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Daneben bestand freilich sowohl die Möglichkeit, daß Außenstehende eine Grabstelle auf dem Begräbnisplatze erwarben, als auch die Zuweisung von »Nobilitäten der Armee

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Laurenz Demps, Der Invalidenfriedhof. Denkmal preußisch-deutscher Ge- schichte in Berlin, Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus 1996, 112 S., DM 58,— [ISBN 3-89488-093-7]

Nun hängen die Schreie mir an ... Halbe. Ein Friedhof und seine Toten. Hrsg.

von Herbert Pietsch, Rainer Potratz und Meinhard Stark, Berlin: Edition Hentrich 1995, 207 S., DM 29,80 [ISBN 3-89468-203-5]

Im Jahre 1998 kann das Berliner Invalidenhaus samt inkorporiertem Kirchhof auf eine 250jährige Vergangenheit zurückblicken, deren Betrachtung angesichts der noch vorhandenen wie auch der nicht mehr existenten Grabmäler paradigmatisch die Verwerfungen deutscher Geschichte sichtbar werden läßt. Von Friedrich dem Großen gegründet zur Versorgung invalider, auch weiterhin militärisch geglie- derter Veteranen und gewidmet >militi invicto fatigato quietem<, wie es auf dem Re- vers einer zu diesem Anlasse geschlagenen Denkmünze zum Ausdruck kam, war zur letzten Ruhe der >lahmen Kriegsleut< von Anfang an ein Areal nördlich des Invalidenhauses bestimmt worden. Neben der Militärkirchengemeinde — außer den Veteranen auch deren Frauen und Kinder — bildete sich zu Beginn des 19. Jahr- hunderts im Gefolge des Zuwachses an Zivilpersonal und der Bebauung der Ora- nienburger Vorstadt eine Zivilgemeinde aus, die jedoch bis zum Jahre 1892 unter dem Dache der Militärgemeinde verblieb und ihre Verewigten gleichfalls auf dem Invalidenfriedhofe zur letzten Ruhe bettete. Daneben bestand freilich sowohl die Möglichkeit, daß Außenstehende eine Grabstelle auf dem Begräbnisplatze erwarben, als auch die Zuweisung von »Nobilitäten der Armee [...] auf höheren Befehl«, wie es das Beispiel des wohl berühmtesten Toten des Friedhofes, des Generals v. Scharn- horst, zeigt, dessen Grabmonument, »an dessen Herstellung unsere besten künst- lerischen Kräfte mitgewirkt haben« (Fontane), wie auch die Wertschätzung, die dem zur Ikone Gewordenen in beiden deutschen Nachkriegsarmeen zuteil wurde, nicht unwesentlich zur Verhinderung der endgültigen Abräumung des Invali- denfriedhofes beigetragen hat. Gerade letztere Möglichkeit brachte es mit sich, daß der Invalidenfriedhof mehr und mehr ein Versammlungsort der Spitzen des preußi- schen Heeres im Tode wurde, eine steingewordene Rangliste der Armee. Das Feh- len eines Nationalfriedhofes — wie z.B. Arlington Cemetery in Washington — machte sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkriege besonders empfindlich bemerkbar, als es galt, der >Sinngebung des Sinnlosen< in Gestalt eines Ehrenmals für die Gefallenen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Bei der Auswahl eines ge- eigneten Ortes war auch der Invalidenfriedhof in die engere Auswahl gezogen worden; mehr und mehr wurde er zum Synonym für die ungebrochene >Gloire< der Armee auch in der Niederlage. Die Untertitel der in den zwanziger und dreißiger Jahren erschienenen Veröffentlichungen zu diesem Friedhof wie »Stätte preußisch- deutschen Ruhmes« (Treuwerth 1925) oder »Ehrenhain preußisch-deutscher Ge- schichte« (Hintze 1936) unterstrichen diese Tendenz.

Den vorherrschenden und durch die bisher erschienenen Monographien be- stärkten Eindruck einer massiven Präsenz des Militärs zugunsten des bürgerlichen Anteils zu relativieren, hat sich nun der Autor des repräsentativen Großbandes

»Der Invalidenfriedhof« über weite Strecken seines Streifzuges durch die organi- satorischen Bedingungen und Entwicklungen des Invalidenfriedhofes bis zur Er- müdung des Lesers angelegen sein lassen. Statt die Genese dieses Friedhofes in

Militärgeschichtliche Mitteilungen 57 (1998), S. 217-263 © MiKtärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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all' seinen Fagetten einer detaillierten Darstellung zu unterziehen, strickt Demps Sei- te für Seite an einer neuen Legende, die den weitgehend von einer die Menschen- rechte mit Füßen tretenden Parteidiktatur devastierten Ort der Abgeschiedenen gleichsam endgültig entmilitarisieren möchte. Die Absicht des dahinter stehenden Fördervereins mag zwar verständlich sein angesichts .dringend notwendiger Sa- nierungen und Restaurierungen vor dem Hintergrund leerer Kassen und zögern- der Geldgeber, verfälscht jedoch erneut das Bild dieser einzigartigen Grablege. Wie sehr eine einseitige, ideologisierte Betrachtungsweise dem Friedhof gerade in der Zeit des SED-Regimes geschadet hat, ist Gegenstand eines eigenen Kapitels und hät- te den Autor vor solchen konstruierten Weiterungen warnen müssen. Diese Grund- tendenz des Buches und ärgerliche Fehlleistungen wie die Behauptung, die sterb- lichen Überreste von mehr als einhundert Generalen aus der Gruft der Berliner Garnisonkirche seien bei deren Abriß auf den Bornstedter Friedhof bei Potsdam überführt worden (S. 78), auf welchem auch die bedeutenden Architekten Stüler und Strack beigesetzt seien, »so daß dieser Ort viel eher als ein >Ehrenhain< Preußens in der Art eines Campo Santos [!] anzusehen ist« (S. 50) —beide Baumeister ruhen in Wirklichkeit auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, dem bürgerlichen Promi- nentenfriedhof und gleichsam Pendant zum eher militärisch geprägten Invali- denfriedhof —, und die Vernachlässigung biographischer, ikonographischer und bibliographischer Bezüge und Hinweise werden gemildert durch eine großfor- matige Bebilderung, die eine untergegangene, aus niederen Beweggründen vor- sätzlich zerstörte Sepulkralkultur noch einmal in Erinnerung ruft. Eine alle Aspek- te dieses Ortes auslotende Monographie bleibt weiterhin ein Desiderat.

Der Fall der Grenzen nach der Vereinigung unseres Vaterlandes hat auch einen Friedhof aus dem Windschatten der Geschichte befreit, der in ganz besonderem Maße von den Schrecken des Krieges und der Instrumentalisierung des Menschen in unfreien Systemen zu künden weiß. Der Waldfriedhof in Halbe südostwärts von Berlin, einer der größten Soldatenfriedhöfe in Deutschland, ruft die Erinnerung wach an das den Endkampf um Berlin begleitende furchtbare Kriegsgeschehen in der Mark Brandenburg. Ausgehend von der Schlacht um die Seelower Höhen am 26. April 1945 vollzog sich die Einkesselung der 9. Armee um Halbe und Märkisch Buchholz in den letzten Apriltagen, die unter Aufbietung letzter Kräfte und unter erheblichen Verlusten (ca. 40 000 bis 60 000 gefallene Soldaten) diesen Kessel in südwestlicher Richtung durchbrechen konnte, um Anschluß an die 12. Armee zu finden. Neben 17 000 Gefallenen und zahllosen Ziviltoten — wegen Seuchenge- fahr in den warmen Maitagen des Jahres 1945 eiligst ohne besondere Kennzeich- nung an Ort und Stelle verscharrt — fanden nach Einweihung des Soldatenfried- hofes auch 4500 Nachkriegstote aus dem sowjetischen Konzentrationslager Ket- schendorf unter dem bewußt verschleiernd gewählten Grabsignet »April 1945« ih- re letzte Ruhestätte. Die Gefallenen der Sowjetarmee wurden, wo dies möglich war, von den deutschen Kriegstoten separiert, um nicht, wie dies die Sowjetische Militäradministration 1946 bestimmte, »in einer Reihe mit den Deutschen begra- ben« zu werden, und in eigens errichteten Friedhöfen beigesetzt.

Während der SED-Herrschaft fristete der in der ersten Hälfte der fünfziger Jah- re nach Plänen des Potsdam-Bornimer Architekten- und Gartenbaugespannes Wal- ter Funcke und Karl Foerster angelegte Friedhof ein Dasein im Verborgenen; west- deutschen Angehörigen war die Totenehrung jahrzehntelang verwehrt oder zu- mindest erheblich erschwert. Als »Motor und Katalysator« einer würdigen Bet- tung aller Kriegsopfer in den Auseinandersetzungen mit den seinerzeitigen

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Machthabem erwies sich der spätere Halber Ortspfarrer Ernst Teichmann, der bis zu seinem Tode im Jahre 1983 ein unermüdlicher Kämpfer für das Recht auf eine abendländischen Gepflogenheiten entsprechende Totenruhe war, wie sie seit den deutschen Einigungskriegen zwischenstaatlich verbindlich festgelegt und geach- tet wurde. Die zahllosen Friktionen — erinnert sei nur an die nicht gewährte Bitte um Errichtung eines schlichten Holzkreuzes als Mahnung und Symbol der Erlösung

— fanden erst nach dem Zusammenbruch der zweiten deutschen Diktatur ein zu spätes Ende. Es ist das Verdienst dieses Bandes, der sein Erscheinen einer Aus- stellung der Ostberliner Geschichtswerkstatt e.V. am Friedhof Halbe im Jahre 1995 verdankt, als neuerlich die Totenruhe für politische Zwecke instrumentalisiert wer- den sollte, nicht nur die Probleme im staatlich-kirchlichen Bereich anhand der Ak- tenlage verdeutlicht, sondern auch den Versuch gewagt zu haben, die Anony- mität des Todes — nur etwa 8000 Tote konnten einwandfrei identifiziert werden — wenn nicht vollständig, wie dies die Herausgeber verheißen, so doch zumindest teil- weise aufzuheben, vor Pauschalierungen zu warnen und zu Differenzierungen zu ermuntern, auch wenn die einzelnen Beiträge, die sich von einer Darstellung des militärischen Verlaufes über das Kriegsende in Halbe, die Anlage und Belegung des Waldfriedhofes — darunter auch Flüchtlinge, ukrainische Zwangsarbeiter und Verurteilte der Wehrmachtgerichte — bis zu den Eintragungen im Besucherbuch des Friedhofes spannen, diesen Anspruch nicht immer durchzuhalten vermögen.

