DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Tuberkulindiagnostik (Tuberkulintest)
Empfehlungen
des Deutschen Zentral- komitees zur
Bekämpfung der Tuberkulose
Der Tuberkulintest hat bei epide- miologischen Fragestellungen eine zentrale Bedeutung. Durch den Rückgang der Tuberkulose gewinnt er auch für die klinische Diagnostik zunehmend an Wert.
1. Tuberkulinreaktion
Die Tuberkulin-Reaktion be- ruht auf einer Überempfindlichkeit gegen Eiweißbestandteile der Myko- bakterien, insbesondere von M. tu- berculosis und M. bovis. Die Tuber- kulinallergie kann durch Infektion mit M. tuberculosis, anderen Myko- bakterien oder durch Tuberkulose- Schutzimpfung (BCG-Impfung) er- worben werden. Es handelt sich um eine allergische Reaktion vom ver- zögerten Typ. Sie tritt im Mittel sechs Wochen nach Infektion mit Tuberkelbakterien auf.
2. Tuberkuline
Alttuberkulin (AT):
AT ist in der Bundesrepublik Deutschland nur noch in der Veteri- närmedizin gebräuchlich. In der Hu- manmedizin ist es obsolet und soll in der Tuberkulosediagnostik nicht mehr angewandt werden.
Gereinigtes Tuberkulin (GT):
GT ist ein Tuberkuloprotein, das durch fraktionierte Filtration aus Tuberkelbakterien, die auf einem synthetischen Medium gezüchtet
werden, gewonnen wird. Durch die- ses Verfahren werden die Wirkstoffe weitgehend von störenden Ballast- stoffen befreit. Das zur besseren Haltbarkeit getrocknete Präparat enthält außer dem Tuberkulin noch eine Puffersubstanz.
Das PPD der europäischen Pharmakopoe entspricht dem inter- national verwendeten PPD-S (Puri- fied Protein Derivative Standard).
Hinsichtlich Reinheitsgrad und Spe- zifität besteht kein Unterschied zum GT (Hoechst).
Sensitine („Tuberkulin") aus sogenannten
„atypischen" Mykobakterien:
Sie sind zur Zeit nicht im Han- del erhältlich. Im Bedarfsfall kön- nen sie bezogen werden vom a) Forschungsinstitut Borstel, 2061 Borstel;
3. Tuberkulintest- Methoden
3.1 Stempeltest
Zur Verfügung stehen drei Test- körper (in der Reihenfolge ihrer Einführung):
a) Tuberkulin-Tine-Test PPD (Le- derle): Kunststoff-Teststempel mit vier Stahlzinken mit GT.
b) Tubergen-Test (Behring-Wer- ke): Kunststoff-Teststempel mit GT.
c) Tuberkulintest PPD Merieux:
Kunststoff-Teststempel mit GT.
Alle drei Testkörper führen zu einer Reaktion von der Stärke, die auf etwa 5
IE
GT beim Intrakutan- test nach Mendel-Mantoux zu er- warten ist. Eine exakte Dosierung ist nicht gewährleistet, falsch-negati- ve Ergebnisse sind möglich.Applikation: Unterarm-Innen- seite oder, nach Empfehlungen der
b) Statens Seruminstitut, Kopenha- gen
c) US-Public Health-Service, Cen- ters for Disease Control, Atlanta, GA 30333, USA.
Die vom dänischen Staatlichen Serum-Institut Kopenhagen herge- stellten Gruppensensitine führen die Bezeichnung RS:
RS 10 = nichtchromogene Sensitine RS 30 = photochromogene Sensitine, RS 64 = skotochromogene Sensitine.
Bei der Anwendung sind die Be- stimmungen des Arzneimittelgeset- zes zu beachten.
Internationale
Tuberkulin-Einheit (IE):
Sie gilt als Maßstab für die Tuberku- lin-Konzentration. In 0,1 ml einer Lösung 1:100 befindet sich 1 mg Tu- berkulin entsprechend 100 IE.
WHO, Unterarm-Außenseite. Die Haut soll im Bereich der Teststelle mit einem Desinfektionsmittel gerei- nigt werden, danach Haut spannen, Testkörper mit der anderen Hand senkrecht aufsetzen und etwa zwei Sekunden lang fest eindrücken, Teststelle trocknen lassen, nicht ver- binden.
Stempeltests dürfen von erfah- renen Hilfskräften angelegt und ab- gelesen werden.
