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Jenseits Katholischer Soziallehre

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Jenseits Katholischer Soziallehre

Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik

Herausgegeben von Friedhelm Hengsbach SJ.

Bernhard Emunds

und Matthias Möhring-Hesse Mit Beiträgen von

Edmund Arens, Bernhard Emunds, Hermann-Josef Kracht, Friedhelm Hengsbach SJ, Gerhard Kruip,

Andreas Lienkamp, Stefan Lücking,

Matthias Möhring-Hesse, Ulrich Sander und Josef Senft

Patmos Verlag Düsseldorf

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Jenseits Katholischer Soziallehre : Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik / hrsg. von Friedhelm Hengsbach … Mit Beitr. von Edmund Arens … –

1. Aufl. - Düsseldorf : Patmos-Verl., 1993 ISBN 3–491–77932–4

NE: Hengsbach, Friedhelm [Hrsg.]; Arens, Edmund

© 1993 Patmos Verlag Düsseldorf

Alle Rechte vorbehalten. 1. Auflage 1993

Umschlaggestaltung: Thomas Brink

Gesamtherstellung: Boss-Druck, Kleve

3–491–77932–4

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Die Herausforderung des Denkens durch den Schrei der Armen

Enrique Dussels Entwurf einer Ethik der Befreiung

Bevor das Werk des Argentiniers Enrique Dussel

1

ins Zentrum dieser Untersuchung rückt, soll zunächst ein kurzer Blick auf die theologische Strömung geworfen werden, zu deren prominentesten Vertretern er gehört: die lateinamerikanische Theologie der Befrei- ung. Sie entstand Mitte der 1960er Jahre in einem politisch-sozia- len wie innerkirchlichen Aufbruchklima, dessen herausragende Er- eign~ - einerseits die kubanische Revolution und andererseits das Zweite Vatikanische Konzil - eine epochale Wirkung entfalte- ten. Die doppelte Erfahrung sowohl von Unterdrückung wie auch von stärker werdenden sozialen Bewegungen zur Befreiung der Armen ging mit der Erkenntnis einher, daß sich in diesem Prozeß immer mehr auch Christen engagierten. Diese Entwicklungen veranlaßten in diesen Bewegungen arbeitende lateinamerikanische Theologinnen, ausgehend von dieser Praxis wie von der befreien- den Botschaft vom Gott der Bibel und unterstützt durch Basisge- meinden und Bischöfe, zu einer Neubesinnung auf den Zusammen- hang von christlicher Erlösungshoffnung und politischer Befrei- un~praxis.

So entstand mit der Theologie der Befreiung als einer von der Praxis ausgehenden und auf sie abzielenden Wissenschaft nicht etwa ·ein neues Kapitel der Theologie, sondern eine neue Art, die ganze Theologie zu betreiben. Inhaltlich wurde dabei die Option für die Armen und deren Befreiung zum zentralen Ausgan~punkt.

Methodisch knüpfte die Befreiungstheologie mit der Betonung der sozialanalytischen; hermeneutischen und praktischen Vermittlung an den bekannten Dreischritt »Sehen - Urteilen - Handeln« an.

Als eine »kritische Reflexion der geschichtlichen Praxis im Lichte

des Glaubens« (Gustavo Gutitrrez) stehen auf den ersten Blick zu-

nächst vor allem gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische

Themen im Vordergrund. Gleichzeitig beginnt aber nach und nach

auch die Neubearbeitung der gesamten Bandbreite theologischer

Themen.

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Dieser hier nur knapp skizzierbare Weg der Befreiungstheolo- gie2 ist jedoch politisch wie innerkirchlich gesäumt von Konfronta- tion und Vereinnahmung. Immer wieder finden sich darunter auch grundsätzliche fnfragestellu.ngen, wie z.B. aus den Reihen des La- teinamerikanischen Bischofsrats (CEIAM)J: Was wollen jetzt eigentlich die Befreiungstheologen noch, wo doch durch den Zu- sammenbruch des östlichen Imperiums das Ende des Marxismus eingeläutet ist»

4

Verbal weniger radikal, aber ebenso fundamental ist die Bestreitung der ethischen Kompetenz der Befreiungstheolo- gie, die von europäischer Seite vorgebracht wird: Sie sei geken n- zeichnet durch eine defizitäre sozialethische Theoriebildung, eine Flucht vor der ethischen Rationalität, eine diskursive Schwäche, einen Mangel an kritischer und systematischer moraltheologischer Reflexion, insgesamt also durch eine bemerkenswerte Dürftigkeit in theoretischer Hinsicht, die ihre Kennzeichnung als Ethik frag- würdig erscheinen lasse.

Mit der Vorstellung der Position Enrique Dussels', die zwar nicht unbedingt repräsentativ für die Befreiungstheologie ist, aber doch die derzeit am weitesten entfaltete systematische Konz.eption darstellt, will dieser Artikel dagegen gerade die Notwendigkeit und Kompetenz seiner Befreiungsethik für eine heutige christliche Ge- sellschaftsethik aufweisen

6

1. Der Denkweg Enrique Dussels: die Entdeckung der anderen als der Armen

1.1. Die Praxis als AusgangspunkJ der Theologie

Neben ersten philosophischen Forschungen im Bereich der Ethik und Anthropologie interessierte sich Du.ssel zunächst vor allem für theologie- und kirchengeschichtliche Fragestellungen. Diese histori- schen Studien lenkten seinen Blick auf die Vorgeschichte seiner eigenen Option für eine Befreiungspraxis mit den Armen und Un- terdrückten Lateinamerikas und wurden so zu einer Vorstudie der philosophischen Ausarbeitung seiner Ethik der Befreiung. Auch in seinen späteren Untersuchungen zur Historie und Theologie La-

teinamerikas' wurde dieser dialektischen Beziehung von Geschichte und Ethik Rechnung getragen. Im folgenden soll nun deren Ver- hältnis entfaltet werden.

Es ist das zentrale Moment der »Praxis« und ihrer Reflexion,

das bei Dussel Geschichte und Ethik zu den beiden Teilbereichen

seiner »Fundamentaltheologie« werden läßt. Mit dieser quer zum

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traditionellen Verständnis stehenden Begriffsbestimmung - »Fun- damentaltheologie« als Reflexion der historischen wie gegenwärti- gen Praxis - bringt er gleich.zeitig einen wesentlichen Grundzug seines Theologieverständni~s zum Ausdruck.

Nach Dussels eigener Darstellung war seine 1967 veröffentlichte

»Kin:heogeschichte .. . eine historische Darstellung der kirch liehen Prrzris; sie war schon Fundamentaltheologie und begleitete die Theologie der Befreiung nicht nur, sondern baute sie mit auf und festigte sie« (1988a, 232). Die Aufarbeitung der Geschichte gehört für ihn also deshalb zur »Fundamentaltheologie«, weil es in ihr um die historische Praxis geht': »Die Geschichte des christlichen Ge- schehens in Lateinamerika, das heißt: jener Teil der Heilsgeschich- te, der sich auf unserem Erdteil abspielt, ist - weil er unabtrenn- bares Moment der einen Theologie ist - essentiell, wenn wir hier- zulande christlich denken wolJen. The ologisches Denken entsteht aus Praxis, und unsere Praxis ist lateinamerikanisch« (1988b, 39).

Aber in dieser fundamentalen Theologie geht es immer auch und rentral um die kritische Reflexion und Orientieru ng der gegen- wärtigen Praxis, des gelebten Ethos, also um Ethik. Doch bezieht sich die Befreiungsethjk Dussels nicht auf Praxis schlechthin: »Die Theologie der Befreiung setzt eine bestimmte Art von P raxis vor- aus, ohne die sie, da sie ja Reflexion ist, nicht existieren könnte.

Deswegen ist die »prima theologiate, die fundamentale oder erste Theologie • . . [der] Traktat über die Ethik, denn er klärt, be- schreibt und reflektiert theologisch die Praxis der Befreiung des Volkes, und zwar als ,Ausgangspunktc«

9

Da für Dussel ein Werk

»bei seinen Fundamenten, seinen Grundlagen, seiner Basis begon- nen werden« muß und für ihn diese Basis mit der Praxis identisch ist. stellt die theologische Ethik - als Reflexion gegenwärtiger Praxis (zusammen mit der Geschichte als Reflexion historischer Praxis) - i.die Fundamentaltheologie der Befreiungstheologie«

(1988a, 232) dar: »Der theologische Diskurs, der die Praxis be- schreibt, und zwar nicht nur deren Wesen oder grundlegende Struktur, sondern auch ihre gegenwärtige Situation - den Ort, von dem aus der Theologe seine Theologie treibt oder produziert -, (ist) die •prima theologia•« (ebd., 225).

