Mit nacktem Modell und seinen Bildern ließ sich Toulouse-Lautrec 1894 fotografieren
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Kein Strich von seiner Hand ist bedeutungslos
Die Kunsthalle Tübingen zeigt
Gemälde und Bildstudien von Henri Toulouse-Lautrec
DEUTSCHES ARZTEBLATT
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utobusse aus allen Ecken Deutschlands suchen sich die Umleitung um die Stadt Tübingen herum zur Kunsthalle. Eine ge- duldig wartende Schlange schiebt sich in Richtung Kasse. Berge von Katalogen werden über den Kassen- tisch geschoben. Eine Armada von Kunstgeschichte-Studenten wartet auf die vielen Gruppen wißbegieri- ger Kunst-Touristen. — Dies alles sind die Anzeichen für eine Publi- kumsausstellung, für einen „Ren- ner". Und zu einem Renner wird ei- ne Ausstellung kaum mit zeitgenös- sischer Kunst. Nein: da muß ein gro- ßer Name her. Und das ist Götz Adriani, dem Leiter der Tübinger Kunsthalle, jetzt mit Toulouse- Lautrec nicht zum ersten Mal gelun- gen. Mit Degas und Picasso kann er auf große Erfolge zurückblicken:Ausstellungen mit 200 000 Besu- chern.
Im Falle Henri Toulouse-Lautrec kommt zu einem quantitativen Erfolg (er ist abzusehen und wird auch er- wartet) das Verdienst, das Werk eines Künstlers zu präsentieren, der seit fünfundzwanzig Jahren in der Bun- desrepublik nicht mehr gezeigt wurde und in dieser Vollständigkeit wohl für eine lange Zeit nicht mehr zu sehen sein wird: Das Toulouse-Lautrec- Museum in Albi ist zu weiteren Aus- leihen nicht bereit.
Krasse Nacktheit, tiefe Wahrhaftigkeit
Die Ausstellung zeigt Zeichnun- gen, vor allem aber Gemälde und Bildstudien. Das druckgraphische Werk bleibt ausgespart bis auf weni- ge Entwürfe. Und das ist gut so.
Zwar ist genau das nicht zu sehen, was den Maler einem breiten Publi- kum bekannt gemacht hat, nämlich jene Plakate aus der Welt des Caba- rets, des Caf6 Concert, des Thea- ters, des Zirkus. Das schmerzt je- doch wenig, hängen sie doch hun- derttausendfach allerorts.
Eben das, was seine malerische Meisterschaft ausmacht, seine Por- träts und Gemälde aus Freudenhäu- sern und Vergnügungsstätten sind in
der Tübinger Schau eindrucksvoll repräsentiert: Lautrec, der große Menschendarsteller, so Direktor Götz Adriani. Aber welche Men- schen malte Toulouse-Lautrec? Er, der Abkömmling uralten südfranzö- sischen Adels, in seiner Jugend schwer erkrankt und dadurch in sei- nem Wachstum behindert — er wur- de nur 152 cm groß —, suchte, als Ausgestoßener, wie er sich durch seine körperliche Deformation emp- fand, die Gesellschaft des grellen, sinnlichen Vergnügens am Mont- martre .
Der hochintelligente junge Mann beobachtete diese Welt mit ei- nem gleichzeitig unbarmherzigen und sympathisierenden Blick. Er hielt sie fest auf einem kleinen Skiz- zenblock, die Sängerinnen, Tänze- rinnen, die Dirnen und jene Herren der Bourgoisie, die mit stierem Blick
und sabbernden Lefzen „le viande dup&h6" begaffen.
Auch heute noch gilt das Haupt- interesse der dekorativen Druckgra- phik, die — mit leichter Hand skiz- ziert — durch „Weglassen" eine sehr direkte Wirkung erzielt.
