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Föderalismus und die Architektur der europäischen Integration

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Südosteuropa - Studien ∙ Band 55

(eBook - Digi20-Retro)

Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.

Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Projekt „Digi20“

der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch den Verlag Otto Sagner:

http://verlag.kubon-sagner.de

© bei Verlag Otto Sagner. Eine Verwertung oder Weitergabe der Texte und Abbildungen, insbesondere durch Vervielfältigung, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages unzulässig.

Nikolaus Wenturis (Hrsg.)

Föderalismus

und die Architektur

der europäischen Integration

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SÜDOSTEUROPA-STUDIEN

herausgegeben im Auftrag der Südosteuropa-Gesellschaft von Walter Althammer Band 55

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Föderalismus und die Architektur der europäischen Integration

Herausgegeben von Nikolaus Wenturis

Südosteuropa-Gesellschaft München 1994

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Föderalismus und die Architektur der europäischen Integration / hrsg. von Nikolaus Wenturis. - München : Südosteuropa־

Ges., 1994

(Südosteuropa-Studien ; Bd. 55) Л (tøyartoChe Л ISBN 3-925450-46-7

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NE: Wenturis, Nikolaus [Hrsg.]; G T

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© 1994 by Südosteuropa-Gesellschaft, 80538 München Alle Rechte Vorbehalten

Druck: Schoder Druck GmbH & Co. KG, 86368 Gersthofen

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Vorw ort des Herausgebers

Die Zeit, in der wesentliche Fragen des europäischen Integrations-

P rozesses und Grundgedanke über die künftige europäische Ordnungs-

s tr u k tu r in a k a d e m is c h e n K reisen und/oder geschlossenen Zirkeln diskutiert und ausgetauscht wurden, liegt vor a lle m seit dem Vertrag von Maastricht längst zurück; sie bilden inzwischen zentrale politische Sach- und Problemfelder, auf die bedeutende politische, w irtschaftli- che, kulturelle und wissenschaftliche Debatten fokussiert werden.

Denn im Unterschied zu den 70er und 80er Jahren konzentrieren sich zum ersten Mal seit einiaen Jahren die europabezogenen Auseinander-

Setzungen auch auf existentielle Fragestellungen, die die unmittelbare Lebenswelt der EU-Bürger tangieren und sie mit einer qualitativ neuen Dimension versehen.

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt sowie ange- sichts der zerstörten Hoffnung auf den ׳ ewigen Frieden׳ in Europa, der nach den traumatischen Erinnerungen aus dem zweiten europäischen Bürgerkrieg als Hypothek zur Sicherung des europäischen Zusammen- lebens fungiert und in der Gestalt eines kategorischen Imperativs die Grundlegung der praktischen Vernunft der politischen Sitten in Europa bestimmen sollte, wird der europäischen Ö ffentlichkeit allmählich in zunehmendem Maße bewußt, daß nur durch das konsequente Be- kenntnis zur zur europäischen Integration dauerhaft auch für diesen Kontinent ein erfolgversprechender Beitrag für wirksame Optionen zur Friedensschaffung und Friedenserhaltung geleistet werden kann.

Heute in noch stärkeren Maße als bisher ist die Suche nach dem Weg des europäischen Integrationsprozesses m it der Frage nach der künftigen Architektur nicht nur West-, sondern Gesamteuropas декор- pelt; vor allem die osteuropäischen Staaten drängen vehement auf diese A n tw o rt, da bei ihnen die gesamteuropäische Genese inzwi- sehen ein oftm als größeres Interesse als bei einigen langjährigen EU- Mitgliedsstaaten findet. Trotz alledem ist der durch den Vertrag von Maastricht eingeleitete Wandel von Quantität in Qualität weiterhin in den Gemeinplätzen des politischen Verbalismus steckengeblieben und der Vertiefungsprozeß der ׳ Europäischen Politischen Union׳ konnte sich bis heute kaum aus dem W ürgegriff des politischen Symbolismus befreien. Als Grund dafür wird allzu häufig der Maastrichter Vertrags- text selbst angegeben, der als ein bürokratisches Konvolut charak- terisiert wird, das auch die Experten erst dann durchschauen können, wenn sie bei jedem Satz den dazugehörenden Kommentar sowie alle vorangegangenen Verträge zu Rate ziehen würden. Allerdings reicht dieser Hinweis nicht aus, um jene Ursachen zu erfassen, die die Skep- sis gegenüber der EU größer werden läßt; denn dabei wird übersehen,

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daß m it dem Maastrichter Vertrag nicht nur ־ wie so o ft in der Ver- gangenheit ־ ein bißchen mehr 'Harmonisierung׳ feierlich symbolisiert bzw. festgeschrieben wird, sondern auch und zum ersten Mal im europäischen politischen Einigungsprozeß nach 1945 eine Verfas- sungsnorm für den künftigen europäischen Bundesstaat zu einem zentralen Element in der Alltagspolitik jedes EU-Nationalstaates erho- ben wurde.