1 .2. Die Auseinandersetzung mit Hegel als dem » Theologen der Unterdrückung«

Seine Studien bei Paul Ricoeur, die Lektüre der ethischen Manu-

skripte Edmund Husserls und der bestimmende Einfluß Martin

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Heideggers zogen Dussel zwar zunächst in den Bannkreis der euro- päischen Phänomenologie. Doch durch seine Begegnung mit der ersten Generation der Theologen der Befreiung

10

sowie mit latein- amerikanischen Soziologen und Ökonomen wurde ihm die Not- wendigkeit eines Bruches mit der Vorherrschaft nordatlantischer Denkansätze deutlich. Die II. Vollversammlung des lateinamerika- nischen Episkopats in Medellin (1968), die stark von der entste- henden Befreiungstheologie inspiriert war, und die mit den desar- rollistischen Entwicklungstheorien nordamerikanischer Herkunft brechende Dependenztheorie

11

unterstützten Dussels Neuorientie- rung. So wurden ihm die Grundlagen seiner bisherigen philosophi- schen Vorstellungen von Grund auf fragwürdig. Der Gedanke ei- ner von der Vormundschaft europäischen Denkens befreiten »Phi- losophie der Befreiung« begann in ihm zu keimen.

Mit seinem Werk über die »De-struktion« der Geschichte der Ethik (1970) legte Dussel dann erstmals seinen völlig veränderten Ansatz vor. Mit Hegel wandte er sich dabei nach seiner eigenen Einschätzung dem Repräsentanten europäischer Philosophie schlechthin zuu. Damit wurde der »große »Theologe der Unter- drilclcung• der Welt durch Europa« (1979, 654), dem es nach Dussel um eine die Moral des Bürgertums rechtfertigende Ethik ging (vgl. 1981a, 807), zum latent gegenwärtigen Antipoden seines Denkens. Alle übrigen abendländischen Philosophen würden von Hegels Kritik »verschlungen«, insofern sie als Momente im System der Hege Ischen Philosophie immer schon aufgehoben seien. »Alles ist einverleibt und begriffen, . .. nichts bleibt ungedacht« (Peter 1988, 127). Für Ander(s)heit

13

bleibt nach Dussel in diesem phi- losophischen System kein Platz.

Wie sehr Hegel diese Ander(s)beit ignoriert bzw . sogar negien,

zeigt sich für Dussel darin, daß Hegel in seiner Geschichtsphiloso-

phie der »Neuen Welt« ein geistiges Eigenleben abspricht und

lapidar feststellt, daß das, was von dort komme, doch »nur der Wi-

derhall der Alten Welt«

14

sei. Ähnliches wie für die Geschichtsphi-

losophie gelte aber auch für die Ethik Hegels. Der Weltgeist, d.h.,

die allgemeine Ethik der Weltgeschichte manifestiere sich in der

besonderen Moral eines bestimmten »mustergültigen« Volkes und

mache damit dieses Volk zum herrschenden (vgl. Hegel 1969ff.,

Bd. 7, 505f.): »Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegen-

wärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Gei-

ster der andern Völker rechtlos« (ebd., 506). Für Dussel gelangt

damit »das Urteil über die Partikularität der Moralen der verschie -

denen Völker in der Fetischisierung der Moral des weltbeherr-

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sehenden Volkes der jeweiligen Geschichtsepoche auf die Ebene einer universalen Ethik« (1981a, 807f.), d.h., die herrschende parti- kulare Moral maßt sich bloß Universalität an.

Nach Dussels Urteil befindet sich das europäische Denken ins- gesamt, besonders aber der Idealismus der Aufklärung, weithin in der Gewalt solcher herrschaftsstabilisierender Kategorien, die er als ideologischen Ausdruck des europäischen Willens zur Macht auslegt und daher destruieren möchte (vgl. Peter 1988, 391). Das europäische Subjektivitätsdenken, das sich neuzeitlich als tran- szendentalen Weltmittelpunkt setzte, habe sich politisch in den Strukturen der Herrschaft, der Eroberung und der Ausbeutung in- karniert (vgl. ebd.,392). Die Selbstverwirklichung dieses sich selbst setzenden und behauptenden Ich, dem der andere lediglich als Vermittlung des eigenen Zu-sich-selbs t-Kommens diente, führte konsequenterweise zur systematischen und methodisch durchge- führten Aufhebung der Ander(s)heit der anderenu, d.h. vor allem der Nichteuropäer (vgl. cbd.).

Daher hält Dussel die Befreiung der Theologie und Philosophie von dieser Herrschaftsideologie und damit von der Vormundschaft europäischen Denkens für die Bedingung der Möglichkeit einer eigenständigen lateinamerikanL,;chen Ethik der Befreiung

16

Diese Befreiung müsse der Theologie bzw. der Philosophie der Befreiung logisch und real vorausgehen 1 7 . Dazu greift Dussel in seiner fun- damentalen Hegel-Kritik gerade auf die Ander(s)heit der anderen zurück, also auf die Wirklichkeit des unterdrückten lateinamerika- nischen Volkes (vgl. ebd.), die europäischerseits oft genug aus ideologischen Gründen negiert worden sei

18

Der daraus hervor- gehende Ethik-Ansatz zielt darauf, das in der Geschichte noch Ungedachte zu denken: den unterdrückten Schrei der Armen nach universaler Gerechtigkeit und Befreiung (vgl. ebd.).

1.3. Levinas und die Exlerion"täl der anderen

Nachdem sich in der Anfangszeit der Philosophie der Befreiung

diese noch »innerhalb der metaphysischen und ontologischen Pro-

blemstellungen von Heidegger theoretisch anikuliert« hatte, stie-

ßen ihre Vertreter - und mit ihnen Dussel - sehr bald •mit Hilfe

des Werkes wn Herbert Marcuse« auf »die Grenzen und Wider-

sprüche der Heideggerschen Ontologie«

1' .

Entscheidend für Dus-

sels Kursänderung wurde aber das Werk »Totalitt et Infini« des

Phänomenologen Emmanuel Levinas

20

ihm verdankt Dussel den

Übergang zur »Exteriorität des Armen«

21

Die Armen wurden für

(8)

ihn zur »fundamentalen, politischen K.ategorie4< (1989b, 46), zum hermeneutischen Ort, von dem her er die Wirklichkeit im Ganzen neu zu interpretieren begann (vgl. Peter 1988, 392).

So wurde die »Exteriorität« zur wichtigsten Kategorie seiner Befreiungsethik

22:

»Die wesentliche Exteriorität des anderen, sein von der Totalität grundlegend verschiedener Charakter; wird nun der philosophische Ort par excellence« (Suarez de Miguel 1983, 77). Dabei versteht Dussel unter »Exteriorität« das, ))was es unter der Herrschaft des »Fürsten dieser Welt« nicht gibt und was sich auch nicht auf sie stützt. Das sind: der andere, der Arme, das Volk als sozialer Block der Unterdrückten, der Geist .. . und Gott selbst als der absolute Andere, der nie •Teil, eines Systems der Sünde geworden ist«

23

»Exteriorität« darf jedoch nicht als ein absolutes Außerhalb des Systems mißverstanden werden, sondern muß viel- mehr als »innere Transzendentalität« begriffen werden: als Über- steigen des Systems und seiner Totalität von innen heraus (vgl.

1989a, 62). In dieser Kategorie ist somit bereits eine Relation angelegt: Exteriorität bezieht sich auf die » Totalität«: diese » Welt«, die Ordnung des Fleisches, das reale bestehende System, die gel- tende »moralische Ordnung« (vgl. 1988a, 57). Totalität wird also nicht mehr im Sinne traditioneller Philosophie als »universal ver- standene Ganzheit« begriffen, sondern aus der Perspektive der anderen neudefiniert: als »die von außen her und als europäisch entlarvte Totalität« (1989b, 53).

Dussel bezeichnet dieses Denken im Unterschied zur dialekti- schen Subjektontologie Hegels als Meta-Physik: ein Denken des Jenseits (meta) bezogen auf den Horizont der Totalität (physis) (Peter 1988, 158), ein Ansatz, der von der Exteriorität des anderen, des Armen, der Frau, des Sohnes, des Bruders, des Volkes und - wie oben erläutert - auch Gottes ausgeht14. Der andere wird nicht mehr vom Ich her begrüfen, sondern er gibt sich von sich selbst her offenbarend zu verstehen. Das heißt, Dussel setzt der System- totalität die Exteriorität des anderen entgegen. Der andere itist die Alterität aller möglichen Systeme, jenseits des ,Selbst•, das die Totalität immer ist« (1989a, 57). So ist jenseits des europäischen Seinshorizontes nicht einfach nichts, sondern das bestimmte

»Nichts der Totalität«. Die Identität von Denken und Sein erwe.ist

sich als auf den europäischen Denkhorizont beschränkt, denn es

gibt Wirklichkeit jenseits (meta) des Horizontes dieses Denkens,

nämlich den Gerechtigkeit und Befreiung fordernden Unterdrück-

ten und Armen in der Exteriorität: »Der Andere offenbart sich mit

der ganzen Schärfe seiner Exteriorität als anderer ... , wenn er auf

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uns als der Arme und Unterdrückte einstürmt. Er ist derjenige, der am Rand der Straße, außerhalb des Systems, sein leidendes und deshalb herausforderndes Gesicht reigt: •Ich habe Hunger! Ich habe ein Recht zu essen!•« (1989a, 57).