Die brieflichen Hinterlassenschaften von Soldaten wie Zivilpersonen und Ein- wohnern der im Kampfgeschehen gelegenen Ortschaften lassen tiefere und un- mittelbarere Einblicke in die Gemütslage der Beteiligten und Betroffenen aus der Schlußphase dieses apokalyptischen Geschehens zu, als es noch so wissenschaft- liche Untersuchungen leisten können. Der Waldfriedhof in Halbe steht so zwischen den Spannungspolen Erinnerung und Mahnung, wie es auch Eintragungen im Be- sucherbuche bestätigen: »Die moralische Größe eines Volkes wird dadurch be- stimmt, wie es seine Gefallenen ehrt!« und »>Versöhnung über den Gräbern< soll- te uns als Mahnung auch auf diesem Friedhof begleiten.«

Karlheinz Deisenroth

Wladimir Ostrogorski, Der tschetschenische Knoten. Der russische Bär in der kaukasischen Falle, Hamburg, Berlin, Bonn: Mittler 1995,119 S., DM 24,80 [ISBN 3-8132-0486-3]

Juan Goytisolo, Landschaften eines Krieges: Tschetschenien. Aus dem Spa- nischen von Thomas Brovot, Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp 1996,110 S.

(= ES 1768. Edition Suhrkamp. Neue Folge, 768), DM 14,80 [ISBN 3-518- 11768-8]

Krisenherd Kaukasus. Hrsg. von Uwe Halbach und Andreas Kappeler, Ba- den-Baden: Nomos 1995,303 S. (= Nationen und Nationalitäten in Osteuropa, 2), DM 72,— [ISBN 3-7890-3685-4]

Mit dem Friedensvertrag vom 12. Mai 1997 endete der 1994 ausgebrochene rus- sisch-tschetschenische Krieg. Die vielfältigen Spannungen in der ethnisch am mei- sten zersplitterten Region der Erde, die in der westlichen Literatur, Presse und

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Öffentlichkeit jahrzehntelang unbeachtet blieben, fanden seit dem Zerfall des so- wjetischen Imperiums zunehmend Aufmerksamkeit. Drei Bücher liegen nun zum Gegenstand vor, die alle, wenngleich auf ganz unterschiedlichem Niveau, die hi- storischen Wurzeln der kaukasischen Malaise miteinbeziehen.

Wladimir Ostrogorski gliedert seine Darstellung in vier Abschnitte, in denen er zunächst auf die Ursprünge der russischen Schwierigkeiten mit dem Kaukasus in der Zarenzeit eingeht, dann die Phase der sowjetischen Herrschaft und die Lage nach 1991 beschreibt, um schließlich auf den Krieg zu sprechen zu kommen. Je- dem dieser Kapitel ist ein reportagehafter Exkurs »Am Rande des Geschehens«

zugeordnet.

Historische Analyse liefert Ostrogorski nur ansatzweise. Der islamische Wi- derstand des späten 18. und des 19. Jahrhunderts wird nicht näher erklärt, son- dern nur kurz an den beiden charismatischen Führern Mansur und Schamil (letz- terer das literarische Vorbild Tolstois für seinen »Hadschi Murad«) festgemacht.

Das Buch, das seinen Schwerpunkt auf die Zeit nach 1991 legt, ist eine politische Abrechnung mit Moskau: zunächst mit Stalin, ein wenig auch mit Gorbatschow, vor allem aber mit Boris Jelzin. Der Autor liefert eine dramatische Schilderung der Kriegsfolgen für die russische Gesellschaft. Jelzin steht hier in unveränderter Tradition russischer und sowjetischer Autokraten, denn bei ihm wie bei seinen Vor- gängern wurden die wichtigsten Entscheidungen schon immer »nach Gutdünken des Entscheid Vings trägers« getroffen (S. 79). Den Entschluß zum Krieg im Souverä- nität suchenden Tschetschenien interpretiert Ostrogorski als gewollten Ausbruch aus der »unerträglich tristen Normalität« der Entwicklung Rußlands, der von den Alltagssorgen ablenken sollte. In diesem Krieg jedoch verfiel die russische Armee materiell und moralisch. Schlimmer noch, die junge russische Demokratie und die Wirtschaft des Landes wurden ebenfalls geschwächt, die Gesellschaft erfuhr die Auswirkungen einer zunehmenden Kriminalisierung. Spekulativ fragt Ostrogor- ski, ob die Armee absichtlich Niederlagen erlitten habe, um höhere Zuwendungen aus dem Staatshaushalt zu erhalten.

Manch eine Beobachtung des Autors ist treffend. Seine Ambition ist allerdings nicht die tiefergreifende Auslotung der Kaukasus-Krise. Dem Problem einer oh- ne Zweifel für Moskau sehr schwierigen Politik in einer bereits intern vielfach zer- strittenen Region tritt er mit nicht unbedingt falschen, aber doch vereinfachen- den, oberflächlichen Aussagen entgegen. Fraglich bleibt beispielsweise, ob der Tschetschenien-Krieg für alle Mißstände in Rußland verantwortlich zu machen ist. Für eine erste Einführung mag das Buch dienlich sein — wissenschaftlichen Ansprüchen genügt es nicht. Gelegentlich originell-pointiert, ist die Diktion des Verfassers zwischen abgehackten Hauptsätzen und schnoddrigem Plauderstil ins- gesamt gewöhnungsbedürftig. Anmerkungsapparat und Literaturverzeichnis feh- len.

Während es Ostrogorski gar nicht um den Kaukasus oder Tschetschenien, son- dern nur um Rußland geht, blickt Juan Goytisolo in seiner feuilletonistischen Re- portage auf beide Seiten der Front. Dabei argumentiert er in der Sache engagiert.

Seine Parteinahme für die tschetschenischen Rebellen, nicht aber für ihre Führer und inbesondere nicht für den getöteten Dschochar Dudajew, ist unverkennbar. Wie Ostrogorski sieht auch Goytisolo den Krieg als Symptom für den Zerfall des rus- sischen Staats- und Gesellschaftssystems: Dort etablieren sich »falsche Unterneh- mer der Chicagoer Schule«, zugleich zeichnen sich am anderen Ende der gesell- schaftlichen Skala »Elendsbilder Dickenschen Ausmaßes« ab (S. 18). Jelzin wie-

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derholt auch für ihn die Irrtümer und Verbrechen der Vergangenheit. Grosny er- lebte einen mit Leningrad oder Dresden zu vergleichenden »Urbizid«, während

»Zar Boris«, der »sein gedunsenes Antlitz eines Radaubruders flüchtig mit der Maske täubchenbraver Unschuld« verhüllte (S. 41), die G-7-Staaten auf dem Mos- kauer Gipfel empfing und täuschte. Der Westen aber opferte mit seiner Unter- stützung Jelzins nur zu bereitwillig demokratische Grundsätze, um so nach dem militärischen gleichfalls den ökonomischen Gegner Rußland verschwinden zu las- sen. Diese Aussage mag überspitzt erscheinen, die Bilanz jedoch stimmt: »Die Tschetschenen sind allein, und sie wissen es. Kein internationaler Gerichtshof wird den Völkermord an ihnen verhandeln« (S. 110). Vor dem historischen Hintergrund des zweihundert Jahre alten, in der Dichtung Tolstois und Lermontows gespie- gelten Konflikts in dem Land zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer wird die russische Politik, »das Opfer verdächtig zu machen«, von Goytisolo (und sei- nem Übersetzer aus dem Spanischen) in stilistisch ansprechender, gleichwohl dra- stischer Sprache dargestellt.

Nicht nur Tschetschenien, sondern dem »Krisenherd Kaukasus« im ganzen ist der erste wissenschaftliche Sammelband zum Thema in deutscher Sprache ge- widmet, den der Kölner Osteuropahistoriker Andreas Kappeler und Uwe Halbach vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien heraus- gegeben haben. Das Buch berücksichtigt in seinen fünfzehn Aufsätzen deutscher, amerikanischer, französischer und (trans-)kaukasischer Historiker, Politologen, So- ziologen, Ethnologen, Orientalisten und Islamwissenschaftler auch Georgien, Ar- menien und Aserbaidschan, operiert also mit einem weitgefaßten Kaukasus-Be- griff. Die fruchtbaren interdisziplinären Erträge können hier nicht im einzelnen vorgestellt werden. Deshalb sei nur auf einige Grundmuster hingewiesen:

Die Beiträge des Sammelbandes unterscheiden sich aufgrund der Herkunft der Autoren erheblich in den teilweise kaum annäherbaren Ansichten und Argu- menten. Geschichte wird von einigen Verfassern im staatslegitimierenden In- teresse funktionalisiert. Wo etwa die aserbaidschanische Wissenschaftlerin Fa- rida Mamedowa in der armenischen Geschichte die eines Volkes, aber nicht eines Landes erkennt (S. 114), hat aus Sicht des armenischen Politologen Suren Soljan Aserbaidschan bis 1918 »nie zuvor eine Form von Staatlichkeit besessen«

(S. 131 f.). Die jeweils überzeugt vorgetragenen Standpunkte zeigen den enor- men Bedarf an einer ethnisch ungebundenen und politisch unabhängigen Be- schäftigung mit dem Kaukasus.

- Oliver Reisners Aussage zur vormodernen georgischen Agrargesellschaft gilt ganz generell für den Kaukasus: In den ethnisch extrem segmentierten, quasi- autarken Kleinst-Gesellschaften fehlten weitgehend zentralistische Reiche (S. 63);

solche Staatsgründungen blieben die zeitlich und räumlich begrenzte Ausnah- me.