Bislang war 'Europa' ein unverkennbar abstraktes Unterfangen, das die 'Europa-Romantik' wohl ernährte und die nationale Identität sowie die nationalistischen Gefühle weiterhin überwintern ließ; gele- gentliche Entscheidungen, die diskret - weil peripher - in die Sphäre der nationalen Souveränität einzudringen vermochten, konnten allen- falls die Funktionäre der Bauernverbände mobilisieren. Eine gemeinsa- me Sozial-, Finanz-, Verteidigungs- und Außenpolitik als konkretes Ziel und unmittelbare Folgewirkung des Vertrags von Maastricht berührt hingegen bis hinein in die letzten Verästelungen des Nationalstaates jeden Bürger, destabilisiert die eigene nationale Identität und das damit verbundene Gefühl der 'existentiellen Geborgenheit', weil mit dem Brüsseler Leviathan die assoziative Befürchtung gekoppelt wird, daß durch die Maastrichter Kulturrevolution die 'vertraute Lebenswelt׳ zu schnell und zu gründlich beraubt wird. Denn in Brüssel ist heute zwei- felsohne ein anonymer, undurchsichtiger Moloch entstanden, dessen effektive Macht weder vom Europaparlament noch von außen ein- zuschätzen ist; er degradiert nationale Parlamente zu gesetzgeberi- sehen Vollzugsautomaten, obwohl sie über eine parlamentarisch- demokratischen Legitimation verfügen und ist außerdem eine willkom- mene Spielwiese, auf der sich diverse Lobbyisten austoben können.

Deshalb verweisen EU-Skeptiker nicht nur auf den noch nicht über- wundenen Drang des europäischen Kleinbürgers ׳ zurück in die Idylle der Kleinstaaterei׳ , sondern sie bestätigen zudem mit ihrem Verhalten die Hypothese, daß in einer Umwelt von gewachsenen Nationalismen und historisch verfestigten Nationalstaaten ein europäischer Bundes- Staat, d.h. die Europäische Politische Union, nicht mit 'Eisen und Blut', aber auch nicht durch symbolische Girlanden, politische Beschwichti- gungsrhetorik und nachbarschaftliche Kohabitation aus Gründen der jeweiligen Staatsräson zu erkämpfen ist. Alexander der Große, Lincoln, Bismarck, Cavour, und wie sie alle hießen, haben einst den Gewalt- marsch zur Vereinigung der segmentierten ethnischen Elemente in einer gesamtstaatlichen Einheit deshalb erfolgreich beenden können, weil die damals vorherrschenden historischen Randbedingungen und soziopolitischen Konstellationen den Erfolg ihrer politischen Zielset- zung schon längst eingeleitet hatten: es war in allen diesen histori- sehen Beispielen sowohl die Sehnsucht einer Mehrheit in den Eliten und in der Bevölkerung nach Selbstbestimmung und nationaler Integri-

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ta t als auch der feste Glaube, daß dadurch jene soziale, wirtschaftli- che, kulturelle und politische Autonomie erreicht werden könnte, die zwangsläufig zur Entwicklung und zum Wohlstand bzw. zur Sicherung der gemeinsamen Zukunft führen würde.

Vor dem Hintergrund der zerschlagenen Hoffnung auf einen end- gültigen Friedenszustand auf dem europäischen Kontinent und die weitere Tatsache, daß fast jeder Bürger Europas nur durch einige hundert Kilometer Luftlinie von einem neuen europäischen Bürgerkrieg getrennt ist, der jeden Tag weitere Opfer fordert, entstand nach zahl- reichen Gesprächen sowohl mit meinen Mitarbeitern als auch mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen europäischen Ländern die Überzeugung, daß die Beantwortung der Frage nach der europäischen Zukunft eine zu komplexe und zu komplizierte Aufgabe ist, als daß man sie nur den Politikern und Journalisten allein überlassen sollte, und daß gerade deshalb die wissenschaftliche Gemeinschaft - und somit auch jeder einzelne Wissenschaftler - die aus diesem Kontext resultierende Aufgabe annehmen und das dort akkumulierte Wissen zugunsten einer friedvoll fortschreitenden und vertiefenden európai- sehen Integration instrumentarisieren sollte.

Die intellektuelle Spannung, die in der Bandbreite dieser Erkennt- nisse liegt, hat schließlich zu dem Entschluß geführt, ein Symposion zum Thema "Föderalismus und die Architektur der europäischen Inte- gration" durchzuführen, an dem Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen und aus verschiedenen europäischen Staaten teilge- nommen haben. Das vorliegende Buch stellt demnach eine Gemein- schaftsarbeit der Teilnehmer an diesem Symposion dar, die sich mit ihren Beiträgen besonders engagiert haben; der strukturelle Aufbau seines Inhalts erfolgt nach der Systematik in der Präsentation der Themen während des mehrtägigen Symposions.

Den Autoren und Kongreßteilnehmern gilt mein Dank nicht nur für die unkomplizierte Zusammenarbeit, sondern auch für die freund- schaftliche Verbundenheit, für manche kritische Reflexionen und für den fruchtbaren Dialog während und nach den jeweiligen Sitzungen.

Meinen Mitarbeiter, Frau Jana-Редду Moeller und Marc Stefan Binder, die mir mit ihrem Einsatz eine unverzichtbare Hilfe geleistet haben, gilt ebenfalls mein Dank. Mein aufrichtiger Dank gebührt auch der Robert- Bosch-Stiftung sowie der Südosteuropa-Gesellschaft, ohne deren großzügige Unterstützung dieses Symposion nicht hätte realisiert werden können.