Dabei geht Dussel mit der Betonung des analektischen Mo- ments der positiven (oder meta-physischen) dialektischen Methode neue Wege, die sich vermutlich aber an die Arbeiten von Juan Carlos ScannoneD und Bernhard Lakebrink (1955) anlehnen.

Dieses analektische Moment besagt, daß die Befreiungsethik Dus- sels nicht wie eine rein negative dialektische Vorgehensweise mit der Negation der Negation (also der Negation der Unterdrückung) beginnt, sondern »die Negation der Unterdrückung beginnt mit der analektischen Bejahung des Draußenseins des anderen, von dessen Befreiungsprojekt her sich die Negation der Negation und der Aufbau neuer Systeme vollziehen«

16

Das analektische Moment ist also die Affirmation der Exteriorität (vgl. 1989a, 174): eine tätige Affirmation, die mit dem Respekt vor den anderen sowie der Öffnung für die provozierende Forderung der Unterdrückten be- ginnt und sich selbst für die Verwirklichung ihrer Rechte einsetzt (vgl. ebd l73f.). Der Ausgangspunkt dieser Methode ist so zum einen eine ethische Opt ion für die Wiederherstellung der Würde der Umerdrückten und zum anderen eine konkrete historische Praxis, die danach sucht, den Unterdrückten Gerechtigkeit wider- fahren zu lassen (vgl. ebd. 173, 175).

Deutlich wird also die Bedeutung der Begegnung Dussels mit Levinas' »Phänomenologie der im Licht der Erlösung geschehen- den Verantwortung« (Casper 1984, 35), die »in Wirklichkeit die ur- sprünglich-fundamentale ethische Frage nach der dem Anderen geschuldeten Gerechtigkeit ist« (Fomet-Betanoourt 1989, 7). Diese Begegnung habe ihn aus dem »ontologischen Schlummer« geweckt und ihn zu der Erkenntnis der Ursprünglichkeit der Beziehung von Angesicht zu Angesicht gebracht sowie zur Entdeckung der ande- ren als unverfügbarer Epiphanie

27

Gottes (vgl. Peter 1988, 383), m.a.W. zur Ethik als »Primärphilosophiet( (1984a, 135).

14. Die andmn als die Annen: von Levinas zu Marx

Die Kritik Dussels am Ansatz Levinas', daß dieser die Exteriorität

des anderen eher phänomenologisch als von der politischen Öko-

nomie her denke (vgl. ebd.), kommt bereits von Marx her und

leitet zu diesem über'. Zwar exemplifiziere Levinas seinen Ansatz

durchaus mit Beispielen aus der erotischen, pädagogischen, poli-

(10)

tischen und religiösen Praxis

29,

»aber er spreche nie von der Be- freiung der Frau, des Sohnes und des Bruders. Er mache zwar die politischen Implikationen der Totalität deutlich, aber er äußere sich nicht philosophisch über eine Politik der Befreiung. Der ande- re werde hermeneutisch nie als Indio, Afrikaner oder Asiate ge- faßt«30. Dussel sieht daher seinen eigenen Ansatz geradezu als Überwindung der Position von Levinas. Er verdanke ihm zwar die

»unüberwindliche« (1989b, 46) Grundkategorie der Exteriorität . Da Levinas jedoch keine politische Ethik erarbeiten könne, biete er keine echte Lösung. Für Levinas sei der andere zwar Ruf nach Gerechtigk eit, eine Politik in seinem Dienste weise er jedoch zurück, da die Ethik wiederum einer Kriegs- und Unterdrückun~- moral weichen könne, was einer neuen Totalisierung gleichkäme.

Befreiung heißt für Dussel jedoch, dieses Risiko einzugehen, denn für ihn gibt es keine AlternatNC zur politischen Praxis im Dienste der Armenl

1

Die erste Philosophie muß für Dussel nämlich eine »Philoso- phie der Praxis der Befreiung« sein, gemäß der befreiungsphiloso- phischen Logik die »Politik«

32

der Ausgebeuteten selbst. denn in ihr werde die Ethik in besonderer Weise konkretisiert (vgl. 1989a, 184f.). Die Option für die Praxis der Befreiung ist für Dussel also der Anfang der Ethik als des philosophischen Protodiskurses: »Die Politik führt zur Ethik. welche zur Philosophie führt« (ebd., 187).

Damit ist aus der Auseinandersetzung mit Levinas der genuine Ansatz der Befreiungsphilosophie gewachsen und ihr Verhältnis zur Praxis und Ethik der Befreiung bestimmt.

Die Hinwendung zur Marxschen Philosophie, Geschichts- und Gesellschaftstheorie verhilft Dussel dabei zur materialen Füllung und Weiterentwicklung der Levinasschen Begrifflichkeit, besonders bei der Interpretation der anderen als der Armen: »In der Exterio- rität, wie sie bei Levinas, bei Marx und in der Philosophie der Befreiung verstanden wird, existiert der Arme als Individuum, als Marginalisierter, als Eingeborener , als Volk und Nation, die zum Tode bestimmt sind. Dank den vermittelnden Kategorien von Marx hört der Arme auf, der abstrakte Arme zu sein, wie Levinas ihn sieht, und kann in das konkrete Subjekt transformiert werden«

(1990a, 85f.).

Darüber hinaus e rmöglicht die kritische Marx-Relecture Dussel.

die Probleme der ökonomischen Dependenz und des Verhältnisses

von Technik und Kultur auf den Begriff zu bringen und die Ka-

tegorien »Klasse« und » Volkcc zu fassen (vgl. Fornet-Betancourt

1989, 9). Dussel teilt mit Marx dessen Verständnis des » Volkes«

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als »Mehrzahl von Armen« (1989b, 50): »Die periphere Nation als Totalität ist nicht das Volk, sondern das Volk sind die unterdrück- ten Klassen ... , welche manchmal nur ein Teil der Nation sind«

(1989a, 87). Des weiteren verdankt er Marx die Kategorie der

>tbedOrftige{n} Leiblichkeit« als Leitfaden für die Radikalisieru ng des philosophischen Denkens (vgl. 1989b, 51). So wird Hegel-Schü- ler Marx zum Gegenpol des »Theologen der Unterdrückung«: »Es kann in der Tat gesagt werden, daß durch die Auseinandersetzung mit Marx in Hinblick auf eine adäquate Erörterung der Artikulie- rung der Klasse im Volk die Befreiungsphilosophie in Marx einen Befreiungsphilosophen entdeckt hat« (ebd., 50).

Auf die Mancsche Gesellschaftsanalyse zurückgreifend, will Dussel in seiner »Ethik der Gemeinschaft« aufzeigen, »wer die Armen sind, wie sie in diese Situation geraten sind und auf welche Weise ihre Armut sich konkret zeigt« (1988a, 231). Damit soll die Bedingung der Möglichkeit für einen theoretisch-theologischen Diskurs der Befreiung in prophetisch-kritischer Absicht erfüllt werden (vgl. ebd.). Im zweiten Teil dieses Werkes, der sich aktu- ellen »Quaestiones disputatae« zuwendetll, gelangt Dussel so zu einer konkreten, in eine modifizierte marxistische Terminologie gefaßten Entdeckung der Armen: »Konkret und historisch ist der Arme der Arbeiter, der an seiner Arbeit beraubt wurde ... ; es sind die armen Nationen, denen strukturell Mehr-Leben entzogen wird, die durch die transnationalen Konzerne verarmt und vom ROstungswahn betroffen sind; es sind die Schuldner unverantwortli- cher Kredite, die im Namen der Moral Vergewaltigten, die Arbei- ter, denen ihre gerechten Rechte im Namen einer totalen Planung vorenthalten werden, die einfachen Bürger der heutigen Welt, deren Erde und Kultur ökologisch zerstört wird.«

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Zusammenfassend läßt sich mit Dussel festhalten, daß Levinas und Marx »durch die •re-lecture• der Philosophie der Befreiung aktualisiert, weitergeführt und verändert (werden), aus der Per- spektive der konkreten Wirklichkeit des Elends in Lateinamerika«

(1990a, 84).

2 Dussels Befreiungsethik als christliche Gesellschaftsethik

Nachdem Dussels Ansatz einer lateinamerikanischen Befreiungs-

ethik in groben Umrissen vorgestellt worden ist, soll nun der Frage

nachgegangen werden, welchen Beitrag er zur systemmatischen

Grundlegung der heutigen christlichen Gesellschaftsethik leisten

kann.

(12)

Zunächst setzt sich Dussel von einem bestimmten Typos von

»Moral« ab. Die Ethik der Befreiung »ist etwas völlig anderes als die von bestimmten christlichen Forderungen aus reformierte Mo- ral«, die Exzesse vermeiden wolle, dabei aber die Grundlagen der bürgerlichen Moral anerkennelS. Sein Ansatz will hingegen eine

»sachgerechte Antwort auf die Herausforderungen bieten, welche aus der Unterwelt der Verarmten laut werden« (Moser/1...eers 1989, 81). Es ist vor allem dieser Schrei der Armen und Unter- drückten nach Gerechtigkeit, der Theologie und Ethik dazu auffor- dert, neue Wege im Dienst an ihrer Befreiung einzuschlagen: »Aus dem Nicht-Sein entsteht die Möglichkeit ... neuer wissenschaftli- cher und politisch-ökonomischer Paradigmen, neuer .Begründungen und argumentativer Inhalte, welche der alten Gemeinschaft un- möglich zu erreichen sind« (1990a, 77).