Auswertung des Stempeltests:
Ablesung erfolgt frühestens nach 72 Stunden, spätestens 1 Woche nach der Applikation. Die Reaktion wird als positiv bezeichnet, wenn wenig- stens an einer Einstichstelle eine tastbare Induration nachweisbar ist.
Rötung ohne Induration reicht nicht aus. Verstärkte Reaktionen können in Form von Konfluenz, Blasen- bis Geschwürsbildung auftreten.
Lagerung: Alle Testkörper kön- nen ohne Wirkverlust bei Zimmer- temperatur, möglichst lichtge- A-30 (34) Dt. Ärztebl. 85, Heft 1/2, 11. Januar 1988
schützt, aufbewahrt werden. Auf das Verfallsdatum ist zu achten.
3.2 Der intrakutane Tuberkulin-Test
nach Mendel-Mantoux
Der Intrakutantest nach Men- del-Mantoux ist als Standard der Tu- berkulin-Testung anzusehen. Er ist in jedem Fall vor einer Entschei- dung über eine präventive Chemo- therapie anzuwenden.
Durchführung: Der Test wird mittels einer Spritze (spezielle Tu- berkulinspritze mit dazugehöriger Kanüle zur einmaligen Verwen- dung) streng intrakutan an der Dor- salseite des Unterarms injiziert. Es werden 0,1 ml einer in der ge- wünschten Verdünnung frisch her- gestellten Lösung injiziert. Gerei- nigtes Tuberkulin (Tuberkulin GT- Hoechst der Behring-Werke) ist in Stärken von 1, 10, 100 (und 1000) er- hältlich.
Nach vorschriftsmäßiger Auflö- sung der Trockensubstanz sind in 0,1 ml die der deklarierten Stärke ent- sprechende Anzahl IE enthalten: 0,1 ml der Stärke 1 enthält 1 IE, 0,1 ml der Stärke 10 enthält 10 IE, 0,1 ml der Stärke 100 enthält 100 IE. Tu- berkulin GT-Lösungen aller Stärken müssen am Tage der Auflösung ver- braucht werden. Ein Rest muß ver- worfen werden. Der Intrakutan-Test darf von nicht-ärztlichem Personal unter ärztlicher Haftung angelegt und ausgewertet werden.
Auswertung: Die Ablesung er- folgt frühestens nach 72 Stunden, spätestens eine Woche nach der Ap- plikation. Eine tastbare Induration ab 6 mm Durchmesser ist als positiv zu bewerten, alleinige Hautrötung ist als negativ anzusehen. Geringere Indurationen als 6 mm können ins- besondere nach Injektion von 100 IE auch durch andere Mykobakte- rien als M. tuberculosis oder durch BCG-Impfung hervorgerufen sein.
Eine Abklärung ist in diesem Fall anzustreben.
Die Testung nach Mendel-Man- toux soll mit 10 IE begonnen wer- den. Wenn der Test wiederholt wer- den soll, so kann dies in gleicher Stärke oder sofort mit 100 IE erfol-
gen. Ein negativer Ausfall der Te- stung mit 100 IE macht bei klini- scher Fragestellung das Vorliegen einer Tuberkulose unwahrscheinlich (siehe jedoch Ziffer 4).
Bei Testung mit höheren Dosen als 100 IE nimmt die Wahrschein- lichkeit einer falsch-positiven Reak- tion infolge Infektion mit atypischen Mykobakterien zu. Sie ist entspre- chend mit Vorsicht zu beurteilen.
3. 3 Perkutane Tuberkulinproben
Der perkutane Tuberkulintest (Einreibung mit Perkutan-Tuberku- linsalbe S) wird allenfalls noch für Säuglinge angewandt, er gewährlei- stet keine exakte Tuberkulindosie- rung.
Auswertung: Die Ablesung er- folgt nach 4 bis 7 Tagen. Als „posi- tiv" gilt das Auftreten von wenig- sten drei Papeln. Konfluenz und Blasenbildung werden als starke Re- aktion gewertet. Bei der Anwen- dung als Pflastertest ist auf unspezi- fische Pflasterreaktionen zu achten.
4. Allgemeines zur Auswertung
Bei angeborenem oder erworbe- nem Immunmangelsyndrom sowie unter immunsuppressiver Therapie kann die Reaktion auf Tuberkulin fehlen. Nach Virusinfekten (Ma- sern, Windpocken), insbesondere nach Schutzimpfungen gegen Ma- sern und Mumps, bei lymphatischen Systemerkrankungen mit Verlust der zellulären Immunität sowie bei Sarkoidose kann die Tuberkulinre- aktion (vorübergehend) vermindert sein oder fehlen.