- Auf dem territorialen Schachbrettmuster des Kaukasus erhielten territoriale und ethnische Gegebenheiten einen primären Rang als politischer Faktor: Die einzelnen Volksgruppen kämpften und kämpfen darum, auf Kosten des Nach- barns Geographie und Demographie in Einklang zu bringen (Tadeusz Swieto- chowski, S. 165). Das Territorium erhält dabei »die Funktion des absoluten Inte- grationsrahmens« (Eva-Maria Auch, S. 95).

- Verband sich für die Georgier und Armenier die russische Fremd- mit den Zü- gen einer Schutzherrschaft, erfuhren die nordkaukasischen Völker die russi- sche Vereinnahmung ihrer Lebensräume allein als koloniale Gewalt, auf die sie

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seit Ende des 18. Jahrhunderts mit Widerstand reagierten. Dieser Widerstand gestaltete sich in Verbindung von ethnischer Selbstverteidigung und religiöser Fundierung und Verklärung (Uwe Halbach, S. 198, 205).

- Die sowjetische Nationalitätenpolitik verbarg hinter dem »operettenhaften De- kor« von »souveränen« Unionsrepubliken und Autonomen Republiken, Ge- bieten und Kreisen die völlige Unterdrückung der einzelnen Ethnie nach dem Prinzip »Teile und Herrsche«. In den stalinistischen Zwangsumsiedlungen wur- de zudem die uralte Kultur der betroffenen Völker zerstört. Die beliebige Zer- stückelung von Territorien wirkte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion wie eine ethnische Mine mit Verzögerungszünder aus (Swetlana Tscherwonnaja, S. 246, 251; Nikolaj F. Bugaj, S. 234).

- Die im letzten Jahrzehnt vielfach militärisch ausgetragenen Konflikte im (Trans-) Kaukasus sind somit Ausdruck eines verspäteten Nationswerdungsprozesses.

Die Suche nach eigener Identität im Kontext von Territorium, Ethnie und Na- tion hat hier — im Gegensatz zu den großen Nachbarn Iran, Türkei und Ruß- land — gerade erst begonnen (Raoul Motika, S. 274).

- Die Langzeitprognose für den Kaukasus ist pessimistisch. Die etwa im ossetisch- inguschischen Konflikt »fast pathologische Unfähigkeit zu Kompromissen« ver- hindert verbindliche Rechtsabkommen (Swetlana Tscherwonnaja, S. 260). Jene in- folge der sowjetischen Politik entstandene »Zwangsvorstellung vom Territori- um als wichtigstem Brennpunkt nationaler Selbstbestimmung« scheint un- überwindbar, weil das Territorium »das einzig verbliebene greifbare Symbol« ist (Elizabeth Fuller, S. 191,193). Der Kaukasus ist tatsächlich ein derart hochkom- pliziertes ethnisch-religiöses Mosaik, daß lebensfähige territorial-administrati- ve Einheiten für jede einzelne Volks- und Sprachgruppe kaum zu bilden sind.

Mit diesem Sammelband mit seinen überwiegend sehr konzentrierten Aufsätzen wird in beeindruckender Weise die Vielschichtigkeit des dargestellten Problems sichtbar, für das es keine einfachen Lösungen gibt. Der Lesbarkeit des Buches hät- te es unbedingt gutgetan, den jeweiligen Einzelbeiträgen noch regionale Karten und im Anhang ein Glossar hinzuzufügen; denn wer sich nicht näher mit dem Ge- genstand beschäftigt hat, wird weder die Geographie des Gebietes vor Augen ha- ben noch um die im Text nicht näher erläuterten Bedeutungen von«Mechitaristen- Schulen«, von »Babismus« und »Dschadidismus« wissen. Dem ansonsten vor- züglichen Werk, das hervorragend in Geschichte und Gegenwart des Kaukasus einführt, wäre hier das gestalterische I-Tüpfelchen zu wünschen gewesen.

Armin Wagner

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In Quest of Trade and Security. The Baltic in Power Politics 1500-1990. Vol. 1:

1500-1890 and Vol. 2:1890-1990. Ed. by Göran Rystad, Klaus-R. Böhme and Wilhelm M. Carlgren, Stockholm: Lund University Press 1994-1995, Vol. 1:

334, Vol. 2: 311 S. [ISBN 91-7966-286-2/91-7966-287-0]

Im Jahr 1989 gab der Schwedische Rat für Militärgeschichtsforschung den Auftrag zu einer Studie, die unter dem Thema >Die Ostsee, ihre Anrainerstaaten und die westlichen Seemächte zwischen 1500 und 1990< es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Entwicklung im Ostseeraum seit dem Beginn der Neuzeit in ihrer Gesamtheit darzustellen. Die Ergebnisse dieses For- schungsvorhabens, das von namhaften Historikern aus den Niederlanden, Groß- britannien, Schweden und Dänemark getragen wurde, liegt nun in zwei Bänden vor.

Obwohl das Projekt in seiner zeitlichen wie geographischen Dimension breit angelegt ist, sind es doch im wesentlichen drei ineinandergreifende Themenberei- che, um welche die insgesamt 14 Einzelstudien kreisen und welche die Klammer darstellen, unter der die Entwicklung im Ostseeraum während der vergangenen fünf Jahrhunderte nach Ansicht der Herausgeber subsumiert werden kann. So beschäftigt sich ein Aspekt dieses Forschungsvorhabens mit den Veränderungen des Wirt- schafts- und Handelsraums Ostsee und berücksichtigt dabei vor allem die zentra- le Rolle, welche die westlichen Seemächte im Interesse ihrer wirtschaftlichen Ex- pansion einem freien Handel mit den Ostseeanrainern zumaßen. Ein weiteres wich- tiges Thema dieser Untersuchung behandelt, ausgehend von der hervorgehobe- nen geographischen Lage an den Ostseezugängen, die Entwicklungen und die Veränderungen, die sich aus der Rolle Dänemarks als Wächter der Ostseezugän- ge in militär- und sicherheitspolitischer Hinsicht ergaben. Schließlich waren es die Politik Schwedens und deren Spektrum zwischen Hegemonialanspruch und einer auf bewaffneter Neutralität basierender Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die im Blickpunkt des Forschungsinteresses standen.. Deutlich wird, daß dabei der neuesten Geschichte und Zeitgeschichte mit dem gesamten zweiten Band ein brei- ter Raum eingeräumt wird. Besonderen Reiz erfährt diese Studie auch dadurch, daß sie nach den umwälzenden Ereignissen der Jahre 1989/90 entstanden ist und mit dem Ende des Kalten Krieges zugleich einen überzeugenden Abschluß des Untersuchungszeitraumes erhält.

Mit dem wirtschaftlichen und politischen Niedergang der Hanse und des Deut- schen Ordens zum Beginn des 16. Jahrhunderts hatten die beiden wichtigsten Ord- nungsfaktoren im Ostseeraum ihre Funktion verloren. Das Auseinanderbrechen der Kalmarer Union der skandinavischen Königreiche und die anschließende Aus- einandersetzung zwischen Dänemark-Norwegen und dem nach Eigenstaatlich- keit strebenden Schweden um die hegemoniale Oberherrschaft im Ostseeraum war eine wesentliche Folge der veränderten machtpolitischen Lage zu Beginn des Un- tersuchungszeitraums. Dabei kreuzten sich die Interessen der skandinavischen Ostseekönigreiche mit den wirtschaftlichen Interessen der aufstrebenden westli- chen Seemächte Holland und England. So war es zunächst den niederländischen Provinzen, allen voran Amsterdam, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gelungen, die Vorherrschaft Lübecks und der Hanse zu brechen und deren Rolle als wirt- schafte- und machtpolitischer Ordnungsfaktor im Ostseeraum einzunehmen, wie es Anja Tjaden in ihrem Beitrag detailliert nachzeichnet. Deutlich wird dabei, wie die auf freien Handelsverkehr ausgerichtete Politik der Niederländer gegen Ende des 16. Jahrhunderts zunehmend mit dem Anspruch Dänemarks auf die Ober-

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herrschaft im Ostseeraum in Konflikt geriet. Aufgrund einer zielgerichteten Bünd- nispolitik und gestützt auf ihre dominierende Flotte, gelang es den Generalstaaten bis Ende des 17. Jahrhunderts, die wirtschaftliche Dominanz im Ostseeraum zu behalten und die Rivalität der skandinavischen Königreiche um die Macht in der Ostsee für die eigenen Interessen einzusetzen. Die zweihundertjährige Auseinan- dersetzung zwischen den Königreichen Dänemark-Norwegen und Schweden um die Oberherrschaft im Ostseeraum bis zum Ende des Nordischen Krieges 1721 be- schreibt Knud J.V. Jespersen. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht dabei, wie die anfangs lokal orientierte und motivierte Auseinandersetzung sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem internationalen Konflikt entwickelte, an dessen Ende beide skandinavischen Königreiche als die eigentlichen Verlierer dieser Entwick- lung standen. So blieb auch der bemerkenswerte Aufstieg und die kurze Periode Schwedens als europäische Großmacht zwischen 1560 und 1660 nur eine Episode.

Klaus-Richard Böhme weist überzeugend nach, daß dieser Aufstieg Schwedens zur Großmacht vor allem aus der Schwäche der Gegner sowie aus einer Politik Gustav II. Adolfs resultierte, welche Schweden zu einem der modernsten Staaten Europas entwickelte und die begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen des Landes dabei ganz in den Dienst militärischer Expansion im Ostseeraum stellte. Erfolge, die nur von kurzer Dauer waren und mit der Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg 1721 an der Überspannung des begrenzten Potentials des Landes zerbrachen.