2.1. Der Anspruch einer absolulen und dennoch konkreten Ethik

Wenn Dussels Beitrag zur GeselJschaftsethik als der rational-me- thodischen Suche nach allgemein gültigen Aussagen über das gute und gerechte Handeln im sozialen Kontext untersu cht werden soll, so muß sein Ansatz vor allem seine wissenschaftliche und spezifisch ethische Kompetenz erweisen, die ja - wie eingangs erwähnt - euro- päischerseits verschiedentlich bestritten wird. Dabei wird von einer solchen normativen Ethik zum einen die kritische Prüfung herr- schender >>Moralen<< und zum anderen die rationale Begründung sittlich richtigen Handelns verlangt.

»Ethib und »Moral«

In seiner »Ethik der Gemeinschaft« stellt sich Dussel die Aufgabe, das »Absolute« in der Ethik, »das, was weltweit für alle Epochen und Umstände gültig ist« (1988a, 107), theologisch zu bedenken.

Zunächst unterscheidet er aus heuristischem Interesse: »Mit Ethik bezeichnen wir die Ebene der für jeden Menschen in jeder ge- schichtlichen Situation gültigen praktischen Forderungen. Wenn die Weltgeschichte als ganzes eine ist, so ist auch die Ethik eine.

Unter Moral hingegen verstehen wir die konkrete Ebene, die auf ein geschichtliches System beschränkt bleibt ... Wie es eine Viel- falt geschichtlich-konkreter Totalitäten und darüber hinaus ver- schiedener Epochen gibt, so ist es eine historische und soziologi- sche Tatsache, daß es viele Moralen gibt« (1981a, 807). In seiner

»Ethik der Gemeinschaft« verleiht Dussel dann den Wortgruppen,

die um die beiden Begriffe »Moral« und »Ethik« gebildet werden,

(13)

einen stärker wertenden Charakter: »In diesem Buch beziehen sich (a) die Wörter »Moral« und >>Moralität« etc. - die lateinischen Ur- sprungs sind - zunächst auf das praktische System der geltenden, etablierten Ordnung, die an der Macht ist. (b) Die Wörter •Ethik«,

»Ethizität« etc. - beide griechischen Ursprungs - bezeichnen da- gegen die zukünftige Ordnung der Befreiung, die Forderungen der Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten sowie deren geschichtliche oder eschatologische Stellung im Heilsplan. So kann etwas •moralisch• sein , aber nicht ,ethisch•, und umgekehrt«

{1988a, 37).

Es geht Dussel jedoch nicht um die grundsätzliche Aufhebung moralischer Systeme

36,

denn die Moral ist die Kulturwerdung, die Konkretion der praktischen Verhältnisse

37,

Vielmehr geht es ihm um die Herausstellung der »Ethik« als regulativer Idee, d.h. als des Kriteriums, von dem her jedes bestimmte geschichtliche »Moral- system« einer kritischen Beurteilung unterzogen wird. Dabei wird das Unterdrückerische und Ungerechte an ihm aus einer bestimm- ten Perspektive heraus kritisiert: »vom Armen in dem jeweiligen System aus« (ebd., 115). »Ethik« umfaßt somit für Dussel die For- derungen, »die den Horizont der bestehenden , geltenden und herr- schenden moralischen Ordnung übersteigen« (ebd., 110} .

Der 11kaJegorische Imperativ " (kr Befreiungse1hik

In Dussels Konzept findet sich ein oberstes, absolutes ethisches Prinzip, aus dem sich die Kriterien und Normen der ethischen Urteilsbildung ableiten lassen. Dieses vermag seiner Ansicht nach die »Begründung einer für jede beliebige moralische Situation gültigen Ethik« (1981a, 810) zu leisten: »Die christliche Ethik, die Praxis, welche die Praxis Christi nachahmt. hat ihren Ort in der Beziehung der Handelnden selbst"' ... und bejaht diese oder lehnt sie ab, unterstützt sie oder verändert sie aufgrund des absoluten Kriteriums: ,Befreie den Armen, den Unterdrückten!•« {1980, 742). Dies ist das erste, »absolute«, stets gültige und doch konkrete Prinzip der Befreiungsethik, ein lmperativ der praktischen Ver- nunft (vgl. 1988a, 64) . Dieser Maßstab ist für Dussel nicht nur es.5entiell biblisch und christlich, sondern »das rationale kritische Kriterium schlechthin« (1981a, 811), ein »ethischer«, also ein »ka- tegorischer«, »absoluter« sowie »allgemein« bzw. »stets gültiger«

lmperativl'i, und nicht eine »moralische«, »partielle« bzw. »partiku- lare« Handlungsanleitung, die sich nur Universalität anmaßt.

»Ethisch« ist diese Forderung. weil sie »transmoralisch, system-

übergreifend ist, von der Exteriorität des Andern, des Armen, des

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Unterdrückten herkommt« (1981a, 811). Dahinter steht »die Ach- tung der Würde oder der Heiligkeit der menschlichen Person, und zwar überall und jederzeit« (1988a, 84).

Dabei wird die allgemeine GOltigkeit dieses »ethischen« Prin- zips mit der Absolutheit bezüglich seiner reitliehen wie auch seiner räumlichen Ausdehnung begründet: »Jedes geschichtliche System hat seine Unterdrückten!« (1981a, 811) So lange wir uns noch in der Zeit der menschlichen Geschichte befinden und nicht in der des schon verwirklichten Reiches, »jenseits der Parusie« (1980, 741), so lange gibt es Sünde

40

und damit immer auch Unterdrückte und Arme (vgl. ebd. 83, 108, 110), denn der Arme »ist das Ge- genstück der Sünde, ihr Ergebnis« (ebd., 32). Es ist also die Unab- schaffbarkeit der Disposition zur Sünde, aus der für Dussel je neu die Sünde in Gestalt von Armut und Unterdrückung hervorgeht.

die die Allgemeingültigkeit des Imperativs begründet und jeden hi- storischen Entwurf unter den »eschatologischen Vorbehalt« Gottes stellt. Damit scheint auf dieser Ebene die Gefahr eines ethn07.Cn- trischen Fehlschlusses in der Ethik gebannt.

Mit seiner Formulierung eines »letzten Moralprinzips« erhebt Dussel den Anspruch, neben der Kontextverhaftung auch den zwei- ten zentralen Mangel aller bisherigen »Moralprinzipien«, den der Inhaltsleere, überwunden zu haben (vgl. 1981a, 810f.): »•Befreie den Armen!, hat auch einen sinnlichen, fleischlichen, materiellen Inhalt. Es handelt sich darum, dem Hungernden Essen, dem Nack- ten KJeidung, dem Fremden Wohnung zu geben« (ebd, 811). So ist das »ethische« Prinzip trotz seiner »Absolutheit« für Dussel dennoch nicht »abstrakt«, sondern »konkret«•

1

Dabei soll diese bi- blisch inspirierte inhaltliche Füllung die Materialität des Prinzips verdeutlichen und nicht etwa von vornherein die notwendigerweise kontextbezogene Umsetzung in »ethische« Forderungen dogma- tisch fixieren.

Die notwendige Konkretion

Trotz Andeutung der Materialität des »absoluten« Kriteriums geht es Dussel gerade darum, es für die weitere Konkretion und Kon- textualisierung offenzuhalten. Denn »dieser Anne, hier und jetzt, ist eine konkrete Person« (1988a, 85); er itist anders als jeder andere Arme (denn der Leibeigene ist ja kein Lohnarbeiter)« (ebd., 113).

Auch die ethischen Prinzipien haben deshalb konkret zu sein. Ob-

wohl Dussel auch Prinzipien nennt, »die aus dem gemeinschafts-

ethischen Prinzip abgeleitet sind« (1988a, 83) - Recht auf Arbeit,

auf den Besitz und Konsum der für den Lebensunterhalt der Fami-

(15)

lie no~ndigen »materiellen« Güter, auf »kultureUe« Güter (Wis- senschaft, Kunst, Information) - , bedarf seine Befreiungsethik, die auf die Verwirklichung der Menschenrechte zielt (vgl. 1988a, 83f.), natürlich noch konkreterer Vermittlungen: »Die Liebe zum Näch- sten, zum anderen als anderem, ist das neue Gesetz, das ethische und gemeinscliaftliche Gesetz par excellence. Doch die Erforder- nisse oder konkreten Inhalte des neuen Gesetzes sind nicht ein für allemal festgeschrieben. In jeder neuen Situation können sie einen neuen (was nicht heißt: jeden beliebigen, AL] Inhalt b-!kommen«

(ebd., 84). Dabei erscheint die Möglichkeit, daß die ethischen Prinzipien wieder in eine rein •gesellschaftliche Moral« zurückfal- len können, als ein weiterer Ausdruck ihres konkreten und ge- schichtHchen Charakters {vgl. ebd., 66, 85).