Negativer Ausfall schließt eine Tuberkulose nicht in jedem Fall aus, insbesondere nicht bei Miliartuber- kulose und Meningitis tuberculosa.
Wiederholte Tuberkulin-Te- stungen können bei Infizierten ver- stärkte Reaktionen hervorrufen („Booster-Effekt"). Dies darf nicht mit einer Tuberkulinkonversion ver- wechselt werden. Wiederholungste- stungen sollen deshalb möglichst am
anderen Arm erfolgen. Bei negati- vem Ausfall eines Tuberkulin-Tests kann bereits am Ablesetag der näch- ste Test mit der gleichen oder einer höheren Konzentration durchge- führt werden.
Nicht-Tuberkuloseinfizierte können auch durch wiederholte Tu- berkulin-Testungen nicht sensibili- siert werden. Eine Tuberkulinte- stung kann auch ohne Bedenken während einer Schwangerschaft er- folgen.
5. Indikation und Anwendung
des Tuberkulin-Testes
5.1 Epidemiologische Indikation
5.1.1: Epidemiologische Situa- tion, Durchseuchungsgrad der Be- völkerung: hier sind in den Untersu- chungsbedingungen Testart (Stem- pel, Mendel-Mantoux), Dosis (ange- geben in IE), Ablesetag (identisch für die gewählte Kampagne) im vor- aus verbindlich festzulegen. Die Re- aktionsstärke muß für die Testung nach Mendel-Mantoux in mm Indu- ration angegeben werden.
5.1.2: Umgebungsuntersuchung.
5.1.3: Berufliche Exposition (siehe auch Berufsgenossenschaft- liche Grundsätze für arbeitsmedizini- sche Vorsorgeuntersuchungen): Der Test nach Mendel-Mantoux ist die Methode der Wahl und grundsätzlich durchzuführen, da mit dem Stempel- test nicht alle Reagenten erfaßt wer- den. Bei Umgebungsuntersuchungen sowie bei beruflicher Exposition ist bei wiederholter Tuberkulin-Testung im Falle eines positiven Ausfalls bei vorher negativem Ausfall im Einzel- fall zwischen Konversion und „Boo- ster-Effekt" zu unterscheiden.
5.2 Klinische Indikation
Die Tuberkulindiagnostik ist
heute auch im Erwachsenenalter
wichtig.
5.2.1: Routinediagnostik: Als erster diagnostischer Schritt ist der Stempeltest geeignet.
Dt. Ärztebl. 85, Heft 1/2, 11. Januar 1988 (37) A-31
5.2.2: Ausschluß einer manife- sten Tuberkulose-Erkrankung: Bei negativem Stempeltest ist der Test nach Mendel-Mantoux bis 100 IE er- forderlich (Grenzen der Aussagefä- higkeit siehe Ziff. 3.2 und 4).
5.2.3: Feststellung der Tuber- kulin-Konversion, auch nach BCG- Impfung. Als Konvertor gilt jeder Reagent, bei dem der Umschlag der Tuberkulinreaktion innerhalb Jah- resfrist nach mindestens einer als ne- gativ beurteilten Tuberkulinprobe festgestellt wird.
Nach Tuberkulinkonversion im Kindesalter ist eine intradomiziläre und intrafamiliäre Umgebungsun- tersuchung angezeigt. Dasselbe gilt sinngemäß für Starkreagenten (Kon- fluenz der Induration, im Stempel-
6. Nebenwirkungen
Bei richtiger Handhabung ist der Tuberkulintest ungefährlich.
Nach einer exakten Anwendung der beschriebenen Methoden zu diagno- stischen Zwecken kommen Herd- und Allgemeinreaktionen nicht vor.
Vereinzelt auftretende Stark-Reak- tionen sind nicht zu vermeiden. Sie klingen unter symptomatischer Be- handlung ab.
7. Tuberkulin-Test und BCG-Impfung
Neugeborene können ohne vor- herigen Tuberkulin-Test mit BCG geimpft werden. Ein Kontakt des Impflings mit einer Infektionsquelle ist vor Auftreten der Tuberkulinre- aktion zu vermeiden. Jenseits der 6.
