stärkung ihrer berufspolitischen Einheit. Es folgte die Forderung, das Fach Allgemeinmedizin an den Univer- sitäten zu etablieren und es in die Wei- terbildungsordnungen der Ärztekam- mern aufzunehmen.

Das hatte Erfolg, aber auch Folgen.

Denn die Einordnung des Arztes für All- gemeinmedizin in die Systematik der Weiterbildungsordnung im Jahr 1968 er- forderte eine Abgrenzung des Fachge- bietes. Die vorhandenen Gebiete defi- nierten sich entweder durch ihren Bezug auf Organsysteme oder technische Me- thoden (Laborarzt, Radiologe). Der All- gemeinarzt war in diesem Muster nicht unterzubringen. Daher wurde er durch seine Funktion als Haus-

arzt definiert, nicht durch ein „Fach“.

Das Hausarztbild ori- entierte sich an einer Idealvorstellung des prak- tischen Arztes aus Zei- ten beschränkten wissen- schaftlich gesicherten Wis- sens und geringem Tech-

nisierungsgrad der Medizin. Der Haus- arzt wurde verstanden als erste Anlauf- stelle der Patienten bei allen gesund- heitlichen Problemen und als derjenige, der die häusliche Versorgung übernahm.

Er musste die allgemeine Medizin ohne spezialisierte Vertiefung beherrschen und in der Lage sein, rechtzeitig den richti- gen Spezialarzt oder das Krankenhaus einzuschalten.

Bildung droht zu verflachen

Der hohe Anspruch an medizinisches Überblickwissen und Erfahrung, der mit diesem Idealbild verbunden war, kontrastierte von Anfang an mit den geringen zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen der Weiterbildungsord- nung. Auch die schwammige Definition des Gebietes Allgemeinmedizin erregte Unbehagen.

Dennoch gab es Fortschritte. Die Weiterbildungszeit des Allgemeinarz- tes wurde im Lauf der Jahre von ur- sprünglich drei auf zuletzt fünf Jahre er- höht. Und an den Universitäten wurde die Allgemeinmedizin institutionell verankert, zunächst durch Lehrbeauf- tragte, hier und da durch Lehrstühle.

Die hausärztliche Medizin wurde zum Gegenstand der Forschung. Diese stützte sich dabei auf Vorarbeiten des Pioniers der wissenschaftlichen Allge- meinmedizin, Robert N. Braun. Er sah eine wesentliche Aufgabe des Hausarz-

tes darin zu entscheiden, ob im konkre- ten Fall die Stellung einer Diagnose überhaupt erforderlich ist. „Abwarten- des Offenlassen“ und „rechtzeitiges Er- kennen abwendbar gefährlicher Ver- läufe“ waren wesentliche Stichworte.

80 Jahre nach Frerichs Initiative nahm jetzt die Allgemeinmedizin den von ihm formulierten Anspruch als ihren eigentlichen Auftrag ins Visier.

„Je mehr sich die Medizin in Einzel- disziplinen auflöst, umso wichtiger erscheint es mir, dass der praktische Arzt [. . .] in Zusammen- schau der Untersuchungs- ergebnisse die richtige individuelle Behandlung findet“, erklärte Theodor Dobler 1961 vor dem Deutschen Ärztetag. Die Allgemeinmedizin ist zuständig für die Einheit des Patienten aus psychischer, physischer und sozialer Natur, wie es 1993 die Weiterbildungsordnung for- mulierte. Sie besetzte damit implizit den Brennpunkt aller kurativen Medizin:

das gesundheitliche Wohl des einzelnen Patienten. Indirekt scheint damit den Spezialisten solche Zuständigkeit ab- gesprochen.

Hierzu trug nicht wenig bei, dass vie- le Fachspezialisten die Sorge um die Komplexität der Situation des kranken Menschen gern dem Hausarzt über- ließen. Sie beschränkten sich auf die wissenschaftliche Diagnosenstellung und die daraus ableitbare wissenschaftlich fundierte Therapie und reduzierten da- mit ihr Arztsein auf das Facharztsein.

Allerdings haben die Deutsche Gesell- schaft für Innere Medizin und mit ihr die Mehrzahl der allgemeininternisti- schen Fachärzte die Intention Frerichs bewahrt: Nicht die spezialistische Qua- lifikation, sondern die ganzheitliche Sicht des Kranken macht den Arzt aus.

Schon früh war zu bemerken, dass sich damit eine Konkurrenz zwischen Allgemeinärzten und Internisten um die Zuständigkeit für die Ganzheit des kranken Menschen anbahnte. Der Be- griff „Hausarzt“ erhielt eine doppelte Bedeutung. Er bezeichnete einerseits die Funktion der ersten Anlaufstelle, andererseits aber auch die Intensität und Dauerhaftigkeit der Arzt-Patient- Beziehung. In Gebieten geringer Arzt- T H E M E N D E R Z E I T

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Politisch lief der Dissens darauf hinaus, dass die Allgemeinärzte

ein Monopol auf die Hausarztfunktion

anstrebten.