Das ,-e1hische« Gewissen

Aus der Tatsache, daß das Prinzip konkret und geschichtlich ist, folgt die dringende Aufgabe, ,,immer wieder diese ,neuen• Armen hier und jetzt zu entdecken« (ebd., 86); dies sei das Eigentliche des ethischen Bewußtseins (vgl. ebd., 64, 47f.): »Ein ethisches Bewußt- sein/Gewissen (span. : conciencia; AL] . .. zu haben bedeutet, sich dem anderen zu ,öffnen, und ihn ernst zu nehmen. es heißt Ver- Antwortung für den anderen angesichts des Systems« (ebd., 48).

Damit kritisiert Dussel die Fixierung des Gewissens auf das solipsi- stische Ego, auf die eigene innere Stimme und will es aufbrechen für ein Hören auf die Stimme der anderen-0.

2.2 Die Neubestimmung der Perspektive der ethischen Reflexion Bevor nach dem Ort und den Subjekten der Konkretion gefragt wird, soll zunächst untersucht werden, wie die Befreiungsmaxime als »kategorischer Imperativ« die Perspektive der Dusselschen Befreiun~ethik prägt.

Paneinahme für die Subjektwerdung der Armen

Was Dussel als Ausgangspunkt der Philosophie der Befreiung be- nennt, steht ohne Zweifel am Anfang seines gesamten theoreti- schen Diskurses, nämlich eine »ethisch-politische Option zugunsten der Unterdrückten in der Peripherie« (1989a, 189). Diese Grund- entscheidung setzt jedoch gegenüber der »Option für die Armen«

noch einen Schritt voraus, und zwar den Schritt »von dem Armen,

der Klasse, dem Volk als Objekt einer •Option für, (ich [Sub-

jektivität!] optiere für einen anderen) zu der Bestätigung des Ar-

(16)

men, der Klasse, des Volkes als ,Subjekt• der Kirche und der Geschichte« (1987a, 56). Diese »Subjektivierung der Armen selbst«

(ebd., 58) bedeutet für Dussel, daß diejenigen , für die man objektiv optien, in einer Kirche der Armen zu EvangeJisatoren und in den lateinamerikanischen Gesellschaften zu Subjekten eines möglichen Befreiungsprozesses werden (vgl. ebd.).

Denken heißt Dienen

So wie diese ethisch-politische Option am Anfang des Dusselschen Denkweges steht, so steht auch sein Denken als Ganzes im Dienst an einer Befreiung der Armen: »Dienst ist eine Arbeit ... , die für den Anderen, für dessen Befreiung und aus Verantwortung getan wird. Sie ist eine innovatorische Aktivität, die die Instrumente im Dienst an den Armen einsetzt« (1989a, 79). Die Philosophie der Befreiung als ein Instrument zur Entdeckung und Darstellung aller Momente der Ungerechtigkeit (der Negation, der Exteriorität) stellt sich in diesem Sinne in den Dienst der Armen, der Unter- drückten und ihrer befreienden Praxis (vgl. ebd., 192): »Weil das Elend für die Mehrheit unseres Volkes eine unumstößliche Tatsa- che ist, sucht die Philosophie der Befreiung nach einem angemes- senen philosophischen Diskurs über die Dinge, die diese Realität so beschwerlich machen. Wenn das Elend einmal verschwunden sein wird, dann wird die Philosophie der Befreiung sicherlich mit dem Elend verschwinden. Aber solange dieses Elend bedauerli- cherweise existiert, muß diese Wirklichkeit ohne Ausweichen und Wegsehen bedacht werden« (1990a, 91f.).

Wahl der Themen und Problemstellung

Dieses Theorievcrständnis verpflichtet Dussel auch bei der Aus- wahl seiner Themen sowie der jeweiligen Problemstellung. Der Philosoph müsse zwar über alle Themen reflektieren können, angesichts einer Überfülle von möglichen Themen sei es unter der Bedingung der Zeitknappheit jedoch nötig zu wissen, wie man

»sekundäre Themen beiseiteschiebt, die zwar modisch, aber über-

flüssig und unnötig sind, die nichts mit der Befreiung der Unter-

drückten zu tun haben« (1989a, 190). Den Weg zu den fundamen-

talen Themen der Epoche weisen für Dussel die Kämpfe des Vol-

kes und der unterdrückten Klassen in der Peripherie. Deshalb ist

das Hören auf ihre Stimme als Annahme der Aufforderung, Ver-

antwortung zu übernehmen und für die Unterdrückten einzustehen

(vgl. ebd., 75), unabdingbare Voraussetzung dieses Prozesses der

Themenfindung (vgl. ebd., 190).

(17)

Die Penpeklive des Denkens

Nicht nur die Themenausmzlt/ ist den Armen verpflichtet, auch der Blickwinkel, aus dem sieb Dussel diesen Themen nähert, ist der der Armen - »sub pauperum lumine, von den Armen aus<< {1988a, 138): »Die Befreiungsethik besteht in einem Neudurchdenken der Gesamtheit der Moralprobleme aus der Sicht und den Forclerun- gen der » Verantwortung« für den Armen, für eine geschichtliche AJtemative, die es erlaubt, in Ägypten zu kämpfen, während der Übergangszeit in der Wüste zu wandern und das (geschichtliche) verheißene Land aufzubauen, .. . das stets gerichtet werden wird durch das eschatologische Land, das über jede geschichtliche Mög- lichkeit, es materiell hervorzubringen, hinausliegt« (1984a, 137).

Die Wirklichkeit mit den Augen der Armen zu sehen ist also bereits der Ansatzpunkt für die Befreiung (vgl. Penner 1989, 34).

Ja, um die Offenbarung überhaupt hören, um glauben und unter- scheiden zu können, welche Praxis »Orthopraxis« ist, muß man - so Dussel - den Standpunkt der Armen einnehmen (vgl. 1988a, 231).

So werden die Armen für Dussel zum hermeneutischen Ausgangs- punkt des neuen Diskurses von der Peripherie aus; als Epiphanie Christi sind sie der Ort, von dem aus eine authentische christliche Praxis ihren Anfang nimmr3: »Die Ethik ist eine Optik, so heißt es schon bei Emmanuel Levinas« (Penner 1989, 35).

Die Annen als Kriterium

Die ethische Kritik besitzt für Dussel trotz aller inhaltlichen Offen- heit eine Konstante, nämlich ihren Beweggrund: »Der Arme in diesem .. . System ist der Seliggepriesene. Er ist das Kriterium dafür, ob die Institutionen gut sind oder schlecht. Dabei darf nie vergessen werden, daß der Arme hier und jetzt Christus selbst ist.c (1988a, 113). Aber die Armen sind für Dussel nicht nur Maßstab bestehender Strukturen und Einrichtungen, sondern auch der befreienden Praxis

44

und ihrer Reflexion.s.

23. Die Neubestimmung der Subjekle des Befreiungshandelns und seiner Reflexion

Dussel weist die Letztverantwortung für die Konkretion des seine ganze Befreiungsethik durchdringenden »obersten Prinzips« den

»christlichen Gemeinschaften« zu

46

Niemand kann ihnen ihre Ent- scheidung abnehmen oder ihre politische Praxis ersetzen (vgl.

1988a, 217).

(18)

Subjekte der Befreiungsproxis

Aus dem Kampf gegen das Elend und aus der Befreiungspraxis heraus, so Du~I, werden ethische Forderungen als »Projekt der Befreiung« artikuliert. »Das Subjekt einer solchen realen Befrei- ungspraxis wird definitiv der Arme sein (der Arme im Singular, das Volk im Plural), der Unterdrückte, der Ausgebeute te« (1990a, 90).

Jedoch kommt bei der Befreiung als dem Werk der Unter•

drückten auch der kritischen Vernunft »organischer lntellektuel- ler«47 eine entscheidende Bedeutung zu (vgl. 1989a, 110). Denn nach Dussels Einschätzung kann sich das Volk nicht allein befrei- en, da es durch das System mit seiner Massenkultur vergiftet wird

411

Die Aufgabe der »organischen Intellektuellen«, aber auch der kritischen Gemeinschaften oder politischen Parteien besteht deshalb für Dussel darin, dem Volk zu helfen, eine kritische Ver- nunft zu erlangen und introjizierte imperialistische Kultur von Resten kultureller Exteriorität (als dem Maximum möglicher Kri•

tik. allerdings ohne aktuelles Bewußtsein) zu unterscheiden (vgl.

ebd.). Um jedoch der Gefahr elitärer und beherrschender Erzie- hung49 zu entgehen (vgl. ebd., 111), müsse die »organische« Ver- wurzelung der Intellektuellen eine »wirkliche Inkorporation in die Institutionen des Volkes« (1989b, 48) beinhalten. Hier tritt der entschiedene Theorie-Praxis-Zusammenhang des Dusselschen Ansatzes (vgl. 1988a, 225) besonders deutlich zu Tage. Da die Praxis für Dussel (wie wir oben sahen) der Ausgangspunkt jeder Theologie ist, prägt sie auch als Ort, Situation und Kontext die Theorieproduktion der Theologen.