Das Ende des Nordischen Krieges bedeutete eine wichtige Zäsur im strategi- schen Gefüge des Ostseeraums. Der Aufstieg Englands zur führenden Seemacht mit essentiellen wirtschaftlichen Interessen im Ostseeraum sowie die mit dem Auf- stieg Rußlands zur regionalen Großmacht verbundenen machtpolitischen Folgen werden in den Beiträgen von Stewart P. Oakley und Ole Feldbaek untersucht. Ana- log zur Politik der Niederlande wurde die britische Politik hauptsächlich durch wirtschaftliche und strategische Interessen bestimmt, die darin kulminierten, die Handelsverbindungen im Ostseeraum und damit den Bezug der für die englischen Marine wichtigen Rohstoffe Holz, Flachs und Metall zu sichern. Vor diesem Hin- tergrund war die Aufrechterhaltung und Kontrolle eines politischen Gleichge- wichts der rivalisierenden Ostseeanrainer oberste Maxime britischer Politik in die- ser Region. Mit der Verlagerung des Handels von Polen und den zunächst unter schwedischer Kontrolle stehenden Ostseegebieten auf Rußland trug England nach dem Nordischen Krieg auch den veränderten strategischen Positionen Rechnung, ohne diese jedoch grundsätzlich beeinflussen zu können. Für Dänemark und Schwe- den bedeutete der Aufstieg Rußlands zur regionalen Großmacht eine zusätzliche Gefährdung ihrer staatlichen Souveränität. Dies betraf sowohl die Sicherheit der dä- nischen Südgrenze als auch die Sorge Schwedens vor einem territorialen Verlust Finnlands. Die Napoleonischen Kriege führten schließlich zu einer vollständigen Einbeziehung der Ostseeanrainer in die Auseinandersetzungen der europäischen Großmächte und in Dänemark zu der Erkenntnis, daß das Land im Zuge des Wie- ner Kongresses die Selbstbestimmung über die eigene Sicherheitspolitik weitge- hend verloren hatte. Die Dominanz britischer Seeherrschaft im Ostseeraum im 19. Jahrhundert und die Einbeziehung der Ostsee in die geopolitischen Rivalitä- ten Rußlands und des britischen Empire untersucht Andrew Lambert. Während die Ostsee in Anbetracht weltweiter britischer Kolonialinteressen und der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Revolution in der Schiffstechnik ihre angestammte wirtschaftliche Bedeutung für Großbritannien zunehmend verlor, rückte statt des- sen ihre strategische Bedeutung verstärkt in den Vordergrund. So war es dem Em-

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pire zwischen 1840 und 1885 mittels der Dominanz der britischen Flotte wiederholt gelungen, die Verwundbarkeit der russischen Ostseeflanke aufzuzeigen und damit Druck auf Rußland auszuüben.

Mit dem Aufstieg des deutschen Kaiserreichs zu einer ernstzunehmenden See- macht am Beginn des 20. Jahrhunderts begannen sich im Ostseeraum die Macht- verhältnisse zu ändern. Die Eröffnung des Nord-Ostseekanals, das deutsche Flot- tenbauprogramm und die Entwicklungen der modernen Waffentechnik beeinfluß- ten die britische Flottenpolitik maßgeblich und zwangen die britische Politik, ihren Anspruch auf eine dauerhafte militärische Präsenz und Angriffsbereitschaft in der Ostsee de facto aufzugeben. Die Reaktionen Großbritanniens auf die sich in der er- sten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederholt verändernden Machtverhältnisse in der Ostsee sind denn auch das Thema des Beitrages von Brian Bond. Ausführlich weist Wilhelm M. Carlgren in diesem Zusammenhang nach, daß die Ostsee zumindest bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht im Zentrum des geostrategischen In- teresses der Großmächte stand und für diese die Aufrechterhaltung des Status quo Vorrang hatte. Für Dänemark war in dieser Periode vor allem die Bedrohung durch Deutschland allgegenwärtig und zwang das Land dazu, die Beziehungen zum mäch- tigen Nachbarn im Süden keinesfalls zu belasten. Die Gratwanderung dänischer Politik zwischen innenpolitischen antideutschen Strömungen und außenpolitischer Anpassung zeichnet Michael H. Clemmesen eindrucksvoll nach.

Einen breiten Raum nimmt die Darstellung der militärischen und sicherheits- politischen Situation nach 1945 ein. So hebt Geoffrey Till in seiner Untersuchung der Entwicklung des Ost-West-Konfliktes im Ostseeraum dessen zentrale Bedeu- tung als Bindeglied einer mitteleuropäischen und der nordeuropäischen Flanke ei- nes möglichen bewaffneten Konfliktes hervor. Deutlich wird in seiner Analyse der Zeit nach 1945 auch, inwiefern die modernen waffentechnischen Entwicklungen — genannt seien hier besonders die Luftwaffe, die Raketentechnik und die moder- nen U-Boote — die geostrategische Bedeutung des Ostseeraumes veränderten und ihrerseits Einfluß auf die Ausstattung und Ausrüstung der Marine hatten. Ein Aspekt, mit dem sich auch Bo Hugemark in seiner Darstellung der schwedischen Marinepolitik in einem zeitlich größeren Zusammenhang befaßt. Er analysiert da- bei die Probleme des Landes, seinen Anspruch auf eine maritime Verteidigung und die daraus erwachsenden Anforderungen an die Kriegsmarine mit den geringen wirtschaftlichen Ressourcen des Landes in Einklang zu bringen. Die Tatsache, daß Schweden mit der marinetechnischen Entwicklung der Großmächte mit zuneh- mender Zeitdauer nicht mehr mithalten konnte, hatte auch direkte Rückwirkun- gen auf die Strategie der schwedischen Kriegsmarine und markierte den Wandel von einer allseits präsenten Flotte hin zu kleineren, in Küstennähe operierenden Einheiten. Obwohl Schweden, aufbauend auf den Erfahrungen zweier Weltkrie- ge, sich offiziell einer Politik der Allianzfreiheit im Frieden und einer Neutralität im Krieg verschrieb, sah die schwedische Politik in der Sowjetunion die eigent- liche Gefahr für die Sicherheit im Ostseeraum. Auch propagandistische Aktionen wie der Ruf nach einer atomwaffenfreien Zone im Ostseeraum konnten nicht dar- über hinwegtäuschen, daß die Sowjetunion damit an die alten Ideen eines mare clausum anknüpfte, mit dessen Hilfe der eigene Einfluß abgesichert und die aus- wärtigen Kräfte des westlichen Bündnisses aus diesem wichtigen Raum fernge- halten werden sollten.

Insgesamt repräsentiert das vorliegende Werk eine gelungene Mischung aus ereignisorientierten Fallstudien und breit angelegten vergleichenden Untersu-

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chungen, die es erlauben, die wirtschafte- und machtpolitischen Entwicklungen im Ostseeraum im Verlauf von fünf Jahrhunderten mit ihren Kontinuitäten und Brüchen nachzuvollziehen. So war der Gegensatz zwischen der von den Ostsee- anrainern zu verschiedenen Zeiten verfolgten Politik eines mare clausum und dem von den westlichen Seemächten stets propagierten Grundsatz eines freien Zugangs zur Ostsee ein wiederkehrendes Moment in den macht- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen im Ostseeraum. Gelegentliche Überschneidungen der The- matik oder Zeitspannen regen zum Vergleich an und ermöglichen dem Leser, die dargestellten Sachverhalte in einen übergeordneten Zusammenhang zu ziehen.

Daß dabei der Bogen von wirtschafts- über sicherheitspolitische zu militärge- schichtlichen Aspekten gezogen wird, macht dieses Werk besonders interessant.

Rainer Plappert

Quellen zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen 1776-1917. Hrsg. von Rei- ner Pommerin und Michael Fröhlich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buch- gesellschaft 1996, XLIV, 247 S. (= Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert, Freiherr vom Stein-Ge- dächtnisausgabe, 1), DM 98,— [ISBN 3-534-12472-3]

Quellen zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen 1917-1963. Hrsg. von Rei- ner Pommerin und Michael Fröhlich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buch- gesellschaft 1996, LH, 283 S. (= Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert, Freiherr vom Stein-Ge- dächtnisausgabe, 2), DM 118,— [ISBN 3-534-12471-5]

Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Be- ziehungen. Hrsg. von Klaus Larres und Torsten Oppelland, Darmstadt: Wis- senschaftliche Buchgesellschaft 1997,329 S„ DM 58,— [ISBN 3-534-13043-X]

Zu den maßgeblichen Auswahlprinzipien der beiden ersten der auf drei Bände konzipierten Dokumentation, mit denen Michael Fröhlich und Reiner Pommerin die 170 Dokumente aus Reden, Erklärungen, Briefen, Artikeln etc. ausgewählt ha- ben, zählt deren anschauliche inhaltliche Aussagekraft. Damit eignet sich die Edi- tion nicht nur als anregende Einführung für Studenten, Lehrer und Fachwissen- schaftler, sondern auch als facettenreicher Einstieg für ein breiteres politisch-hi- storisch interessiertes Publikum. Die Edition stellt eine willkommene Ergänzung zu den grundlegenden Werken wie den über 60 Bänden der »Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik«, den »Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland« (an deren Edition der Herausgeber Fröhlich beteiligt ist) und den über 300 Bänden der »Foreign Relations of the United States« dar. Man darf ge- spannt sein auf den avisierten dritten Band, der nach drei teils allzu konfrontati- ven, teils außerordentlich kooperativen Jahrhunderten deutsch-amerikanischer Be- ziehungen die Jahre von den behutsamen Bemühungen internationaler Entspan- nungspolitik über die epochale Wende des beendeten Kalten Krieges bis in die ta- stenden Neuorientierungen der neunziger Jahre behandeln wird.

Die Einleitungen zu den beiden ersten Bänden führen ebenso knapp wie fach- kundig verdichtet in Schwerpunkte der historischen Zusammenhänge ein. For- schungsstand und -perspektiven werden hier innerhalb der gängigen For-

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schungskontroversen teils sine ira et studio, teils mit plausibel begründeten Posi- tionen angesprochen. Der strengen Chronologie der Dokumente wird je eine ge- gliederte Zuordnung durch »thematische Quellenverzeichnisse« vorangestellt, was dem Leser neben dem Sachregister einen schnellen zeitlichen wie inhaltlichen Zu- griff ermöglicht. Neben den chronologischen Quellenverzeichnissen werden edi- torische Angaben zu den ausgewählten Quellenauszügen sparsam angemerkt; auf textkritische Angaben wird verzichtet; die gelegentliche Kommentierung von Be- zügen, die dem Leser wohl weniger geläufig sind, erfolgt spärlich in knappen Fuß- noten; hinreichende biographische Angaben finden sich in den Personenregistern.