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dichte war der praktische Arzt beides.

In den Städten wählten viele einen In- ternisten als Arzt ihres Vertrauens.

Das Gesundheitsreformgesetz von 1993 trug dem Rechnung, indem es Interni- sten und Kinderärzten die Beteiligung an der hausärztlichen Versorgung der Kassenpatienten unter bestimmten Be- dingungen freistellte. Zur offenen Kon-

troverse kam es, weil die Weiterbil- dungsordnung von 1993 die hausärztli- che Versorgung primär dem Fachgebiet Allgemeinmedizin zuordnete.

Politisch lief der Dissens darauf hin- aus, dass die Allgemeinärzte ein Mono- pol auf die Hausarztfunktion anstreb- ten, dafür aber bereit waren, ihren Lei- stungsbereich bezüglich diagnostischer und therapeutischer Methoden einzu- schränken. Die Internisten dagegen for- derten, ihnen die Option für die Haus- arztfunktion ebenso zu belassen wie das Recht, die mit der Facharztprüfung er- worbenen speziellen Fähigkeiten anzu- wenden. Die jüngste Reform der Wei- terbildungsordnung aus dem Jahr 2002 schien dieses Ärgernis zu beseitigen, in- dem sie die Fächer Allgemeinmedizin und Innere Medizin verschmolz und den Facharzt für Innere Medizin ohne Schwerpunkt abschaffte.

Der Widerspruch, den dies bei einem Teil der Internisten erregte, hat nachvoll- ziehbare Gründe. Schließlich kann man nicht übersehen, dass die neue Weiterbil- dungsordnung allen Ärzten des Gebietes außerhalb ihres Schwerpunktes nur noch eine dreijährige internistische Schmal-

spurweiterbildung abverlangt. Das stört vor allem diejenigen, die nach altem Recht eine sechsjährige internistische Weiterbildung absolviert haben, dies aber der Öffentlichkeit wegen der Iden- tität der Bezeichnung nicht mehr anzei- gen können. Zu bedenken ist auch das Argument vieler Kritiker,dass es unmög- lich ist, in drei Jahren einen ausreichen- den und erfahrungsgestützten Überblick über die Innere Me- dizin zu erwerben.

Nun ist aber die für die Weiterbildung angesetzte Zeit nicht beliebig verlängerbar.

Am Ende soll der Arzt die Rei- fe erworben haben, seinen Be- ruf selbstständig und eigenver- antwortlich auszuüben. Vor 50 Jahren waren vier Jahre für den Erwerb der Facharztbezeich- nung Innere Medizin erforder- lich. Bis 2003 hatte sich die Spanne auf sechs Jahre verlän- gert, und mindestens zwei Jahre kamen dazu für den Erwerb ei- ner Schwerpunktbezeichnung.

Nun ist es keineswegs absurd, den Grundstock praktisch an- gewandten internistischen Wissens in drei Jahren an einer zugelassenen Wei- terbildungseinrichtung an Menschen vermitteln zu wollen, die zuvor sechs Jahre Medizin studiert haben, und dann die Schwerpunktqualifikation anzu- schließen. Die Einheit der Inneren Medizin als Spiegel der Einheit des Organismus lässt sich auch darauf bau- en.Allerdings nicht, ohne die Ansprüche an das allen Internisten gemeinsam ab- zufordernde Wissen quantitativ zu ver- ringern. Ob dies auch eine qualitative Minderung des medizinischen Über- blickwissens zur Folge haben wird, hängt davon ab, wie die Weiterbildungszeit ausgefüllt wird. Solange es allgemeinme- dizinische Krankenhausabteilungen und in sechs Jahren weitergebildete Interni- sten ohne Schwerpunkt gibt, wird das Weiterbildungsresultat von der Qualität der Weiterbildungseinrichtung bestimmt sein. Danach allerdings sieht es düster aus, denn gerade das internistische Überblickwissen ist nicht Gegenstand der Inhalte der Weiterbildung und kann auch nicht mehr vermittelt werden, wenn es nur noch Schwerpunktspeziali- sten gibt. Die Verflachung der ärztlichen

Bildung und der drohende Kompetenz- verlust in der hausärztlichen Versorgung könnten jedoch das Gegenteil dessen bewirken, was die Weiterbildungsreform mit der Verschmelzung der Fächer Inne- re und Allgemeinmedizin bewirken wollte. Diese Weichenstellung sollte die verfasste Ärzteschaft korrigieren.