Nikolaus Wenturis Tübingen, August 1994

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Vorwort

Erweiterung oder Vertiefung ־ so wird häufig die Alternative von überzeugten Europäern für die Europäische Union gestellt. Wem an einer schnellen Verwirklichung der Unionspläne von Maastricht liegt, der steht einer raschen Erweiterung der Europäischen Union (EU) über die vier Beitrittskandidaten des Jahres 1995 hinaus (Österreich, Nor- wegen, Schweden, Finnland) skeptisch gegenüber. Man befürchtet, daß sich das Jahrhundertwerk zu einer bloßen europäischen Freihan- delszone zurückentwickeln könnte. Die Fachleute wissen, daß derzeit die ost- und südosteuropäischen Beitrittskandidaten längst nicht über die von der EU geforderten Beitrittskriterien verfügen.

Soll man deshalb die Pläne für eine Osterweiterung der EU zu den Akten legen? Wer ein Gespür für politische Notwendigkeiten hat, der weiß, daß dies nur unter Inkaufnahme schwerster Nachteile für die Zukunft des europäischen Kontinents möglich wäre. Die gleiche Situa- tion ist im Bereich der westlichen Sicherheitsbündnisse gegeben.

Es ist deshalb notwendig, sich Gedanken über die Völker- und staatsrechtliche Konstruktion einer erweiterten Europäischen Gemein- schaft zu machen. Dabei steht es außer Frage, daß das gemeinsame Europa kein zentralistischer Einheitsstaat sein kann. Einige Kernstaaten der EU müssen gegenwärtig von ihrem traditionellen Zentralismus Abschied nehmen; denken wir nur an Frankreich oder Italien. Andere Staaten, wie Belgien oder Spanien, haben föderalistische Strukturver- änderungen bereits durchgeführt.

Die politische Union Europas kann nur föderativ gegliedert sein, wobei die Frage, ob aus dem Staatenbund ein Bundesstaat werden soll, erst noch beantwortet werden muß. Die Völker Südosteuropas haben in der Vergangenheit erfahren müssen, welch bittere Konse- quenzen sich aus dem Mißlingen einer föderativen Friedensordnung ergeben können. Die österreich-ungarische Monarchie war auch am Scheitern der föderativen Neugliederungspläne zugrunde gegangen.

1994 gedachten wir der Morde von Sarajewo vom Juni 1914, die unmittelbar zum Ausbruch des 1. Weltkrieges geführt hatten. Erzher- zog Franz Ferdinand, der den Vielvölkerstaat durch eine Gleichstellung der slawischen Nationen retten wollte, wurde eben deshalb das Opfer serbischer Terroristen.

Daß es im letzten Jahrzehnt nicht gelang, Jugoslawien in eine Föderation gleichberechtigter Teilstaaten zu reformieren, hat zu der gegenwärtigen Tragödie Südslawiens geführt. Dagegen läßt sich fest- stellen, daß Deutschland aus heutiger Sicht gute Erfahrungen mit dem Föderalismus gemacht hat. Die Kämpfer für eine föderative Gliederung des deutschen Einheitsstaates wurden noch bis vor wenigen Jahrzehn-

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ten verdächtigt, Separatisten zu sein und die deutsche Zentralgewalt ohnmächtig machen zu wollen. Nach 1945 wurde bei der Schaffung des Grundgesetzes letztmals diese Debatte geführt. Seit vielen Jahren aber ist klar, daß die Bundesrepublik Deutschland eine optimale föde- rative Struktur gefunden hat. Deshalb wurden 1990 sofort im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung die Bundesländer der ehemaligen DDR wiederhergestellt. Deutschland kann in eine föderative Integration Südosteuropas daher eine Fülle von Erfahrungen einbringen.

Nicht ohne Grund wird gegenwärtig von einem Europa der Regio- nen gesprochen. Zu Recht wird auch die Forderung erhoben, daß die Bürokratie der EU in Brüssel sich nach den Prinzipien der Subsidiarität reformieren müsse. Das bedeutet, daß für die Zuständigkeiten der Regierungsinstanzen und Behörden zu gelten hat: Was die kleinere Einheit regeln kann, darf ihr von den zentralen Stellen nicht entzogen werden, oder: so weit irgend möglich, sind Zuständigkeiten und Ent- Scheidungen nach unten zu verlagern. Die Gebietskörperschaften bauen sich von unten, von den Gemeinden, den Kreisen, den Regio- nen, den Nationalstaaten nach oben zu den europäischen Instanzen auf.

Wir sehen also, das Thema: "Föderalismus und europäische Integration Südosteuropas" ist von höchster Aktualität. Es ist zu begrüßen, daß die Universität Tübingen in einem international hoch- rangig besetzten Symposion sich mit diesem Fragen beschäftigt. Im Interesse einer friedlichen und erfolgreichen Zukunft Europas ist zu hoffen, daß die Erkenntnisse und Konzeptionen, die hier von ausge- wiesenen Fachleuten vorgelegt werden, in der politischen Alltagspraxis auch berücksichtigt werden.