Die umfangreichen, mit wichtigen Zeitschriftenaufsätzen aktuell gehaltenen Quel- len- und Literaturverzeichnisse weisen Wege zur Vertiefung in den Forschungs- stand.

Die Herausgeber behandeln bewußt nicht nur Haupt- und Staatsaktionen, son- dern geben auch reichlich Einblick in die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte.

Plastisch vor Augen tritt da etwa der beschwerliche Alltag, den die meist integra- tionswilligen deutschen Auswanderer zu bestehen hatten. Nachvollziehbar wird, wieso weder »ethnische Vielfalt« noch »kultureller Pluralismus« zu den gesell- schaftlichen Idealen der amerikanischen Gründerväter und ihrer Zeitgenossen gehörten; darüber hinaus blieb Xenophobie oft genug nicht nur dort virulent, wo die Neuankömmlinge aus der »Alten Welt« Assimilierungsprozesse zu schwer- fällig meisterten.

Selbstverständlich lassen die Herausgeber Repräsentanten unterschiedlicher Gruppierungen zu Wort kommen. So zeigen sie ein buntes Bild an Gegebenheiten, die die Menschen von Deutschland abstießen und zu Amerika hinzogen, ohne die dabei wirkenden, lediglich künstlich zu trennenden »Zug- und Druckfaktoren«

sonderlich gegeneinander zu gewichten. Auf der Strecke bleiben dabei so manche Mythen und Legenden wie die hierzulande verbreitete, wonach Deutsch eine re- elle Chance gehabt habe, »Nationalsprache« der Vereinigten Staaten zu werden.

Die Quellen weisen mit den Herausgebern in eine andere Richtung: daß das Deut- sche vielmehr bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt mit dem Eng- lischen konkurrieren konnte. Als mit dem amerikanischen Kriegseintritt 1917 der Deutschunterricht, nunmehr die Sprache des Gegners, in den USA verboten wur- de, verging insofern keine vermeintlich »versäumte Chance«. Nicht nur die kul- turgeschichtlichen Dokumente, sondern auch die zu den »Offiziellen Beziehun- gen« lassen daran keinen Zweifel. Als die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert zur »Weltmacht« aufstiegen und schließlich in imperialistischer Manier der Zeit Kolonien annektierten, fand Washingtons Wirtschaftsexpansionismus zwar seinen gewinnträchtigen Gefallen am Wettlauf Berlins und Londons u m die Gunst der Regierung am Potomac. Das gilt sogar noch für den deutsch-britischen Antago- nismus, der mit Tirpitz' Flottenrüstung auf dem deutschen Kurs zum »Platz an der Sonne« eine seiner giftigsten Blüten trieb. Aber bei aller Konkurrenz rangierte die britische Krone mit ihrem Commonwealth machtpolitisch, wirtschaftlich, kultur- und sprachgeschichtlich bis in unsere Tage als der wichtigste Ansprechpartner; ein historisches Faktum, das auch nach dem Ende des Kalten Krieges und trotz des gesteigerten Gewichts Deutschlands im allmählich zusammenwachsenden Euro- pa seine Bedeutung nur langsam verringern wird.

Der Erste Weltkrieg als einschneidende Zäsur für das >deutsche Element< in den Vereinigten Staaten wie für die bilateralen Beziehungen verbindet geschickt überlappend mit thematischer Scharnierfunktion die ersten beiden Dokumenten-

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bände. Die historiographischen Kontroversen um die Frage, ob der amerikanische Eintritt in den Ersten Weltkrieg notwendig oder·vermeidbar war, wird ausführlich dokumentiert. Verletzung der belgischen Neutralität, deutsche Kriegsgreuel, un- beirrte Torpedierungen von Passagier- und Frachtschiffen, die im uneingeschränkten U-Boot-Krieg mündeten, Führungsstreit und Zielkonflikte zwischen Reichsleitung und OHL, diplomatisches Hasardieren, mit dem die Wilhelmstraße für ein deutsch- mexikanisches Bündnis gegen die USA als Kriegsgewinn Texas, Neumexiko und Arizona in Aussicht stellte, all das gehört zum deutschen Anteil am perspekti- venreich aufgefächerten Ursachen- und Motivbündel für die 1917 gewählte ame- rikanische Abkehr vom abkapselnden Isolationismus. Keineswegs verschwiegen werden demgegenüber das weite Ausgreifen der nicht nur wirtschaftlich inter- pretierten »open door policy«, unterlegt mit Uncle Sams Drang nach Einfluß- sphären, überwölbt mit machtpolitischem Kalkül lind sentimentaler Hinwendung zugunsten der britischen Verwandtschaft, sowie nicht zuletzt ein Einstehen für Pa- ris, das in Washington als Zentrum abendländischer Kultur galt, woher die durch- aus nicht vergessene Hilfe während des Unabhängigkeitskampfes in den 1860er Jah- ren gekommen war. Mochten neben Berlin auch London und Paris für Washington ebenfalls Konkurrenten im Wettstreit um politische und wirtschaftliche Weltgeltung sein, das deutsche Sündenregister war letztlich zu lang, die Ungeschicklichkeiten zu arg, die deutsch-amerikanischen Beziehungen trotz unübersehbarer Bemühungen Berlins denn doch relativ zu nachrangig, als daß der amerikanische Kriegseintritt sich nicht über kurz oder lang aus diesem oder jenem Anlaß aufgedrängt hätte.

Trotz der isolationistischen Neutralitätsgesetzgebung des Kongresses in den dreißiger Jahren wurde im Zweiten Weltkrieg dem »Internationalisten« und »Si- cherheitspolitiker Roosevelt« eine entsprechende Entscheidung wenige Tage nach dem japanischen Luftangriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor abgenom- men: in einem »Spagat zwischen Reaktion und Programm« (S. 7) konfrontierte Hit- lers Kriegserklärung die USA jedenfalls mit der Gefahr eines Zweifrontenkrieges. Daß der amerikanische Sieg an beiden Fronten am Ende stehen würde, war abzusehen;

daß dies Ende die USA wenige Jahre später in einer revolutionären außenpoliti- schen Wende im nordatlantischen Bündnis führen und ihnen ein Wirkungsfeld als globale Supermacht bieten würde, ist dagegen erklärungsbedürftiger. Der dop- pelten Eindämmung — durch konstruktiv integrierende Kontrolle Deutschlands und durch massive Bollwerke gegen die Sowjetunion — sind dafür zahlreiche er- hellende Dokumente gewidmet. Aus ihnen geht zugleich hervor, warum bis 1963, als die westliche Vormacht zunehmend auf Bewahrung des Status quo bedacht war, »niemand — weder auf deutscher noch auf amerikanischer Seite — hätte vor- aussehen können, daß kaum mehr als zwanzig Jahre später die Teilung Deutsch- lands der Vergangenheit angehören würde« (S. 25).

Eben dies komplexe bilaterale Beziehungsgefüge in unserem »Jahrhundert der Extreme« (E. Hobsbawm), wie es sich in den jüngsten Ergebnissen historischer For- schung auf beiden Seiten des Atlantik widerspiegelt, fächert ein von Larres und Oppelland herausgegebener kompakter Sammelband auf. Beiden kommt es ganz ähnlich wie Pommerin und Fröhlich besonders darauf an, die multinationalen Per- spektiven mit ihren relevanten ökonomischen Wirkungskräften und innenpoliti- schen Kraftvektoren zu unterfüttern, wie es im Forschungsfeld der »international history« inzwischen Standard geworden ist.

So weist Torsten Oppelland in seiner Analyse »Der lange Weg in den Krieg (1900-1918)« auf die asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen hin, bei denen

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Deutschland zu 70 Prozent industrielle Fertigprodukte, die USA dagegen zu 90 Prozent Rohstoffe und Agrarprodukte lieferte und damit am Vorabend des Ersten Weltkriegs Deutschlands größter Importeur wurde. Um so gewichtiger mußte sich der ständige Streit um Zölle und Handelsabkommen auswirken, der sich ange- sichts Washingtons drastischer industrieller Schutzzollpolitik und deutscher — insbesondere von preußischen Großgrundbesitzern durchgesetzter — agrarischer Schutzzollpolitik aufschaukelte. Dagegen richtete sich Washingtons Wohlwollen um so mehr auf Großbritannien, das sich trotz innenpolitischen Drucks zugunsten Empire-Schutzzöllen noch weitgehend das Freihandelsprinzip leisten konnte. Lon- don hatte auch die besseren Karten im Wettstreit auf den Weltmeeren. Just als Groß- britannien nach dem Burenkrieg seinen strategischen Rückzug aus der westlichen Hemisphäre einleitete und überhaupt das britisch-amerikanische »great rappro- chement« die amerikanische Marineführung wie Mahans Navalismus um den tra- ditionellen Gegner brachte, bot sich als willkommener Ersatz Deutschland mit sei- ner geschäftigen Lateinamerikapolitik, mit von Kanonenbootdiplomatie begleite- ter Handelspolitik und mit dem — obschon hauptsächlich gegen Großbritannien gerichteten — Tirpitzschen Schlachtflottenbau an. Angesichts Londons faktischer Anerkennung der Monroe-Doktrin erschien dagegen die englische »Home fleet«

quasi als erste amerikanische Atlantiksperre gegen eine deutsche Schlachtflotte in um so hellerem Licht. Schließlich verweist Oppelland ebenso auf den gesell- schaftlichen wie verfassungsrechtlichen preußischen Militarismus der deutschen Autokratie, dem man in Washington innenpolitisch unterstützten »alldeutschen«

Imperialismus unterstellte, wogegen die liberale britische Regierung ab 1905 ihre Demokratisierungsfortschritte vorzeigen konnte. Wenn es zu britischer Erbitterung dennoch drei Jahre Krieg bis zum amerikanischen Kriegseintritt brauchte, so liegt das maßgeblich an den traditionell isolationistischen innenpolitischen Behar- rungskräften, zumal Wilson 1916 seinen Wahlkampf mit der Parole gewonnen hat- te, daß er die USA bislang aus dem Weltkrieg habe heraushalten können.