Es lohnt sich, den Gründen nachzu- spüren, die die Mehrheit des deutschen Ärztetages 2002 in Rostock bewogen ha- ben, diese Konsequenz in Kauf zu neh- men. Da war zunächst das verbreitete Unbehagen über den Streit zwischen all- gemeinärztlichem und internistischem Berufsverband um die Hausarztkompe- tenz, der ein einheitliches Auftreten der Ärzteschaft konterkarierte. Die neue Weiterbildungsordnung schien ein genia- ler Schachzug zu sein, um diesen Streit zu beenden. Dies umso mehr, als sich der Berufsverband der Allgemeinärzte seit Anfang der 90er-Jahre in „Deutscher Hausärzteverband“ umgetauft und für hausärztliche Internisten geöffnet hatte.

Dieser klugen Politik wurde durch die neue Weiterbildungsordnung allerdings der Boden entzogen. Die starke Klam- mer zur Inneren Medizin, die ein Ver- band darstellte, der Allgemeinärzte und hausärztliche Internisten vereinte, verlor in dem Moment an Wirkung, als der hausärztliche Internist abgeschafft wur- de. Diese Folge haben die allgemeinärzt- lichen Delegierten des Deutschen Ärzte- tages wohl nicht gesehen.

Hausarzt als Kontrollinstanz

Hinzu kam der Druck vonseiten der Gesundheitspolitik, die im Hausarzt eine willkommene Kontrollinstanz ge- genüber den sich ständig vermehrenden Leistungen der Spezialisten sah und ihn in diesem Sinne zu instrumentalisieren hoffte. Bereits 1993 wurde die Tren- nung zwischen hausärztlicher und spe- zialärztlicher Versorgung im Sozialge- setzbuch verankert. In der Folge muss- ten sich die Internisten entscheiden, ob sie als Haus- oder Fachärzte tätig sein wollten. Rund 80 Prozent votierten für die Hausarzttätigkeit, nicht zuletzt we- gen der erheblich verbesserten haus- ärztlichen Honorierung.

Die Hausarzt-Facharzt-Trennung im Sozialversicherungsrecht galt zwar nur T H E M E N D E R Z E I T

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A1660 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 24⏐⏐16. Juni 2006

Zum allgemeinärztlichen Selbstverständnis gehört die ganzheitliche Betreuung der Patienten – auch zu Hause.

Foto:Klaus Rose

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für den vertragsärztlichen Bereich. Sie stellte dennoch einen eklatanten Ein- griff in die Berufsausübungsfreiheit dar, deren Regeln bis dahin durch die Weiter- bildungsordnungen der Ärztekammern definiert waren. Diese Einschränkung ihrer „Qualifikationshoheit“ hatten die Kammern ohne sichtbaren Protest hin- genommen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht bereit waren, die Hausarztfunk- tion mit einer Leistungspflicht zu verbin- den. Dies wiederum lag nicht nur an der tradierten Überzeugung, die Leistungs- pflicht ergebe sich aus den allgemeinen Arztpflichten und die Qualifikation für die Hausarztfunktion habe jeder Arzt mit seiner Vollapprobation erworben. Es lag auch daran, dass die Weiterbildungs- ordnung damals noch ganz bewusst als Schilderordnung aufgefasst wurde, die dem Arzt als Freiem Beruf nur eine Be- schränkung hinsichtlich seines werbe- wirksamen öffentlichen Auftretens auf- erlegte, die Art und Ausgestaltung seiner ärztlichen Tätigkeit aber seinem Verant- wortungsbewusstsein überließ, für das er die sittlichen Maßstäbe in der Berufs- ordnung fand.

Die Funktionsbezeichnung „Haus- arzt“ hatte bis zur Weiterbildungsre- form 2002 keinen Eingang in die Wei-

terbildungsordnung gefunden. In der neuen Weiterbildungsordnung findet sich hinter der Bezeichnung „Arzt für Innere und Allgemeinmedizin“ das Wort „Hausarzt“ in Klammern. Aber das bedeutet nur, dass dieser die Be- zeichnung Hausarzt führen darf, nicht, dass er dies muss. Führt er die Bezeich- nung, so ist im Rahmen des Berufs- rechts nach wie vor nicht geregelt, wel- che Pflichten er damit übernimmt.

Außerdem ergibt sich aus dem Text, dass außer dem „Arzt für Innere und Allgemeinmedizin“ niemand sich als Hausarzt ankündigen darf.