Die Bilder Lautrecs dagegen sind zu stark, um als Dekorations- stücke glänzen zu können. Sie sind von krasser Nacktheit, von großer Intensität, von tiefer Wahrhaftig- keit. Und so haben die Szenen aus dem Bordell nichts Schlüpfriges, nichts Voyeuristisches, nichts Vulgä- res. „Der Salon in der Rue des Moulins" von 1894: Mit den großen roten Plüschflächen und dem im Hintergrund spärlich angedeuteten Dekor zeigt er ein Nobelpuff, das sich damals auch die Ehefrauen der dort verkehrenden Männer anschau- ten; es war Stadtgespräch. Ganz un- A-362 (82) Dt. Ärztebl. 84, Heft 7, 11. Februar 1987
Parallel zur Tübin- ger Ausstellung und mit einem Ka- talog des Direktors der Tübinger Kunsthalle Götz Adriani ausgestat- tet, wird bis zum 8.
März das gesamte graphische Werk Lautrecs, in nur knapp zehn Jahren geschaffen, in der Berliner National- galerie gezeigt. Es handelt sich um die berühmte Sammlung des Berliners Otto Ger- stenberg (1848 bis 1935), der sich ab 1900 vor allem auf das graphische Werk des französi- schen Künstlers konzentrierte.
Nicht nur Quanti- tät, vor allem Qua- lität hat diese Sammlung zu bie- ten, in der sich Vorzugs-, Probe- und Zustandsdruk- ke sowie Wid- mungsexemplare befinden. Links:
„Der Jockey", Farblitho von 1899
Foto: Nationalgalerie Berlin
Harte Wirklichkeit 1898 im Cafe gemalt: „Der Kunde und die bleichsüchtige Kassiererin'
sensationell darin verteilt, vereinzelt und in Gruppen, jene „Executorin- nen der Liebe", die entspannt, aber dennoch im Dienst, auf Kundschaft warten. So das Bild des Milieus.
Das Satirische in Lautrecs Male- rei zeigt sich besonders schön in
„Monsieur und Madame mit Hund"
von 1893: Zucht und Ordnung re- präsentieren das Pächterehepaar ei- nes Pariser Bordells; plump thronen sie auf rotem Plüsch. Die Zuneigung von Madame hat sich längst auf den kleinen Pinscher verlagert. Das Le- ben ist vorbei — aber Selbstbewußt- sein und Würde überdauern.
Alexandre: Was bleibt von Lautrec? Alles!
Maurice Joyant, Lautrecs eng- ster Freund, hat sich für dessen Werk eingesetzt. Ihm ist es zu dan- ken, daß zweihundert Hauptwerke 1902, ein Jahr nach Lautrecs Tod, in einer großen Ausstellung gezeigt wurden. Der Kritiker Arsne Ale- xandre schrieb in einem Katalogarti- kel zu dieser Ausstellung: „Lautrec war weder der vom rechten Wege Abgeirrte, den die einen zu bekla- gen vorgeben, noch der Verwahrlo- ste, den die anderen mit Freuden seiner Verdienste und Anlagen ent- kleiden. Nein, er war vor allem ein charmanter Mensch voll Esprit und von ausgeprägter Sensibilität, ein Mann, der dem Leben gegenüber wahrhaftig war .. Was bleibt von Lautrec? Alles! Kein Strich ist be- deutungslos und unnütz. Der gering- ste Farbfleck, die kleinste Linie sei- nes Stiftes drücken viel Animalität hindurch viel Humanität aus."
Dies ist in der Tübinger Kunst- halle zu sehen. Nicht mehr und nichts weniger, und dies noch bis zum 15. März 1987. Der ausführ- liche Katalog mit den Abbildungen aller gezeigten Werke kostet 39 DM, die in Leinen gebundene Fassung kostet im Buchhandel (Dumont- Verlag, Köln) 89 DM.
Anschrift des Verfassers:
Klaus Schmitz Balzenbergstraße 65a 7570 Baden-Baden
Dt. Ärztebl. 84, Heft 7, 11. Februar 1987 (85) A-363