Die nach dem Ersten Weltkrieg praktizierte pragmatische Finanzdiplomatie, mit der Washingtons Politiker und Geschäftsleute beharrlich eine friedliche Stabi- lisierungspolitik mit Deutschland für Europa zu fördern suchten, scheiterte letzlich in vielen Einzelschritten, wie sie Elisabeth Glaser^Schmidt in »Verpaßte Gelegenhei- ten? (1918-1932)« aufschlüsselt: nicht erst an der aggressiven Revisionspolitik von Deutschnationalen und Nationalsozialisten, sondern u.a. auch schon an den wenig kompromißbereit verfolgten französischen und britischen Interessen, wobei wie- derum Foreign Office und Quai d'Orsay weit vertrauensvoller als die Wilhelm- straße mit dem State Department kooperieren konnten. Michaela Hönicke macht deutlich, daß das nachfolgende nationalsozialistische Deutschland trotz seiner zunächst »taktisch vorsichtigen Amerikapolitik« dennoch mit Autarkiestreben, Diktatur und Terror, mit Judenverfolgung und Bücherverbrennungen noch ver- bliebene Sympathie und Hochschätzung ruinierte; obwohl die mehrheitlich isola- tionistische Grundstimmung, die sich in der Neutralitätsgesetzgebung des Kon- gresses widerspiegelte, den Handlungsspielraum der Regierung Roosevelts mit einem »Primat der Innenpolitik« beträchtlich begrenzte, boten Hitler und seine Helfer im Schulterschluß mit Japan den amerikanischen Internationalisten und In- terventionisten überreichlich Argumente, die schneller als ursprünglich von Ber- lin geplant den amerikanischen Kriegseintritt provozierten.

Hans-Jürgen Schröder zeigt etliche Parallelen und Kontinuitäten in Washingtons konstruktiver Stabilisierungspolitik für Europa nach dem Ersten und dem Zwei-

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ten Weltkrieg auf. Dem stellt er die Unterschiede der vielgestaltigen Integrations- politik nach 1945 zur Seite, die Deutschland in eine von Amerika dominierte west- lich-liberale Staatengemeinschaft einbinden sollte, wobei die Europapolitik vor dem Hintergrund des Kalten Krieges nach einer zunächst primär ökonomischen auch alsbald eine engagierte politische und militärische Dimension erhielt. »Der besetzte Verbündete« (H.-J. Rupieper) Westdeutschland erkannte und nutzte sei- ne — nach 1945 wie nach 1918 von Washington europapolitisch zugemessene — wirtschaftliche Schlüsselfunktion zur zügigen »deutschen Rückkehr auf die inter- nationale Bühne« (W. Bührer), wobei wiederum die politischen und militärischen Pfunde zu Zeiten des Kalten Krieges mit in die Waagschale geworfen wurden. Die herausragende Rolle Bundeskanzler Adenauers, in Washington als »Glücksfall«,

»Garant« und »alternativloser Stabilitätsfaktor« der Alliierten hochgeschätzt, fügt Schröder in eine »Dreifache Eindämmung« ein; neben die »doppelte Eindämmung«

(W. Loth), dem globalen containment der Sowjetunion sowie der europapolitischen Einzementierung etwaiger überzogener deutscher Machtpolitik, »trat die vor al- lem von Adenauer vertretene Politik der Selbsteindämmung«, im Hillgruberschen Sinn eine »Sicherheit der Deutschen gleichsam vor sich selbst«. Adenauers Formel

»Wiedervereinigung durch Westintegration« interpretiert Schröder nicht nur als palliativen »innenpolitischen Schachzug«, sondern auch als »eine wirksame außen- politische Strategie zur Erweiterung der westdeutschen Position gerade gegenüber den USA« (S. 106 f.).

In den westdeutschen Reaktionen schwingt, wenn man den von Schröder nuan- ciert aufbereiteten Forschungsstand in seiner Variationsbreite zusammenklingen läßt, auch eine virtuose Instrumentierung paralleler wirtschaftlicher, außen- und sicherheitspolitischer Interessen mit. Gleichwohl werden allfällige Konflikte dieser gemeinsamen transatlantischen Wertegemeinschaft keineswegs kleingeredet. So gliedert Klaus Larres die — mit grundsätzlichen Begriffsdefinitionen zum zentra- len Problemkreis von amerikanischer Hegemonie bzw. Dominanz sowie eigenen Quellenstudien angereicherten — Forschungsergebnisse über die »Glanzzeit der deutsch-amerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert« pointiert in zwei Pha- sen: das »Bündnis des Vertrauens 1953-55« und die »Allianz des Mißtrauens 1955-61«. Die Krisen und Konflikte, die Larres ab Mitte der fünfziger Jahre ak- zentuiert, finden ihre Fortsetzungen im Beitrag von Joachim Arenth, der vom Viet- namkrieg bis zum »Hähnchen-Krieg« unter Kennedy und Johnson u.a. Berlinkri- sen, Mauerbau, Multilateral Force, Detente ebenso thematisiert wie die zwischen Bonner »Atlantikern« und »Gaullisten« umstrittenene, gleichwohl trotz aller Be- lastungen positive Bilanz der deutsch-amerikanischen »special relationship« (J. Al- sop) in den sechziger Jahren. Die Belastungen in den siebziger Jahren verortet Her- bert Dittgen prononcierter in der militärstrategischen Konstellation, als im Schatten des Ost-West-Konflikts eine annähernde strategische Parität Washington stärker als vorher zu Detente- und Rüstungskontrollpolitik (SALT) drängte. Dem NATO- Doppelbeschluß von 1979, der mit einer Modernisierung der nuklearen Mittel- streckensysteme bei gleichzeitiger Verhandlungsbereitschaft partiell asymmetri- sche Sicherheitsbedürfnisse und prekäre Glaubwürdigkeitsdefizite decken sollte, folgte wenige Tage später die sowjetische Intervention in Afghanistan. Washingtons am Status quo orientierte Politik trug hier keine Früchte und erschwerte zugleich die Fortsetzung der Bonner Deutschland- und Europapolitik, die auf Veränderung zum Besseren per »Wandel durch Annäherung« (E. Bahr) setzte. Immer wieder in diesem Jahrzehnt, etwa anläßlich der Aufgabe der Dollar-Gold-Konvertibilität oder

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während der beiden Ölkrisen, hatte Bonn — zum wiederholten Ärger in Paris — in Washington zusätzliche Bündnisloyalität für Sicherheit zu entrichten, so daß die bundesrepublikanische Bedeutungssteigerung als internationaler Akteur zunächst nicht so augenfällig wurde, obschon Helmut Schmidt den Devisenausgleichszah- lungen 1976 ein vertragliches Ende setzen konnte. Wie Dittgen für die siebziger, so knüpft Michael Jochum für die achtziger Jahre den »Zerfall des sicherheitspoliti- schen Konsenses und die Verschärfung der Wirtschafts- und Währungskrisen« an den ökonomischen Machtverlust der USA. Über die konfrontative Rhetorik und unilateralistische Praxis Ronald Reagans hinaus verschärften sich Interessen- und Politikgegensätze, so daß »Wert und Struktur des transatlantischen Bündnisses öf- ter und grundsätzlicher in Frage gestellt wurden« (S. 204) als je; und anders als auf dem Politikfeld Sicherheit konnte Washington auf dem Politikfeld Wirtschaft sich inzwischen nicht mehr selbstverständlich dominierend durchsetzen — auch nicht durch interdependente Instrumentalisierungen.

Doch Streit und Hader waren im Nu vergessen, als sich im Zuge der Implosi- on des sowjetischen Imperiums die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR als Möglichkeit abzeichnete. In einem eigenen Kapitel resümiert Chri- stian F. Osterfeld die amerikanische DDR-Politik, die in all den Jahrzehnten (also auch nach dem Austausch von Botschaftern) ein der Politik gegenüber der So- wjetunion und der Bundesrepublik Deutschland funktional untergeordnetes Schat- tendasein fristete. Vor allem vermittels der Memoirenliteratur zeichnet Heinrich Bortfeldt in einem facettenreichen Bild insbesondere die amerikanische Verhand- lungsseite, aber auch die deutschen, sowjetischen, britischen und französischen Akteure mit ihren Aktionen und Reaktionen in diesem sich so von nahezu allen unerwartet aufbauenden und dynamisch rasant ablaufenden historischen Prozeß.

Nicht zuletzt, weil die amerikanischen essentials — kein Vakuum in Zentraleuro- pa, sondern NATO-Verankerung auch des neuen souveränen Deutschland sowie Öffnung und Liberalisierung Osteuropas — so gut wie deckungsgleich mit den Bonner Vorstellungen waren, schlug nun die konstruktiv-kooperative »Sternstun- de der deutsch-amerikanischen Beziehungen«. Daß diesen »Flitterwochen« eine alltäglich Ehe folgen wird, geht — streng analytisch strukturiert — aus dem »Aus- blick: Deutschland und die USA in den 1990er Jahren« von Philipp Borinski hervor.

Er zieht die Entwicklungskonstante in eine Zukunft, in der beide Nationen genug Anlaß zu Kontroversen finden werden, um bei deren Bewältigung festzustellen, daß sie sich auch künftig gegenseitig brauchen. Läßt man das bilaterale und mul- tilaterale Auf und Ab von Konsens und Konflikt nach 1945 Revue passieren, dann ist als eine die Beiträge übergreifende Relation augenfällig: je stärker und »sou- veräner« die Bundesrepublik wurde, desto größer fielen die euphorischen Höhen und irritierenden Tiefen von Kooperation und Verstimmung aus. Mehr noch als bisher schon wird es bei der transatlantischen Kooperation zu beiderseitigem Vor- teil auf den europäischen Kontext ankommen, als dessen bedeutender Teil Deutsch- land in diesem Jahrhundert stets eingeschätzt worden ist.