Dr. Walter Althammer Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft

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INHALTSVERZEICHNIS

Fritz Hopmeier

Die Rolle Baden-Württembergs als deutsches Bundesland

in einem Europa der Regionen ... 13

Nik o l a u s W enturis

Die Grenzen Europas und die Architektur der Europäischen

Politischen U n io n ... 23

A n te Pa z a n in

Die europäische Föderation als 'Federierung' ihrer eigenen

K r ä fte ... 33

MlKELIS ASCHMANIS

Eine enge oder lose Integration für E uropa?... 43

Ference L. Le n d v a i

Der Mitteleuropaplan und Möglichkeiten des Föderalismus

in Europa ... 51

LUBOMÍR NOVY

Das Haus "Europa" als Gebäude und als Heim - zum Verhältnis

vom Partikularismus und U niversalism us... 67

Peter L. Oesterreich

Nationaler Pluralismus. Politische Philosophie und die föderale

Architektur Europas ... 75

Ba r b a r a Zehnpfennig

Das Subsidiaritätsprinzip - ein Baustein im Gebäude "Europa"? 87

Endre Kiss

Zwischen Funktionalität und Substantialität • Föderalismus in

Diskussion und Geschichte ... 97

Ka r o l Ba l

Aus der Tradition des polnischen föderalistischen Denkens . 105

Ca r l o s Melches

Monarchie und Republik - zwei Modelle für Europa am Beispiel

Spaniens - zu Gedanken Ortegas und Unamunos ... 117

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Inhalts Verzeichnis

Tibo r Pichler

Ostmitteleuropäische R eflexionen... 125

Ta t ia n a Se d o v á

Politische Kultur als Problem der Europäischen Integration . . 133

Pa n o s Ka s a k o s

Von der EG zur Europäischen Union - aus der Sicht des

"ökonomischen F öderalism us"... 139

Fr a n c e Vreg

Politische, wirtschaftliche und nationale Interessen für

die europäische Integration in Südosteuropa ... 157

Jeroen Vis

Subsidiarität, Kommunitarismus und der Ausbau föderalerer

Strukturen in Europa... 171

Cr is t ia n a Se n ig a g l ia

Drei mögliche Zugänge zum interkulturellen Verständnis . . . 179

Ka r l Ha h n

Rußlands Verhältnis zum Westen im politischen Denken

russischer Philosophen und S ch riftste lle r... 193

Erzsébet r ó z s a

Was bedeutet es, Ost-Mittel-Europäer zu sein? Einige Probleme

der bürgerlichen Identität ... 213

Fe r d in a n d Kin s k y

Eine föderative Architektur für Europa... 227 233

Teilnehm er des Sy m p o s io n s

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Dr. Fritz Hopmeier

Präsident des Landtags von Baden-Württemberg

Die Rolle Baden-Württembergs als deutsches Bundesland in einem Europa der Regionen

Es ist für mich eine große Freude, daß ich heute zur Eröffnung Ihres Symposions zu Ihnen über das Thema "Die Rolle Baden-Würt- tembergs als deutsches Bundesland in einem Europa der Regionen"

sprechen darf. Besonders freue ich mich, daß viele Vertreter Mittel- und Osteuropas diesem Symposion beiwohnen. Auch dies sehe ich als ein Zeichen, daß Europa, das lange Zeit in zwei Blöcke gespalten war, nach und nach zusammenwächst. Auch aus diesem Grunde möchte ich mich für die Gelegenheit, zu Ihnen zu sprechen, sehr herzlich bedanken.

Sie haben Ihr Symposion unter das Generalthema "Föderalismus und die A rchitektur der europäischen Integration" gestellt. Als Paria- mentspräsident eines Bundeslandes und als ein von diesem Am t und meiner Abgeordnetentätigkeit geprägter Föderalist möchte ich den Schwerpunkt meiner Ausführungen auf die föderale Komponente des Themas legen und dies natürlich auch unter dem parlamentarischen Blickwinkel.

Daß wir uns überhaupt Gedanken über die tragenden Architek- turprinzipien der europäischen Integration derzeit machen, braucht nicht näher belegt zu werden. Angesichts der Tatsache, daß in ver- schiedenen Ländern Europas sich Tendenzen breitmachen, die euro- päische Integration in ihrer jetzigen Ausgestaltung durch die Gemein- schaft in Zweifel zu ziehen, insbesondere auch, was die Machtbalance zu den nationalen Mitgliedstaaten angeht, ist die Frage evident. So haben w ir festzustellen, daß nach dem Wegfall des kommunistischen Imperiums viele europäische Staaten in ihrem Kurs noch irritiert und unbestimmt sind. Einerseits wird die Notwendigkeit anerkannt, die Integration im Bereich der EG-Mitgliedstaaten zu einer Europäischen Union voranzutreiben - Maastricht steht hier als Stichwort -, anderer- seits haben w ir bedenkliche Desintegrationserscheinungen zu beob- achten, die den Prozeß der europäischen Einigung insgesamt in Frage

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Fritz Hopmeier

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stellen oder doch erheblich verlangsamen können. Darunter sind bei- spielsweise viele in Westeuropa, die der Erweiterung der Gemeinschaft das W ort reden und im Grunde meinen, daß sich dadurch die Ver- tiefung der Integration verlangsamt oder es überhaupt zu keiner Ver- tiefung kommt.

Wir haben deshalb allen Grund darüber nachzudenken, wie das Europa verfaßt sein muß, damit sich seine Bürger wieder verstärkt hinter diese Idee stellen und den allenthalben zu beobachtenden Desin- tegrationsbestrebungen eine Absage erteilen. A uf diese Frage will ich zunächst mit einem Zitat antworten, das nicht ein aktiver Politiker, gar ein Landespolitiker formuliert hat, sondern ein angesehener wissen- schaftlicher Betrachter, nämlich Hermann Lübbe. Er hat gesagt: ” Die Europäische Union wird entweder hochföderal verfaßt sein oder sie kommt überhaupt nicht zustande."