Subjekte der ethischen Refle.:ci.on

Für die Frage nach dem Subjekt der Reflexion ist jedoch nicht nur das Verhältnis Volk • Intellektuelle von lntere~e. Eine Interpreta•

tion des Dusselschen Ansatzes als einer Gesellschaftsethik hat darüber hinaus nach seiner Verhältnisbestimmung wn biblischer Botschaft, ethischer PraxisreOexion der handelnden Christen bzw.

ihrer Gemeinschaften, lehramtlicher Sozialverkündigung und fachli- chem Diskurs zu fragen.

Die grundlegende Instanz bildet für Dussel das Evangelium.

Auf einer konkreteren Ebene setzt dann die wandelbare und ge-

genüber der bibUschen Botschaft relative lehramtliche Sozialver-

kündigung ein, die aber noch so allgemein gehalten ist, daß sie

zwar eine wichtige Orientierung für die Gemeinden darstellt, aber

unter keinen Umständen an die Stelle ihrer überlegten, personalen

und verantwortlichen Analyse treten kann. Den zweiten Bezugs-

(19)

punkt für diese Gemeinschaften bildet (neben der nicht zu unter- schätzenden Vorbildfunktion von Menschen aus ihren eigenen Reihen) der wissenschaftliche Diskurs, auch wenn dieser ebensowe- nig »die ständige und konkrete ,revision de vie,, die Revision des Lebens der christlichen Gemeinde ersetzen kann.« (ebd., 219) Denn bewgen auf de. ren Praxis ist die theologisch-praktische Theorie für Dussel eine sekundäre Reflexion, die allerdings tak- tische und strategische Perspektiven eröffnet (vgl. ebd., 220).

2.4. Die Neubestimmung des Theorie-Prrws-Verhällnisses

Am Beginn der philosophisch.ethischen ())Primärphilosophie«) und theologischen Überlegungen (»Fundamentaltheologie,<) Enrique Dussels steht also die Option für die befreiende Praxis. Sein Her- angehen an die Geschichte Lateinamerikas sowie sein Ansatz bei der philosophischen und theologischen Ethik verweisen dabei auf die Relevanz der Praxis in ihren drei Zeitdimensionen.

In der für das Denken konstitutiven Rolle der Praxis sieht Dussel nicht nur die Entstehung kontextueller Theologien begrün- det (vgl. 1988a, 226). Darüber hinaus entscheidet die historisch- konkrete Praxis - mit ihrer immer relathenlll, jedoch grundlegend bestimmenden Wirkung auf das Leben der Theologinnen, ihre Kommunikationszusammenhänge, die von ihnen vertretenen Inter- essen. (mit) darüber; ob sie eine »Theologie der Herrschaft« oder eine »Theologie der Befreiung« formulieren. Denn »jede Theorie, jede Theologie (setzt) eine Praxis vonws, die sie (wenn auch nicht absolut) determiniert« (ebd., 233). Diese Erkenntnis kann dem gefährlichen Fehlschluß vorbeugen, eine bestimmte Theorie sei im Besitz des »absoluten Wissens« oder einer unwiderlegbaren Wahr- heit (vgl. ebd.).

Die sich daraus ergebende Bestimmung des Theorie-Praxis-Ver- hältnisses ist geradezu eine Umkehrung der traditionellen Verhält- nisbestimmung: »Die ,wahre Lehre• (griechisch: orthodoxia) ergibt sich aus der ,authentischen Praxis• (orthopraxis) und wird durch diese bestimmt« (ebd., 227). Dabei versteht Dussel unter »Ortho- praxis« als dem echten bzw. der jev..eiligen Situation entsprechen- den Handeln »das Handeln der Kirche in ihrer Gesamtheit als Volk Gottes ... als Universalkirche, als Ortskirche und - für das verbindliche, konkrete Bewußtsein und Gewissen des einzelnen - als Basisgemeinde« (ebd., 227f.).

Das absolute Kriterium dieser authentischen Praxis ist dabei das

Wort Jesu: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben«

(20)

(1978, S93). Von daher ist christliches Handeln immer schon ziel- gerichtet - bestimmt durch das »Projekt der Befreiung«, die »kon- ktete Utopie der Armen, der Unterdrückten« (1990a, 87). Die

»Interpellation« des Armen, ~leb habe Hunger \ ich fordere Ge- rechtigkeit! «, bricht in die reale Kommunikationsgemeinschaft ein und sucht nicht primär eine mögliche Verständigung, sondern etwas, das ihr vorausgehen muß: »Sie fordert die absolute tran- szendentale Bedingung der Möglichkeit jeder Argumentation ein:

sie sucht das Anerkannt-Sein in ihrem Recht als Person« (ebd., 86).

Die Befreiungspraxis, die reformistisch oder revolutionär sein kann (vgl. ebd., 91), unternimmt deshalb - unter Mitwirkung der Armen und Unterdrückten - die Negation der Negativität des Hungers aus der Affirmation der Exteriorität (vgl. ebd., 76ff.).

Die Art, wie hier Theorie und Praxis aufeinander bezogen werden, verdeutlicht somit, warum die befreiungsethische Reflexion - im Sinne einer Theorie, »der eine Praxis vorangeht, die sich dem System als ganzem widersetzt«

52, -

erst der zweite Schritt sein kann.

3. Befreiungsethik im wissenschaftlichen Bezugsrahmen 3.1 . Befreiungsethik und Sozialwissenschaften

Angesichts der Komplexität der Probleme heutiger Gesellschaften muß nun noch geklärt werden, wie dieser zweite Schritt ethischer Reflexion zu den für die Beurteilung unverzichtbaren Sachinforma- tionen gelangt. Die Befreiungstheologie hat immer mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß sie auf die Sozialwissenschaften als kate- goriales Instrumentarium für die Gesellschaftsanalyse rekurriert.

Für Dussel hat dieser Rekurs die Art des Theologietreibens revolu- tioniert (vgl. 1988d, 7), wobei allerdings die Philosophie der Befrei- ung als Vermittlung zwischen Theologie und Sozialwissenschaft dient. Der Befreiungsphilosophie weist Dussel dabei die Aufgabe zu, die von den Sozialwissenschaften verwendeten Kategorien zu begründen , womit sie indirekt auch zur Grundlegung des sozial- analytischen Instrumentariums der Befreiungstheologie beizutragen vermag (vgl. ebd., 8f.).

Die Rolle der Sozialwissenschaften ist also bei Dussel auf der

Ebene der sozialanalytischen Vermittlung angesiedelt. Die Befrei-

ungstheologen benutzen sie, um die Wirklichkeit der Armen (im

Sinne der biblischen Kategorie) »als konkrete Wirklichkeit zu erhel-

len, ausdrücklich zu machen und zu erklären« (1988a, 233). Dussel

ist im Blick auf seine Grundanliegen - die Entdeckung der Armen

(21)

in ihren spezifisch lateinamerikanischen Erscheinungsweisen sowie die Analyse der Strukturen, die ihren Hunger verursachen - un- abdingbar auf die Sozialwissenschaften angewiesen. Als Erhellung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation der Armen ermöglichen sie somit der Theologie, ihr sie bestim- mendes Fundament, nämlich die Praxis der Armen, klarer zu er- fassen (vgl. ebd., 232).

So wird auch bei Dussel die sozio-ökonomische Analyse zum integrierten Bestandteil der theologischen Theoriebildung (vgl.

Füssel 1985a, 202). Dabei greift er gemäß dem »Modell konver- gierender Optionen« auf die Positionen in den lateinamerikani- schen Sozialwissenschaften zurück, die die methodischen und inhaltlichen Optionen der Befreiungstheologie teilen (vgl. 1989a, 183-186). Besondere Bedeutung erlangt hier die marxistisch in- spirierte Theorie der Dependenz", die allerdings - so Dussel - in ein reales, konkretes, historisches Konzept übertragen werden müsse, um nicht zu einer Ideologie zu erstarren (vgl. ebd., 185).

3.2. Befreiungsethik und Theologie

Verkörpert für Dussel (wie bereits in 1.1. herausgestellt) die Be- freiungsethik den theologischen Protodiskurs, die »Fundamental- theologietc, so gründet die damit ausgesagte Verbindung von Ethik und Theologi e letztlich in der konstitutiven Bedeutung der Praxis für jegliche Theoriebildung (- 2.4.). Weitere Bindeglieder zwischen Ethik und Theologie sind bei Dussel die These der »Einheit von Nächsten- und Gottesliebe« sowie insbesondere das Bekenntnis zu der Offenbarung Gottes in den Armen. Diese Armen sind für Dussel Christus hier und jetzt; sie sind der » Wegtc, der es uns ermöglicht, den wahren Gott als den Gott der Armen zu entdek- ken und über ihn zu sprechen (vgl. 1988a, 231).