Mit allen drei Veröffentlichungen, dem Sammelband, der mit seinem konzep- tuellen Ansatz den Blickwinkel des informativen Literatur- und Forschungsbe- richts um kultur- und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven anreichert, und mit den gleichzeitigen Quelleneditionen als glücklicher Ergänzung, beweist die Wis- senschaftliche Buchgesellschaft eine sichere Hand bei ihrer ebenso kompetenten wie aktuellen Programmgestaltung zur anspruchsvollen historisch-politischen Ortsbestimmung, die kritisch die vielen Einzelergebnisse der Forschung bündelt

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und mit multinationaler Perspektive in den größeren Zusammenhang Internatio- naler Politikgeschichte stellt.

Gero von Gersdorff

Klaus Hornung, Scharnhorst. Soldat — Reformer — Staatsmann. Die Bio- graphie, Esslingen, München: Bechtle 1997, 343 S., DM 44,— [ISBN 3-7628- 0538-5]

Eine den modernen wissenschaftlichen Ansprüchen und Erfordernissen genügende Scharnhorst-Biographie, d.h. eine Darstellung seines Werdens und Wirkens vor dem Hintergrund der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit, ist seit dem leider Fragment gebliebenen Versuch R. Stadelmanns ein wichtiges Deside- rat der historischen Forschung. Um so gespannter greift man nach einem Buch, dessen Titel nicht nur ein Porträt verspricht, sondern vielmehr die Biographie. Nun weiß jeder, der sich mit dem Nachlaß des preußischen Heeresreformers beschäftigt hat — welcher sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz befindet und dem inzwischen auch die Vorarbeiten G. Oestreichs zur Brief-Edition zugeführt worden sind —, daß sich darin noch manche Schätze zur Erhellung der Lebens- umstände Scharnhorsts und seiner beruflichen Tätigkeit finden lassen. Gleiches gilt für das bislang noch nicht publizierte Material R. Vaupels zum zweiten Band seiner Veröffentlichung zur preußischen Heeresreform im Rahmen der Aktenpu- blikation zur Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg;

zu den Literaturangaben vgl. Heinz Stübig, Die preußische Heeresreform in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland, in: MGM, 48 (1990), S. 27-40. Doch diese Unterlagen hat der Verfasser ebensowenig herangezogen wie die von der Historischen Abteilung des Generalstabs in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts herausgegebene Dokumentation »Die Reorganisation der Preußischen Armee nach dem Tilsiter Frieden«. Statt dessen beschränkt er sich

— was die Quellen angeht — neben einer Auswahl der gedruckten Zeugnisse vor- nehmlich zur preußischen Reformzeit vor allem auf die Ausgaben von Scharnhorsts Schriften und Briefen, wobei er allerdings die von H. Usczeck und C. Gudzent her- ausgegebenen »Ausgewählten militärischen Schriften« (Berlin-Ost 1986) nicht er- wähnt. Dieses Vorgehen hat zur Konsequenz, daß Hornung viele seiner Belege aus der Sekundärliteratur übernehmen muß und sich von daher sowohl von der Auswahl als auch von dem interpretatorischen Zugriff seiner Gewährsleute abhängig macht.

Das Buch folgt in seinem Aufbau den einzelnen Lebensstationen Scharnhorsts

— angefangen von seiner Ausbildung auf dem Wilhelmstein, über den Dienst in der hannoverschen Armee bis hin zu seiner militärischen Tätigkeit in Preußen — und stellt die Biographie dieses Mannes in den Kontext der vorherrschenden gei- stigen Strömungen und politischen Entwicklungen. Dabei ist der Autor stets bemüht, das Zeitkolorit einzufangen und die Ideen und Handlungen Scharnhorsts mit Blick auf die unterschiedlichen Beziehungen zu Personen und Gruppen, mit de- nen er zusammenarbeitete oder gegen die er ankämpfte, darzustellen und zu erör- tern. Aufgrund seiner schmalen Quellenbasis kann Hornung allerdings kaum Neu- es zutage fördern; und auch bei den Streitfragen der Scharnhorst-Forschung, die z.B. dessen Verhalten in der Schlacht von Auerstedt bzw. generell die Frage nach seinem Feldherrntum betreffen, hält er sich mit seinem Urteil deutlich zurück.

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Offensichtlich hat man es versäumt, dieses Buch sorgfältig zu lektorieren. Denn wie anders sind die zahlreichen Ungenauigkeiten im Anmerkungsapparat sonst zu erklären? So werden dort einerseits Anmerkungen ausgewiesen, die im Text nicht vorhanden sind, andererseits finden sich im Text mit entsprechenden Hoch- zahlen gekennzeichnete Fußnoten, die keine Entsprechung im Apparat haben. Be- sonders häuft sich diese Art von Fehlern im dritten Kapitel, in dem für die Fußnoten 67 bis 75 keine Belegstellen angegeben werden. Noch bedenklicher als diese Ver- stöße erscheint allerdings der Umgang mit den Zitaten, was jedoch eindeutig dem Verfasser anzulasten ist. Bei einer willkürlichen Stichprobe von zehn Zitaten zwi- schen den Seiten 134 und 175 kam der Rezensent auf insgesamt über 40 Ver- schreibungen, Interpolationen, Auslassungen, nicht kenntlich gemachte Kompila- tionen sowie unzutreffende Fundstellenangaben — ein Ergebnis, das die norma- lerweise zugestandene Anzahl von Druckfehlern bei weitem überschreitet.

Wir werden also weiterhin auf eine Scharnhorst-Biographie warten müssen, die den Vergleich mit Arbeiten, wie denen von L. Gall oder E. Engelberg über Bis- marck nicht zu scheuen braucht. Eine solche Darstellung kann allerdings nicht nur auf der Analyse der Sekundärliteratur basieren, sondern muß darüber hinaus auch die Vielzahl der gedruckten und ungedruckten Materialien sorgfältig auswerten.

Heinz Stübig

Erik Lindner, Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich. Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Lang 1997,448 S. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 726), DM 98,— [ISBN 3-631-31356-X]

Das 19. Jahrhundert ist in Deutschland auch gekennzeichnet durch den Prozeß ge- sellschaftlicher Dekorporierung. Dies mußte Stellung und Selbstverständnis einer Bevölkerungsgruppe berühren, die bis an den Rand der mit der Französischen Re- volution eingeleiteten Moderne die Identität einer eigenen >Nation< nahezu un- eingeschränkt hatte bewahren können. Die in den Grenzen des Alten Reiches und des nachmaligen Deutschen Bundes lebende jüdische Minderheit wurde im Zuge der sich entfaltenden >Staatsbürgergesellschaft< und der damit einhergehenden, vielfach noch als >Erziehung< verstandenen Emanzipation mit der Herausforde- rung konfrontiert, die eigene Position und Identität neu zu bestimmen. Der Verfasser, der bereits durch einschlägige Veröffentlichungen zu Haltung und Wirken von Ju- den im Deutschland der Emanzipationszeit ausgewiesen ist, geht in seiner Mün- steraner Dissertation der Rolle, dem Profil und den Beweggründen nach, die im Verlaufe jenes Prozesses den von jüdischer Seite zum Ausdruck gebrachten Pa- triotismus kennzeichneten. Das Erfordernis, diesen Patriotismus einem nach wie vor mit eigenen Merkmalen versehenen Träger zuschreiben zu können, wie auch der Hintergrund der auf die preußisch-deutsche Reichsgründung zulaufenden Ent- wicklung der >deutschen Nation< lassen hierbei die in der Studie beobachtete Be- schränkung auf die im Gebiet des späteren Kaiserreichs ansässigen Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft naheliegend erscheinen.

Angesichts der dem Patriotismusbegriff innewohnenden Bedeutungsvarian- ten — die mit ihm bewiesene Identifikation mochte sich auf eine kulturell wie auch

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eine politisch bestimmte Gemeinschaft beziehen, sie konnte partikularstaatlich- regionale oder aber nationale, demnach deutsche Orientierungen bekräftigen — nimmt Lindner ein breites Spektrum >patriotischen< Verhaltens in den Blick, mit dem Juden ihre tatsächliche oder auch nur erstrebte Position zwischen einer in her- gebrachter Loyalität zum Gastland verharrenden korporativen Besonderung und der Integration des emanzipierten Bürgers zum Ausdruck bringen konnten. In dem hierbei entstehenden Bild erscheint die Revolution von 1848/49 zu Recht als >Wen- depunkt<. Noch in der ersten Jahrhunderthälfte hatte sich eine einflußreiche Or- thodoxie behaupten können, die mit dem vornationalen Gehorsam gegenüber dem Fürstenhaus zugleich die >nationale< jüdische Identität in korporativer Absonde- rung wahrte. Erst die Deutsche Revolution ließ auch die orthodoxe Richtung jenes Programm der Gleichberechtigung aufgreifen, das die zunehmend an Boden ge- winnende jüdische Reformbewegung mit der Umprägung der überlieferten Treue zu Formen eines individuellen, modernen, auf Integration gerichteten Patriotis- mus verbunden hatte. Den Beginn dieser in eine deutsch-jüdische Identität ein- mündenden Transformation erkennt Lindner zwar in der Teilnahme der Juden am Kampf gegen Napoleon, namentlich in ihrer Beteiligung an den >Freiheitskriegen<.