Diese Aussage, mit der ich mich als Parlamentspräsident eines föderalen Gliedstaates natürlich voll identifizieren kann, macht deut- lieh, daß sich eine bald um Österreich und den skandinavischen Raum erweiterte Gemeinschaft nur dann als funktionsfähig erweisen kann, wenn elementare Strukturprinzipien beachtet werden: dazu zähle ich neben einer Stärkung des parlamentarischen Elements auf allen drei Ebenen - Gemeinschaft oder neuerdings Union, Mitgliedstaaten, Län- der und Regionen ־ die Grundsätze von Föderalismus, Dezentralität und Subsidiarität. Es geht hierbei ganz praktisch gesehen um die Stellung und Rechte der Länder und Regionen in einer Europäischen Union, die auf dem Weg ist, sich eine Verfassung zu geben.

A uf Initiative Baden-Württembergs hat der Bundesrat bereits Ende 1990 postuliert, daß eine nach föderalen Grundsätzen errichtete europäische Union die drei Ebenen, nämlich die europäische, die natio- nalstaatliche und die regionale Ebene klar unterscheiden müsse und jeder Ebene die ihr gemäßen Aufgaben zu übertragen seien. Nach dieser grundsätzlichen Zuordnung muß auf der europäischen Ebene alles beraten, entschieden und vollzogen werden, was als die Einzel- Staaten übergreifende Aufgaben anzusehen ist und von diesen nicht oder nicht ausreichend bewältigt werden kann. Der nationalstaatlichen Ebene ist der Bereich der nationalen Gesetzgebung und Ordnung vorzubehalten. Die Gestaltung der regionalen w irtschaftlichen, kultu- rellen und gesellschaftlichen Verhältnisse muß hingegen bei den Regio- nen verbleiben.

Wenn die auf dieses Ziel angelegten Forderungen und Bestrebun- gen mit dem Schlagwort "Europa der Regionen" auf einen bündigen Nenner gebracht werden, so ist es keineswegs als Kam pfbegriff zu verstehen, der auf die Abschaffung der Nationalstaaten zielt und an deren Stelle die Regionen setzen will. Der Begriff soll vielmehr ver- deutlichen und umschreiben, daß die Länder und Regionen in einer

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Die Rolle Baden- W ürttem bergs in einem Europa der Regionen 15 Europäischen Union anerkannt sein wollen und ihre spezifischen und daher auf ihrer Ebene wirkungsvollen Handlungsmöglichkeiten recht- lieh und faktisch sichern wollen. Um nichts anderes geht es, wenn die Länder und Regionen danach trachten, die Europäische Union nach föderalen Grundsätzen aufzubauen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel hat dafür die treffende Formel "Europa muß vom Kopf auf die Füße gestellt werden" verwendet, man kann auch sagen, es muß von unten nach oben gebaut werden.

Dieses Ziel zu erreichen, wird nicht einfach sein. Denn trotz der wachsenden Einsicht in die Notwendigkeit einer starken regionalen Ebene ist nach wie vor die Tendenz zu beobachten, daß die európai- sehe Entwicklung gegenwärtig zu wenig die föderalen Strukturele- mente einbezieht und auf eine weitere Stärkung der europäischen Zentralgewalt hinausläuft.

Als Anhänger der europäischen Integration will ich im Rückblick auf die letzten Jahre feststellen, daß der europäische Integrations- prozeß gewaltige Fortschritte gemacht hat. Die ihn kennzeichnende und in meinen Augen notwendige Dynamik hat sich mit der Verwirkli- chung des Binnenmarktes 1992 und des Vertrags von Maastricht noch einmal ganz erheblich gesteigert. Und Europa wächst nicht nur in- nerhalb der Europäischen Union (EU) zusammen, sondern über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) werden die EFTA-Staaten mit Ausnahme der Schweiz in den europäischen Binnenmarkt einbezogen.

Damit entsteht das w eltw eit stärkste und geschlossenste Wirtschafts- gebiet.

Es versteht sich, daß der europäische Integrationsprozeß einen enormen Regelungsbedarf erzeugt. So hat beispielsweise die EG-Kom- mission in ihrem damaligen Weißbuch vorgerechnet, daß der Binnen- markt 1992 zu seiner Verwirklichung 280 Rechtsetzungsakte notwen- dig macht. Die enorme Dimension der europäischen Rechtsetzung wird besonders anschaulich aus einer Bemerkung des Präsidenten der EG-Kommission, Jaques Delors, der davon ausgeht, daß etwa 80 % der nationalen Wirtschaftsgesetze auf EG-Rechtsgrundlagen beruhen.

Und wenn w ir die W irtschafts- und Währungsunion vollenden, so geht von Brüssel ein weiterer Regelungsdruck aus, weil eine gemeinsame europäische W irtschafts- und Währungspolitik der Abstützung europa- rechtlicher Regelungen bedarf. Nationalstaatliche Gesetze reichen dafür nicht aus. Wenn w ir wollen, daß die europäische Integration fortschreitet, müssen w ir diese Ausdehnung der EG-Rechtsetzung unbedingt bejahen.

Freilich sind damit - und das ist in das richtige föderale Gleichge- wicht zu bringen - Kompetenzverluste der Mitgliedstaaten verbunden, die bei uns in der Bundesrepublik Deutschland neben dem Bund vor allem auch zu Lasten der Länder gehen. Dabei trifft die Schwächung

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Fritz Hopmeier

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der unteren Ebene, was ich als Landtagspräsident besonders schmerz- lieh empfinde, in der politischen Praxis hauptsächlich die Parlamente, weniger die Regierungen. Diese besitzen über den Ministerrat oder die Landesregierung über die Mitwirkung im Bundesrat, der ein Organ des Bundes ist, auch ein Mitspracherecht in Angelegenheiten der Európai- sehen Union.