Wie die traditionelle Fundamentaltheologie in ihrer ersten Frage sucht auch Dussel nach den Möglichkeitsbedingungen der Offenbarung, die hier als Einspruch des Anderen, der von jenseits der Welt, der Totalität hereinbricht, verstanden wird. » Wesentlich kann Gott sich >durch, den Armen offenbaren, durch dessen

►Vermittlung«. Der Arme ist der Ort der Epiphanie Gottes« (ebd., 224). Dadurch wird das Hören auf die Stimme, auf die itlnterpella~

tion« des Armen, zur Bedingung der Möglichkeit für die Gegen- wart der Offenbarung Gottes (vgl. Peter 1988, 241).

Die zweite fundamentaltheologische Frage nach der Glaubwür-

digkeit zielt auf die Voraussetzungen für den Glauben. Unter den

(22)

Bedingungen Lateinamerikas sind dies für Dussel „Atheismus« und Antifetischismus gegenüber dem Götzen des Systems sowie Über- nahme der Ver-Antwortung für die Armen in der orthopraktischen Antwort des Samariters (vgl. 1988a, 47.224f.): ,.Die befreiende Praxis - verstanden als Liebe und als Dienst am anderen - ist also Bedingung des Ankommenkönnens des Wortes Gottes im Ich . . . . In diesem Sinn ist die be. freiende Praxis locus theologicus, und aus diesem Grund besteht eine unlösbare Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.«~ Das ist die Begründung dafür, warum für Dussel eine gerechte Wirtschaftsordnung gleichbedeutend ist mit dem Gottesdienst am Unendlichen: • · •. dem Hungernden und dem Armen Brot geben, sich fQr die Schutzlosen und Witwen, die Ein- samen und Waisen einzusetzen, das ist die Liturgie für das Ab- solute« (1989a, 120). So schließt sich der Bogen von dem Beden- ken der Offenbarung zum Bedenken authentisch christlicher Praxis, von der Theologie zur Ethik: » ..• der Arme, seine Befreiungs- praxis ... (ist) das grundlegende, primäre Moment. Die Ethik kommt danach, doch indem sie an erster Stelle die absolute Prio- rität des Armen bekräftigt: dieses armen Menschen, in dem sich als Anruf und absolute Verantwortung Christus, der arme, Gott selbst enthillJt« (1984a, 138f .). Befreiung durch Solidarität - so läßt sich mit Peter Penner das Programm dieser Theologie zusammenfassen (vgl. Penner 1989, 33).

4. Dussels Beitrog zu einer christlichen Gesellschaftsethik im millel- europäischen KonJexJ

Es kann im Rahmen dieses Bandes nicht um eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Enrique Dussels ge- hen". Hier sollen nur einige Überlegungen darüber angestellt werden, welche Anregungen und Herausforderungen seines An- satzes für eine christliche Gesellschaftsethik im mitteleuropäischen Kontext fruchtbar gemacht werden können. Zuvor sollen allerdings einige nicht unproblematische Aspekte seines Entwurfs zur Sprache kommen.

In bezug auf die Rezeption »theologiefremder Elemente« ist

dabei vor allem seine zwar als kritisch charakterisierte, aber von

allen Bestreihmgen scheinbar nicht irritierte Option für die De-

pendenztheorie und den Marxschen Erklärungsansatz kapitalisti-

scher Ökonomien (Arbeitsworttheorie) zu nennen. Bezogen auf die

Begrifflichkeit erschwert Dussels stellenweise zu freie Verwendung

vorgegebener Kategorien und die für Nichteingeweihte nicht im-

(23)

mer nachvollziehbare Neudefinition das Verständnis seiner Texte.

Die gleiche Folge hat das Nebeneinander von sozialanalytischer und theologischer Sprache bei Dussel immer dann, wenn die bei- den entsprechenden Deutungen ein und desselben Sachverhalts nicht klar genug auseinandergehalten werden (z.B. Dependenz- S1inde ).!6. Des weiteren birgt die stark dialektische Begrifflichkeit (Totalität-Exteriorität, Gesellschaft-Gemeinschaft, Moral-Ethik, Kapital-Arbe . it, Herrschaft-Befreiung, Zentrum-Peripherie, Reiche- Arme, Sünder-Gerechte usw.) die Gefahr, daß die Dialektik selbst wie die zwischen ihren Polen liegende Wirklichkeit von den Adres- saten übersehen und in einem dualistischen Sinne mißverstanden wird.

Zwar verweist Dussel auch gegenüber der Befreiungspraxis der Armen auf die Notwendigkeit kritischer, in den »organischen In- tellektuellen« verkörperter Vernunft, dennoch zeichnet sich seine Befreiungsethik durch eine gelegentlich idealisierenden Sicht der Armen (vgl. Fornet-Betancourt 1983, 115f.) und der christlichen

Basisgemeinden sowie ihrer Möglichkeiten aus.

Schließlich ist der aggressive Antieurozentrismus Dussels (be- sonders seiner früheren Schriften) mit seinem auch nach eigener Einschätzung in manchem doch traditionellen und europäisch ge- prägten Ansatz (vgl. 1988a, 116) nicht zur Deckung zu bringen.

Dennoch stellt Dussels Befreiungsethik eine kreative und origi- nelle Position dar, die einen Gewinn für die gesellschaftsethische Diskussion bedeutet. Seine Herausforderung anzunehmen hieße für eine hiesige Gesellschaftsethik zunächst, ihre eigene Kontext- gebundenheit zu erkennen sowie die Andersheit bzw. Eigenständig- keit anderer Ansätze wahr- und ernst zu nehmen und sich somit von einem ethischen Euro- oder gar Germanozentrismus zu distan- zieren (vgl. Fomet-Betancourt 1988, 84). Einige zentrale Heraus- forderungen seien abschließend hervorgehoben.

Das Spezifikum des hier vorgestellten Ansatzes, auch gegenüber anderen befreiungsethischen Entwürfen, liegt zweifellos in der Kategorie der »Exteriorität«, mit der Dussel neben dem Aufweis von Unterdrückung und Marginalisierung gerade auch die Erfah- rung von Freiheit aJs die positive Möglichkeit der Systemtransi.en- denz - im Sinne einer Befreiungspraxis der Armen und Unter- drückten - auf den Begriff bringt. In der Bejahung der anderen, die mit einem Hören auf deren oft stummen Schrei einsetzt, respektie- re ich sie als Personen, als Subjekte.

Konsequenterweise kann dann auch eine kirchlichen Arbeits-

teilung in Lehramt und akademische Fachvertreter einerseits und

(24)

auf »Anwendung« des Gelehrten und Interpretierten beschränkte

»Laien« andererseits nicht länger aufrechterhalten werden. Mit der Neubestimmung des Subjekts ethischer Reflexion unternimmt Dussel deshalb die Auflösung dieser traditionellen Rollenzuwei- sung, die nicht nur den Subjektcharakter der Glaubenden, sondern auch die dem Volle Gottes als Ganzem und damit auch den christ- lichen Gemeinschaften zukommende »Lehrautorität« mißachtet57.

Für die Gruppe der wissenschaftlich Tätigen formuliert er dabei mit dem Modell der »organischen Intellektuellen« eine bleibende Herausforderung, mit dem darin implizierten Engagement in der befreienden Praxis der Armen und Unterdrückten aber auch eine Perspektive für eine gelungene Verknüpfung von praktischer und theoretischer Arbeit. Dussels Aufweis der Notwendigkeit eines realistischen Blicks auf die sozio-ökonomische und geopolitische Bedingtheit des Denkens, sein Plädoyer für eine Risiko und Ver- folgung nicht scheuende ethisch-politische Parteinahme für die Unterdrückten sowie für den dadurch bedingten Orts- und Per- spektivenwechsel zugunsten einer Interpretation der Realität aus dem Blickwinkel der Armen bzw. der Peripherie vermögen der Diskussion über den not-wendigen »Ort« christlicher Gesellschafts- ethik wichtige Anstöße zu geben. Darüber hinaus gelangt Dussel mit der Erhebung der Armen und Unterdrückten zum schlecht- hinnigen Maßstab für aktuelle und zukünftige Praxis und Theorie zu einem neuen Verständnis des Denkens als Dienst an den Ar- men, mit der weittragenden Konsequenz, daß die Theorieproduk- tion (samt Themenwahl) in eine befreiende Praxis zur Überwin- dung des materiell-kulturellen Hungers und zur Herstellung ge- rechterer Verhältnisse eingeordnet wird. All diesen Impulsen liegt dabei auf der Ebene des Glaubens eine bibUsch fundierte Option zugrunde, die auf der theoretischen Ebene begleitet wird von einer Neubestimmung des Verhältnisses von Praxis und Theorie, von Orthopraxis und Orthodoxie.