Lebenswoche und für alle übrigen Lebensalter ist unter den Bedingun- gen der Bundesrepublik Deutsch- land daran festzuhalten, daß nur nachweislich nicht infizierte Perso- nen geimpft werden. Dies ist durch Vortestung mit 10 IE nach Mendel- Mantoux festzustellen.
Die Nachprüfung der erzielten Tuberkulinempfindlichkeit soll frü- hestens drei Monate nach der Imp- fung erfolgen. Sie ist unbedingt an- gezeigt, wenn der Impfling durch Tuberkulose in der Umgebung ge- fährdet ist.
test Blasenbildung beziehungsweise Induration > 16 mm), auch ohne Kenntnis des Zeitpunktes der Kon- version.
Bei Tuberkulinkonversion be- ziehungsweise Starkreagenten ist ei- ne Thorax-Röntgenaufnahme erfor- derlich. Ist hierbei kein krankhafter Befund festzustellen, ist eine 12mo- natige Überwachung erforderlich.
Eventuell ist eine präventive Che- motherapie angezeigt. Eine Rönt- genkontrolle muß nach drei und sechs Monaten und abschließend nach einem Jahr vorgenommen wer- den.
Bei Auftreten klinischer Sym- ptome muß dann eine kurative anti- tuberkulöse Chemotherapie einge- leitet werden.
Vor jedem Tuberkulintest ist nach einer früheren BCG-Impfung zu fragen (Impfnarbe bei in der Bun- desrepublik Deutschland Geimpften meist an der Außenseite eines Ober- schenkels, sonst im Oberarm-Schul- terbereich). Nach einer BCG- Impfung kann im allgemeinen auf die Dauer von fünf bis zehn Jahren mit einer Tuberkulinreaktion ge- rechnet werden.
Eine Tuberkulinreaktion nach BCG-Impfung im Rahmen der Rou- tinediagnostik erfordert nicht auto- matisch eine Röntgenuntersuchung.
Bei Starkreagenten ist eine Rönt- genuntersuchung erforderlich. Bei Umgebungsuntersuchungen sind auch BCG-Geimpfte zu kontrollie- ren. Bei vorhandener Tuberkulinre- aktion ist eine Röntgenuntersu- chung erforderlich.
8. Duldungspflicht der Tuberkulinprobe
Das Bundesseuchengesetz in der Fassung vom 18. Dezember 1979 (Bundesgesetzblatt I. S. 2262) be- sagt:
„§ 47 (4) Schüler dürfen durch eine perkutane oder intrakutane Tu- berkulinprobe auf Tuberkulose un- tersucht werden. Personen, denen die Sorge für die Person eines Schü- lers zusteht, sind verpflichtet, diese Untersuchung zu dulden. (5) Das
Grundrecht der körperlichen Unver- sehrtheit (Artikel 2, Abs. 2, Satz 1 des Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt."
Demnach sind intrakutane Tu- berkulinproben duldungspflichtig.
Sie dürfen erforderlichenfalls bei Kindern und Jugendlichen durchge- führt werden. Grundsätzlich sollte angestrebt werden, bei Minderjähri- gen die Einwilligung der Sorgebe- rechtigten zu erhalten.
Die Richtlinien wurden ausgearbeitet von:
R. Ferlinz, Mainz (federführend);
M. A. Bleiker, Den Haag;
G. Neumann, Stuttgart (zeitweilig);
K Simon, Aprath-Wuppertal;
H. Spiess, München
Korrespondenzanschrift:
Prof. Dr. med. Rudolf Ferlinz Generalsekretär des Deutschen Zentralkomitees zur
Bekämpfung der Tuberkulose Abteilung für Pneumologie Universitäts-Kliniken Langenbeckstraße 1 6500 Mainz
Neue Strahlenschutz- verordnung
Inzwischen ist eine neue Ver- ordnung für den Strahlenschutz beim Betrieb von Röntgeneinrich- tungen nach der Röntgenverord- nung vom 8. Januar 1987 erschie- nen, die einige praktisch wichtige Aspekte enthält. Das Deutsche Ärzteblatt hat zu Beginn des Jahres bereits auf diese Verordnung hinge- wiesen und wird die für die Praxis relevanten Aspekte im wissenschaft- lichen Teil aus der Feder von Prof.
Stender in absehbarer Zeit noch ver- öffentlichen. Die ausführlichen Be- stimmungen sind gegebenenfalls bei den zuständigen Ministerien anzu- fordern. Rudolf Gross A-32 (38) Dt. Ärztebl. 85, Heft 1/2, 11. Januar 1988