Wie der Streit um die Europäische Fernseh-Richtlinie bewußt gemacht hat, beschränkt sich die Europäische Gemeinschaftsordnung auch längst nicht mehr auf nur wirtschaftliche Belange: Fernsehen, Rundfunk, Bildung und Ausbildung, Forschung und Technologie usw.

unterliegen mittlerweile ihrem Zugriff, also Bereiche, die in Deutsch- land originäre Länderzuständigkeiten sind.

Zieht man daraus eine Zwischenbilanz, so fä llt diese nach den Worten von Professor Manfred Zuleeg, eines Mitglieds des Európai- sehen Gerichtshofs, "ziemlich mager für die Länder und Regionen aus". Sie müssen - so sein Fazit - um ihre Kompetenzen bangen, ohne dafür eine vollwertige Mitwirkungsbefugnis einzutauschen, haben aber andererseits der Gemeinschaft an die Hand zu gehen, wenn sie im innerstaatlichen Bereich zuständig sind.

Aufgrund dieser Zentralisierung von Macht in Brüssel ist es kein Wunder, daß wir heute auf der anderen Seite in vielen europäischen Ländern, und nicht nur solchen mit föderalistischem Staatsaufbau, neben dem Willen zu größerer nationaler Selbstbehauptung auch eine Stärkung oder Begründung regionaler Strukturen erleben. Dies gilt sogar für Nationalstaaten mit besonders starker zentralistischer Tradi- tion wie etwa Frankreich.

Angesichts dieser Tendenzen ist es für die Vertreter der Länder und Regionen nachgerade die Aufgabe, für die Verwirklichung fodera- 1er Verfassungsprinzipien in der Europäischen Union einzutreten, damit jede Ebene, auch die dritte Ebene der Länder und Regionen, zu ihrem Recht kommt. Auf diesem Weg zu einem föderal gegliederten Europa hat uns Maastricht ein gutes Stück vorangebracht.

So bin ich trotz der Tatsache, daß auf Betreiben der Briten das Wort Föderalismus im Vertragstext gestrichen wurde, überzeugt, daß in Maastricht der Grundstein für ein föderales Europa gelegt wurde.

Immerhin gilt es, sich zu erinnern, daß während 35 Jahren - so lange dauerte es von den Römischen Verträgen bis zum Maastrichter Vertrag die dritte Ebene der Länder und Regionen in den Europäischen Verträ- gen nicht vorgekommen ist. Ich halte es deshalb für einen eminenten Fortschritt, daß die Anerkennung der Länder und Regionen auf euro- päischer Ebene in Maastricht gelungen ist.

Was ist nun im einzelnen erreicht worden? Erster Punkt: Künftig wird das Subsidiaritätsprinzip den Maßstab bilden bei der Aufgaben- Verteilung zwischen der Gemeinschaft und der nationalen und regio-

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Die Rolle Baden- W ürttem bergs in einem Europa der Regionen 17 nalen Ebene. Die Gemeinschaft wird von nun an die Beweislast tragen müssen, wenn Aufgaben, die bisher von den Nationen oder Ländern wahrgenommen werden, nach Brüssel verlagert werden sollen. Dabei muß gelten, daß Aufgaben, die in den Mitgliedstaaten oder vor allem auf der darunterliegenden Ebene der Länder und Regionen sachgerech- ter, bürgernäher und besser geregelt werden können, nicht an die EU abgegeben werden.

Es gilt jetzt, wozu die vom Europäischen Rat in Edinburgh be- schlossenen Orientierungen zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ein Ansatz sind, diesen Grundsatz mit praktischem Leben zu erfüllen.

Dazu gehört meines Erachtens, daß die Gemeinschaft auf Harmonisie- rung der nationalen Vorschriften soweit als möglich verzichtet und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung solcher Vorschriften grundsätzlich den Vorzug gibt. Auf diese Weise kann sich im W ett- bewerb der Systeme die beste Lösung durchsetzen.

Die entschlossene Anwendung des Subsidiaritätsprinzips erfordert ebenso eine Überprüfung des vorhandenen Bestands an EG-Rechtsvor- Schriften. Die Kommission hat dazu jetzt einen Bericht an den Európai- sehen Rat erstellt, von dem der Landtag über das mit der Landesregie- rung vereinbarte Beteiligungsverfahren in EG-Angelegenheiten offiziell Kenntnis erhalten hat (BR-Drucksache 950/93). In diesem Bericht hat die Kommission eine Liste der Vorschriften erstellt, die vereinfacht oder aufgehoben werden können. Betroffen sind unter anderem Rege- lungen auf dem Gebiet der beruflichen Weiterbildung, des Gewäs- serschutzes, des Lebensmittelrechts usw.

So ist zu hoffen, daß die konsequente Anwendung des Subsidiari- tätsprinzips der befürchteten Überregulierung entgegenwirkt und für mehr Bürgernähe sorgt.

Zweiter Punkt: Mit der Verankerung eines eigenständigen Aus- schusses der Regionen als neuem Gemeinschaftsorgan im Maastrich- ter Vertrag ist eine Hauptforderung der Länder zumindest teilweise erfüllt worden. Dieser Ausschuß mit seinen 189 Mitgliedern wird durch sein Selbstbefassungsrecht künftig zu allen Fragen regionaler Relevanz Stellung nehmen können.