Der damals und in der Folgezeit im gelebten Engagement wie in Deklarationen bezeugte Patriotismus bedurfte aber noch der Aufnahme durch die umgebende nichtjüdische Gesellschaft. Hier weist der Verfasser der ab dem Vormärz immer mehr an Bedeutung gewinnenden bürgerlich-liberalen Bewegung eine Schlüssel- rolle zu. Erst sie habe den auf Integration zielenden Patriotismus deutscher Juden nachhaltig begünstigt (und damit auch beeinflußt). Anders als der durch einen an- tifranzösischen Grundtenor geprägte Nationalismus der >Freiheitskriege< habe je- ne bürgerliche Bewegung gerade auch mit ihrer Orientierung an der deutschen

>Kulturnation< in hinreichendem Maße Toleranz und Offenheit entwickelt, so daß es den Juden möglich war, sich dieser Staatsbürgergesellschaft unter Wahrung ei- ner freilich auf die Konfession zurückgenommenen Identität zu assimilieren. Da die bürgerliche Bewegung gleichzeitig in weiten Teilen auf nationaler Ebene sich ent- faltete und wesentlich an der Durchsetzung der kleindeutschen politischen Ein- heit beteiligt war, hat sich der jüdische Patriotismus schließlich weitgehend mit dem deutschen Nationalstaat identifiziert.

Die verdienstvolle Studie, die mit der Untersuchung des Patriotismus die von der Forschung — etwa von Jacob Toury — skizzierten Entwicklungslinien bekräf- tigt, ist nicht zuletzt auch wegen ihrer militärgeschichtlichen Bezüge ein Gewinn.

Lindner ist es zu danken, daß er in der Regel schwer erreichbare Quellen zur jü- dischen Beteiligung an den deutschen Rüstungen und Kriegen von Napoleon bis zu Bismarck zusammengetragen, ausgewertet und zudem in einem Anhang zum Teil veröffentlicht hat. Besonders zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang sein Bestreben, sowohl einen möglichst breiten Fächer von Quellengattungen zu er- schließen als auch über die — vergleichsweise gut erforschte — preußische Mi- litärgeschichte hinaus Zeugnisse aus anderen deutschen Staaten einzubeziehen.

Neben der Kriegskorrespondenz eines jüdischen Freiwilligen in der preußischen Armee der >Freiheitskriege< steht die Darstellung eines badischen Vereins israeli- tischer Konskribierter, das Engagement jüdischer Frauen für den Ankauf eines Kriegsschiffes 1848 findet ebenso Berücksichtigung wie etwa die Kriegslyrik aus der Zeit der >Deutschen Kriegen Daß Lindner an einer Stelle den Hauptmann und spä- teren charakterisierten Major Meno Burg versehentlich degradiert hat, fällt ge- genüber der Leistung der Arbeit nicht ins Gewicht. Frank Nägler

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Dieter Brötel, Frankreich im Fernen Osten. Imperialistische Expansion und Aspiration in Siam und Malaya, Laos und China, 1880-1904, Stuttgart: Stei- ner 1996, XVIII, 890 S.(= Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, 65), DM 198,— [ISBN 3-515-06838-4]

Frankreich war seit dem zweiten Opium-Krieg (1856-1860) als politisch-militäri- scher Faktor im Fernen Osten präsent. Von seinem hinterindischen Kolonialbesitz aus bemühte es sich, Zugang zum aussichtsreichen chinesischen Markt zu erlan- gen sowie handels- und finanzpolitisch in Siam und dessen Nebenländern Malaya und Laos Fuß zu fassen. Daß eben diese wirtschaftsimperialistische Einflußnah- me auf die beiden semi-kolonialen Staaten Siam und China an politischen und strukturellen Gegebenheiten scheiterte und die französischen Aspirationen viel- fach Luftblasen blieben, wird an der ebenso umfangreichen wie detaillierten Un- tersuchung eines ausgewiesenen Spezialisten für die französische Asienpolitik deutlich. Das voluminöse Werk schöpft extensiv aus französischen Archivbestän- den und schließt durch seine beeindruckend breite Anlage eine empfindliche For- schungslücke im Bereich der französischen Südost- und Ostasienpolitik in der Hochphase des imperialistischen Wettrennens.

Brötel analysiert das windungsreiche Bemühen der Dritten Republik, sich in den Jahren 1880 bis 1904 in den formell unabhängigen asiatischen Staaten China und Siam als wirtschaftspolitische Kraft zu etablieren. Vor dem Hintergrund an- haltender Rezession im Mutterland untersucht der Autor Organisation, Ziele und Strategien der ökonomischen Penetration in einem umkämpften Kernbereich Asi- ens und knüpft damit an seine früheren Forschungen über das französische Pro- tektorat in Annam-Tongking an.

Frankreichs informelle imperialistische Expansion in Siam und China wurde nur zum Teil durch die Zentrale in Paris gesteuert. Sie bestand aus einem vielschichtigen Interessenbündel der politisch-ökonomischen Planungen des Mutterlandes, der recht regsamen men on the spot sowie der auf französische Ambitionen fördernd oder hem- mend einwirkenden Modernisierungsbestrebungen der asiatischen Staaten selbst.

Im Falle Siams war es gerade die partielle Öffnungsbereitschaft gegenüber dem We- sten, abgestützt durch ein moderates Modemisierungsprogramm, sowie die strate- gische Lage zwischen der englischen und französischen Machtsphäre, die dem süd- ostasiatischen Königreich die formelle Unabhängigkeit sicherte. Dagegen gerieten die unter loser siamesischer Abhängigkeit stehenden Randgebiete Malaya und La- os unter zunehmenden Einfluß des britischen bzw. französischen Imperialismus.

Während es Frankreich gelang, auf dem linken Mekong-Ufer aus primär indochi- nesischem Sicherheitskalkül das Protektorat Laos zu errichten, schlugen sowohl die Ambitionen der französischen Vertreter vor Ort fehl, gegenüber dem Übergewicht Großbritanniens politischen und handelspolitischen Einfluß auf Siam zu gewinnen, als auch das besonders von Paris favorisierte spektakuläre Projekt, durch einen Ka- nalbau in den malayischen Provinzen die britische Machtstellung zu konterkarie- ren. Konnte auch das französische Kapital nach 1885 eine führende Position in der malayischen Zinnindustrie erobern, so blieb doch die britische Präponderanz in Siam davon unberührt. Aufgrund der widerstrebenden, sich vielfach überlappenden In- teressen der französischen Südostasienpolitik blieb nur die Verhinderung eines bri- tischen Protektorats über Siam als kleinster gemeinsamer Nenner übrig.

Die strukturellen Defizite der französischen Wirtschaftspenetration traten noch deutlicher in China zutage, wo die Interdependenzen und Widersprüche zwischen

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Politik und Wirtschaft offenkundig waren. Weder vermochten die französischen Waffenhersteller auf dem Rüstungssektor zu reüssieren, den sich England und Deutschland aufteilten, noch gelang es der französischen Eisen- und Stahlindu- strie in den für die wirtschaftliche Erschließung zentralen Eisenbahnmarkt einzu- dringen. Fehlende internationale Wettbewerbsfähigkeit, unzureichende Organisa- tion der neu gegründeten Syndikate sowie Zurückhaltung der Wirtschafts- und Finanzwelt machten die verstärkte Rückendeckung durch die Diplomatie not- wendig. Erst im Rahmen eines französisch-belgischen Konsortiums konnte mit der Eisenbahnkonzession für die Linie Peking-Hankow (1898) ein größerer Erfolg ver- bucht werden.

Ab 1895 hatte der französische Fmanzimperialismus vorzugsweise das chine- sische Anleihegeschäft für sich entdeckt. Das politische Zusammengehen mit Ruß- land erwies sich indes für die bataille des concessions als herbe Enttäuschung, da die Russisch-Chinesische Bank als Hauptinstrument der russischen Fernost-Expansi- on sich nicht zur Ankurbelung französischer Wirtschaftsinteressen nutzen ließ.

Das extreme Sicherheitsdenken französischer Banken, die gelegentlich nur durch Appelle an ihre patriotische Pflicht zu einem Engagement in China bewogen wer- den konnten, war ein zusätzliches Problem und verwies zugleich auf die Grenzen internationaler Kapitalkooperation. Ebenso entwickelte sich die in den 1890er Jah- ren entworfene Strategie einer franco-britischen Wirtschaftskooperation auf der Grundlage der open door als wenig realitätskonform. Letztlich zeichneten sich auch in den von Frankreich reklamierten Einflußzonen Yunnan und Szechuan die chro- nischen Struktur- und Organisationsmängel ab: mangelnde Konkurrenzfähigkeit des französischen Exporthandels, infrastrukturelle Probleme (Rohstoffexport über Hongkong!) sowie die extreme Reserviertheit der französischen Industrie, die in bei- den Regionen mit Direktinvestitionen zurückhielt.

Der Autor präsentiert auf ca. 900 Seiten ein lehrreiches Stück Imperialismus- geschichte, das Grenzen und Wirksamkeit der französischen Wirtschaftsexpansi- on in Südost- und Ostasien mit detektivischer Akribie nachzeichnet. Der durch Karten, Tabellen, Graphiken erhärtete Befund ist für die Durchsetzungs- und Stoß- kraft des französischen Expansionswillens im Untersuchungszeitraum ernüch- ternd: Zu keinem Zeitpunkt konnte die Großmacht Frankreich außerhalb ihres ko- lonialen Brückenkopfes in Vietnam in der direkten politisch-wirtschaftlichen Kon- kurrenz mit Großbritannien Punkte sammeln. Großbritanniens Übergewicht blieb überall bestehen — nicht zuletzt infolge des investitionspolitischen Phlegmas der französischen Wirtschaft, das die vielbeschworene mission civilisatrice im Ansatz erschütterte.

Rolf-Harald Wippich

Konrad Canis, Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902, Berlin: Akademie Verlag 1997, 430 S. (= Studien zur Internationa- len Geschichte, 3), DM 124,— [ISBN 3-05-002758-4]

Mit dem vorliegenden Buch zur Außenpolitik des Deutschen Reiches zwischen 1890 und 1902 knüpft Konrad Canis an eine Reihe eigener Veröffentlichungen, na- mentlich an seine Darstellung zur deutschen Außenpolitik der 80er Jahre (Bismarck und Waldersee. Die außenpolitischen Krisenerscheinungen und das Verhalten des

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&lt;S&gt;&lt;/S&gt; mit Bindestrich daran ohne Spatium, S.. Reihen etc.) spielen insofern keine Rolle, da sie über die Stücktitelaufnahme sowieso auch indirekt mit dem