Zusammenfassend läßt sich die Befreiungsethik Enrique Dussels

als ein außergewöhnlicher und anregender Entwurf christlicher

Gesellschaftsethik charakterisieren, der es versteht, eine Menschen-

rechtsethik aus dem Blickwinkel der Armen und Unterdrückten

neu zu buchstabieren und sein Denken auf deren vom Evangelium

inspirierte befreiende Praxis zu gründen. Trotz einiger kritischer

Punkte vermag seine Position mit ihren theoretischen wie metho-

dologischen Neuansätzen auch der mitteleuropäischen Ethik-Dis-

kussion wichtige Anstöße zu geben.

(25)

314

Spon- und Freizeil\lereine, Debnt- tien::lubs, Bürgerforen und B0rger- initiativen bis zu Berufsverbänden, politischen P:i rteien, Gewerkschaften und alternativen Einrichtungen rei- chen« (Habermas 1990, 46).

16 Zur Lebensfähigkeit einer solchen politischen Öffentlichkeit gehen ein gesellscha[tlich hinreichend veranker- tes Vertrauen aller Gesellschaftsmit- glieder in die Lösungsmöglichkeiten einer Ethik, die politisch-moralische Fragen •mit guten Gründen« aUge- meinverbindJich beantworten kann und den engen Rahmen dezisinnisti- scher und utilitaristischer Ethik- modelle sprengt.

17 Das auf sraatstheoretische Überle- gungen von Antonio Gram!lci (vgl.die

Ylll.

in den 30er Jahren in seinen »Ge- fängnisheften• formulierte Unter- scheidung ,un 10societ11 politica« und

»societä civile«) zurückgehende Konzept einer von njcht-staatlichcn und nicht-ökonomischen Institutio- nen getrogenen »Zivilgesellschaft„

wird gegenwärtig vor allem unter dem Eindruck des demokratischen Umbruchs in Osteuropa wieder ver- stärkt als theoretische Perspektive für gesamtgesellschaftliche Demo- kratisierungsprozesse diskutiert (vgl.

dazu u. a. Priester 1977, Haug 1988, Rödel/Frankenberg/Dubiel 1989, Deppe/Dubiel/Rödel 1991 und die Beiträge zum Schwerpunkllbema ,.Gramsci und die Zivilgesellschaft«

in: Das Argument 185, 1991).

IX Die Herausforderung des Denkens durch den Schrei der Armen (Dussel)

Nähere Angaben zu Biographie und Werk Dussels (Jahrgang 1934) finden sich bei Edition Exodus 1985, Peter 1988, Fomet-Betancoun 1989 und Schelkshorn 1992.

2 Zur näheren Einführung vgl. Füssel 1985a, Boff/Boff 1986 u. Goldstein 1991.

3 Seit der XlV. Ordentlichen Ver- sammlung in Sucre/Bolivien (1972) agiert der CELAM gegen die Uefrei- ung.'ltheologie; vgl. 1981b. 91-96.

4 Zit. nach FR Nr. 72 vom 26.03.90, 1.

5 Stellenweise dienten die Dussel-Pas- sagen meines Artikels 4'Jr christ- lichen Befreiungsethik Lateinameri- kas (Lienkamp 1989) als Vorlage, wobei ich mich jedoch hier vor allem auf die leichter zugänglichen deut!ICh- sprachigen Übersetzungen, besonders der jüngeren Publikationen Dussels, stütze.

6 >+Christliche Gest:IL1dm/tsethik« ist der in diesem Studienbuch durch- gängig verwendete Terminus für eine theologische Ethik, die sich mit den gesellschaftlich-strukturellen Belan- gen befaßt (- Einleitung). Da Dussel

seinen Entwurf dieser Disziplin allein aus heuristisdren Erwägungeo mit dem positiv besetzten Begriff

»Ethik der Gemeinschaft• • als Ge- genbegriff zur geltenden •Gesell- schaftsmoral<( - bezeichnet (vgl.

1988a. 37), ist es keineswegs sinnent- stellend, wenn sein Ansatz mit dem hier "neutral« verwendeten Begriff

»Gesellschaft« in Verbindung ge- bracht wird.

7 Vgl. u.a. 1988b; 1989c und Fornet- Betancoun 1983.

8 Entsprechend seinem Verständnis von Geschichte als historischer Pra- xis übersetzt Dussel die Überschrift der lukanischen Apostelgeschichte (griech.: Praxeis Apostolon) mit

»P!mis der Apostel« (1985, 211, und 1988a, 16).

9 1988a, 95; unter „Volk« mit seinen

»ärmsten« drei Gruppen der Eth- nien, Baut:m und Marginalen ver- stehi Dussel „die Gesamtheit des

»Gesellschaftsblocks« der Unter- drückten io einer Gesellschaftsfor- mation« (1988c, 131). •Befreiungs·

p=is des Volkes geschieht dort, wo

lX.

d i = sich auf den Weg macht, sich erhebt und den Prozeß gegen die Strukturen der S0nde beginnt, wo es in den Kampf gegen das :satanische Werk von Unterdrückung. Ungerech- tigkeit und Sünde eintritt, in den Be- freiungskampf gegen die Sünde, gegen die Unterdrückung und gegen die Ungerechtigkeit, gegen die wirt- schaftliche Ausbeutung. den politi- schen Autorirarismus, die ideologi- sche Enrfremdung und den traditio- nellen Machi.smo etc.« ( 1988a, 95).

10 Vgl 1989c, J40f.; Dussel selbst wi.rcl zur zweiten Generation gerechnet (vgl. Füssel 1985a, 203).

11 Vgl. 198411. 140 Anm. 24: •Der nega- tive, despektierliche Begriff ,desar- rollismo• (von ,desarrollo• : Ent- wicklung) will auf den falschen, ideo- logischen Charakter der ,Lehre von der Entwicklung, (und der •Ent- wicklungshilfe•) europäisch-nord- amerikanischer Herkunft hinweisen ... Man will partiellen Auswirkungen abhelfen und verschlimmert dabei das Übe~ indem man nicht die g.lobn- len, strukturellen Ursachen der Krise anpackt.« Genau dies. nämlich die Analyse der globalen, scrukturellen Ursachen der Abhängigkeit Latein- amerikas in ihrer Verkettung mic länderinternen Faktoren. machten sich die unterschiedlichen Ausprä- gungen der Dependenztheorie zur Aufgabe; vgl. zur aktuellen Diskus- sion: Llenkamp 1992.

12 Vgl. Peter 1988, 127: .. wenn Dussel das europäische Denken kritisiert, dann meint er per modum excellen•

tiae Hegel.«

13 Vgl. zur Schreibweise Lienkamp 1989, 171 Anm. 88.

14 Hegel 1969ff~ Bd. 12, 114; vgl. dazu Fomet-Betancourt 1988, 11, SI und Ders. 1987, 323.

15 Vgl. dazu Lienkamp 1989, 172 Anm.

97.

16 Vgl. 1974, 405 bzw. 1988b, 43: •Die

•Befreiungsrheologie• ... entsteht, als mon im Zusammenhang mit der Entdeckung der wirtschaftlichen

315

(•Dependeoztheorie•) und kulturel- len _ .. Abhängigkeit erkennt, daß auch unsere Theologie abhängig i5L•

Dussel spricht in diesem Zu...ammen- hang von einem radikalen theore- tisch-epistemologischen Bruch (vgl.

1989a, 162).

17 Vgl. auch Fussel 1.985a. 206: i,Theo- logie der Befreiung kann damit auch als Befreiung der Theologie aus der Gefangenschaft der burgerlichen Ideologie begriffen werden«; dies impliziert für Dussel jedoch nicht, daß die Theologie der Befreiung deshalb schon „frei wäre von den ideologischen Begrenzungen eines jeden menschlichen Unternehmens«

(1988a, 226).

18 Daß Dussel die europäische Philoso- phie jedoch nicht pauschal verurceilt, zeigt sich neben seiner kritischen Levinas-, Marcuse- und Marx-Re- zeption auch in seiner Wert.,;cbilt- zung für den „Prophet[en] und Be- freiungscheologe{n)« ( 1979. 653) Bischof Bartolomt de Las Casas und für die mit ihm verbundene„ Völker- rechtsschule« des 16. Jahrhuodens, die sich um eine Erneuerung der Naturrechtslehre bemüht hol: ,.L3.5 Casas kämpfte ... für die umfas- sende Freiheit der Indianer, und zwar nicht nur de facto, sondern auf der Grundlage der Prinzipien des Naturrechts« (1988b, 97); vgl. zur Relativierung des Dusselschen !'An•

tieuropäismus~ auch Peter 1988, 397.

19 Fornet-Betancourt 1989, 6; vgl. auch 1989b, 46; besonders ltThe One-di- mensional Man« (dL: Man:use 1970) ist für Dussel sehr wichtig gewesen (vg.l. 1989b. 45 u. 1981a, 813 Anm.

44).

20 Levinas 1961; als erste Einführung in sein Denken vgl. Oers. 1986 u.

Lesch 1988.

21 1989b, 46; vgl. auch 1989a, 54-64.

22

Von dieser Kategorie aus unter- nehme ich die Neudefinition aller philosophischen Begriffe« ( 1989b, 52).

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