Enttäuschend ist allerdings, daß der Regionalausschuß auf eine rein beratende Tätigkeit beschränkt worden ist. Bei der nächsten, für 1996 anvisierten Vertragsänderung muß deshalb die Schaffung einer echten Regionalkammer auf der Tagesordnung stehen, die Mitent- scheidungsrechte gegenüber dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament erhält.

Baden-Württemberg ist unter den 24 deutschen Vertretern mit zwei Mitgliedern vertreten (wie Nordrhein-Westfalen, Bayern, Nieder- sachsen und Hessen). Unter der gleichen Zahl von 24 stellvertretenden Mitgliedern ist der Landtag von Baden-Württemberg mit zwei Abgeord-

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Fritz Hopmeier

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neten beteiligt, meine Person sowie der Erste stellvertretende Land- tagspräsident.

Für mich als Landtagspräsident ist es ganz wichtig, daß bei die- sem Mitwirkungsorgan der europäischen Regionen in der EU die parla- mentarische Ebene von Anfang an berücksichtigt wird. Ich sehe darin einen Weg, das vielbeklagte parlamentarische Defizit in Europa, das nicht nur auf der Ebene des Europäischen Parlaments besteht, sondern auch auf nationaler und regionaler Ebene, etwas abzumildern.

Der Ausschuß der Regionen wird jetzt voraussichtlich am 15 ./1 6.

März 1994 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten. Für seinen Arbeitsbeginn erhoffe ich mir einen "politischen A u fta k t" mit deutlichen regionalen Signalen an die Adressen von Europäischem Parlament, Rat und Kommission. Nachdem sich unter den Mitgliedern zahlreiche Regionalpräsidenten befinden, deutscherseits sind es vier Ministerpräsidenten, ist diese Hoffnung nicht ganz unberechtigt.

Dritter Punkt: Nunmehr werden Ländervertreter im Ministerrat teil- nehmen können, wenn es dort um Länderkompetenzen wie insbeson- dere um Fragen der Bildung und Kultur geht. Durch die maßgebliche Unterstützung Belgiens ist diese Öffnungsklausel für die Länder im Vertrag verankert worden.

Als Fazit bleibt festzuhalten, daß Maastricht zwar nicht alle Anlie- gen der regionalen Seite - wie etwa die Forderung nach einem eigenen Klagerecht der Länder und Regionen - erfüllt, jedoch einen bedeut- samen Schritt in die richtige Richtung gebracht hat. Andererseits ist zu sehen, daß mit dem Vertrag von Maastricht auch weitere Kompeten- zen der Länder, wie etwa im Bildungsbereich, auf die europäische Ebene übertragen werden. Dies hat die Länder bewogen, ihre Zustim- mung zum Vertrag von einer verfassungsrechtlichen Verankerung der innerstaatlichen Mitwirkungsrechte der Länder in EU-Fragen abhängig zu machen. Das Stichwort bildet hier der neue Artikel 23 des Grund- gesetzes.

Durch die Aufnahme dieses Europa-Artikels in das Grundgesetz wird zum Ausdruck gebracht, daß das wiedervereinigte Deutschland seine Verankerung in einem vereinten Europa findet. Ergänzt wird der neue Europa-Artikel durch ein Ausführungsgesetz über die Zusam- menarbeit von Bund und Ländern in Fragen der Europäischen Union, in dem weitere Einzelheiten geregelt sind. Ich darf kurz die wesentlichen Punkte hervorheben:

1. Künftig wird die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Euro- päische Union zwingend an die Zustimmung des Bundesrates gebun- den. Nach der bisherigen Rechtslage konnten durch einfaches Gesetz und grundsätzlich ohne Zustimmung des Bundesrates Länderzustän- digkeiten auf die Gemeinschaft übertragen werden.

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2. Im neuen Europa-Artikel wird ferner die Beteiligung der Länder, genauer gesagt der Länderregierungen, am innerstaatlichen Willens- bildungsprozeß verfassungsrechtlich festgeschrieben und ausgebaut.

Bislang waren die Mitspracherechte der Länder im Ratifizierungsgesetz zur Einheitlichen Akte aus dem Jahr 1987 einfachgesetzlich festge- legt. Das neue Verfahren sieht eine Bindung der Bundesregierung an die Stellungnahme des Bundesrates vor, entsprechend der innerstaatli- chen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern.

3. In Umsetzung der im Maastrichter Vertrag verankerten öffnungs- klausel ist vorgesehen, daß Länderminister in den EU-Ministerrat entsandt werden können, falls dort Angelegenheiten behandelt wer- den, die innerstaatlich in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder fallen.

4. Als Ausgleich für das angestrebte, aber nicht erreichte Klagerecht der Länder wird jetzt im Ausführungsgesetz zu Artikel 23 GG die Verpflichtung der Bundesregierung verankert, auf Verlangen des Bun- desrates Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben. Voraus- setzung ist, daß die Länder durch Handlungen der Organe der Európai- sehen Union in ihren Gesetzgebungsbefugnissen betroffen sind.

Zusammenfassend kann ich festhalten, daß mit dem Vertrag von Maastricht und seiner innerstaatlichen Umsetzung die Stellung der Länder in EU-Fragen erheblich gestärkt wird. Da dies leider nicht in gleicher Weise für die Länderparlamente gilt, sind wir zur Zeit mit der Landesregierung im Gespräch, das bisherige Unterrichtungsverfahren in EU-Angelegenheiten fortzuentwickeln und der neuen Situation anzupassen. Es soll dadurch erreicht werden, daß der Landtag, ins- besondere vor der Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder an die EU, frühzeitig informiert und beteiligt wird.