Die Novelle von 2002 hat den Fach- arzt für Innere Medizin zum Auslaufmo- dell gemacht. Damit bleibt der ganzheit- liche Aspekt der Medizin gänzlich der Allgemeinmedizin überantwortet, weil es ja daneben nur internistische Schwer-

punktärzte gibt. Hier hat sich die ärztli- che Berufsordnung, von der die Weiter- bildungsordnung ein wesentlicher Teil ist, jenem Paradigma der kurativen Me- dizin angepasst, welches die Gesund- heitspolitik für das soziale Sicherungssy- stem benutzt. In diesem ist der Hausarzt intendiert als obligates Rationalisie- rungsinstrument bei der Zuweisung ver- knappter spezialistischer Ressourcen an den Patienten. Zwar wird das verschlei- ert, indem man ihm die Berater- und Managerfunktion zulobt und von ihm erwartet, dass er mit den Mitteln der Er- fahrungsmedizin in relevantem Umfang die Zuziehung teurer spezialärztlicher Kompetenz entbehrlich macht. Aber da- hinter steht doch ein Druck, im Zweifels- fall den ökonomischen Interessen der Versichertengemeinschaft den Vorrang einzuräumen. Es ist kein Geheimnis, dass die meisten Politiker den Allge- meinarzt als obligate Durchgangsstation zum Spezialisten etabliert sehen möch- ten, wenn eine solche Einschränkung der freien Arztwahl nicht so unpopulär wä- re. Weshalb die Ärztekammern einer solchen Absicht eine berufsrechtliche Grundlage auf dem Tablett präsentieren, indem sie die Hausarztfunktion dem ein- gemeindeten Allgemeinarzt exklusiv zu-

ordnen und damit die im GKV-System bis ins Detail festgezurrte Trennung von hausärztlicher und fachärztlicher Be- rufsausübung in das Berufsrecht über- nehmen, ist völlig unverständlich.

Befreit man die Allgemeinärzte in der hausärztlichen Versorgung von dem Wettbewerb mit dem Allgemeininterni- sten – wie es die Weiterbildungsnovelle beabsichtigt –, so wird auf Dauer auch die Kompetenzbreite der in der Primär- versorgung Tätigen sinken. Gewiss kann sich der Einzelne mit Fleiß, Passion, Be- gabung und Interesse einer solchen Ent- wicklung entziehen. Aber mehrheitlich werden die Hausärzte – erdrückt von ihren Pflichten als Archivare, medizini- sche Makler, Hausbesucher, und in der Sprechstunde zur Schnellmedizin Ver- dammte – ausgiebig von der Überwei- sung an Spezialisten Gebrauch machen

müssen. Dafür werden nicht nur ihre Haftpflichtrisiken und der Zeitdruck sorgen, sondern auch ihr ärztliches Ver- antwortungsbewusstsein, wenn die sym- ptomatische Therapie bei abwartendem Offenlassen der Diagnose nicht in kur- zer Zeit zur Heilung führt.

Zweite Säule erhalten

Aber wie man auch den Internisten oh- ne Schwerpunkt in dem arbeitsteiligen Medizinbetrieb einordnen mag: Ihn ab- zuschaffen, indem man ihm ein Fach- arztdiplom verweigert, das in allen übri- gen EU-Staaten existiert, ist vom Selbstverständnis des ärztlichen Beru- fes her nicht zu begründen.

Mit der Weiterbildungsreform wird eine Weiterbildung zum Abfall gewor- fen, die in dem großen Gebiet der Inne- ren Medizin eine breite ärztliche und wissenschaftliche Kompetenz vermit- telt und der hausärztlichen Versorgung zugute gekommen ist. Die in der Ver- gangenheit mit sträflichem Hochmut behandelte Gruppe der Allgemeinärzte sollte sich nicht zum Büttel politischer Interessen machen lassen, die die Poli- tik selbst zu verantworten sich nicht traut. Die Politik mag sich eine sol- che ärztliche Hyper-Instanz wünschen.

Aber ihre kollektivistische Schreib- tischlogik ignoriert die Komplexität der Medizin und die Ethik eines Berufes, die nicht auf zwei Schultern Wasser zu tragen erlaubt.

Die Einbeziehung des Allgemeinarz- tes in das Gebiet Innere Medizin macht Sinn.Aber den Facharzt für Innere Medi- zin ohne Schwerpunkt muss man erhal- ten: als zweite Säule der hausärztlichen Versorgung, als Weiterbildungsreservoir für künftige Hausärzte, als Qualitäts- anreiz für die hausärztliche Versorgung.

Und um die Allgemeinmedizin davor zu bewahren, als billiger Jakob der Kassen- medizin missbraucht zu werden.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(24): A 1657 – 62.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Hans Hege von 1991 bis 1999 Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, St.-Egidi-Straße 33

82205 Gilching T H E M E N D E R Z E I T

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A1662 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 24⏐⏐16. Juni 2006

Die in der Vergangenheit mit sträflichem Hochmut

behandelte Gruppe der Allgemeinärzte sollte sich

nicht zum Büttel politischer Interessen machen lassen.

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