Neben dem dargelegten institutioneilen und rechtlichen Ausbau zur Stärkung der föderalen Elemente in der Europäischen Union ist es für die Länder und Regionen Europas wichtig, alle Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auf der regionalen Ebene auszuschöpfen. Es geht mir mit anderen Worten darum, welchen Beitrag die Länder und Regionen mit ihren eigenen Mitteln zur Gestaltung des Europa der Regionen leisten können.

Um dieses Ziel zu erreichen, genügen nicht schöne Worte, son- dem es bedarf dazu einer schlagkräftigen Organisation der európai- sehen Regionen und einer effizienten regionalen Zusammenarbeit.

Diesem Zweck dient der im Jahr 1985 gelungene europaweite Zu- sammenschluß der Regionen in der Versammlung der Regionen Euro- pas (VRE). Aus bescheidenen Anfängen - zu den Gründungsmitgliedern zählten ca. 40 Länder und Regionen - hat sich die VRE innerhalb von über acht Jahren zu einer bedeutenden Organisation entwickelt, die heute rund 250 Regionen aus fast allen Ländern Europas repräsentiert,

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Fritz Hopmeier

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darunter auch viele Regionen aus den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Das große Interesse der europäischen Regionen an der vom frühe- ren französischen Ministerpräsidenten Edgar Faure gegründeten VRE ist für mich der beste Beweis, daß die Länder und Regionen in dieser Organisation ihr gemeinsames Sprachrohr sehen, das ihre Interessen gegenüber den europäischen Institutionen wirkungsvoll vertritt.

Zu den Erfolgen der VRE in institutioneller Hinsicht gehört es, daß es im Jahre 1988 gelungen ist, in Brüssel den Beirat der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften bei der EG-Kommission einzurich- ten. Der Beirat, der aus 21 regionalen und 21 lokalen Repräsentanten bestand, war ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu dem in Maa- stricht beschlossenen Regionalausschuß, den ich vorher erwähnt habe.

Andere Fortschritte will ich nur kurz streifen. In der Erkenntnis, daß es vor allen Dingen gilt, die jungen Menschen für die europäische Sache zu gewinnen, hat die VRE als erstes Projekt einen Jugendaus- tausch - "Tour d'Europe des Jeunes" - begonnen, von dem in den ersten fünf Jahren mehr als 3000 Jugendliche profitiert haben. In den letzten vier Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer bildete die Öffnung nach Osteuropa einen Schwerpunkt für die Versammlung der Regio- nen.

Baden-Württemberg hat von Anfang an in der VRE mitgearbeitet.

Mein Amtsvorgänger Erich Schneider war Gründungsmitglied und langjähriger Vizepräsident der Versammlung. Ihm folgte Ministerpräsi- dent Erwin Teufel, der jetzt Erster Vizepräsident der VRE ist. Neben der Landesregierung ist der Landtag in meiner Person im Hauptorgan der Vereinigung vertreten.

Es versteht sich, daß die deutschen Bundesländer auch außerhalb regionaler Zusammenschlüsse wie der VRE oder etwa der Arbeits- gemeinschaft europäischer Grenzregionen (AGEG) in anderer Form konkrete regionale Zusammenarbeit pflegen. Dies gilt insbesondere für Baden-Württemberg, das im Hinblick auf seine besondere geographi- sehe Situation als deutsches Grenzland, aber europäische Kernregion eine Vielzahl bilateraler Kontakte mit anderen europäischen Regionen unterhält.

So ist für mich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwi- sehen benachbarten Regionen verschiedener EU-Mitgliedstaaten, aber insbesondere auch mit Regionen aus nicht der EU angehörigen Staa- ten, die älteste und am meisten praktizierte Form der interregionalen Zusammenarbeit. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die engen grenzüberschreitenden Kontakte über die Einrichtung zwei- und dreisei- tiger Kommissionen im Oberrheingebiet mit den Nachbarn Baden-

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Die Rolle Baden-W ürttem bergs in einem Europa der Regionen 21 Württembergs im Elsaß und in der Schweiz. Ein wichtiges Beispiel bildet auch die Bodenseekonferenz.

Als Landtagspräsident muß ich allerdings anmerken, daß die grenzüberschreitende Zusammenarbeit lange Zeit nur auf den Bereich der Exekutive beschränkt blieb. Der Landtag von Baden-Württemberg hat deshalb die Initiative ergriffen, um auch auf parlamentarischer Ebene direkte grenzüberschreitende Kontakte herzustellen. So ist es beispielsweise gelungen, eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Regio- nalrats des Elsaß und des Landtags von Baden-Württemberg einzurich- ten.

Auch im Bodenseeraum sind wir dabei, die parlamentarische Zusammenarbeit zu intensivieren. Ende März findet zu diesem Zweck die nächste Konferenz der Parlamentspräsidenten der an den Bodensee angrenzenden Bundesländer und Kantone statt.

Neben diesen grenzüberschreitenden Kontakten gibt es ferner eine Vielzahl bilateraler Beziehungen mit befreundeten ausländischen Regio- nen. Sie bestehen sowohl auf Regierungsebene wie auf der Ebene des Parlaments. So hat etwa der Landtag von Baden-Württemberg seit vielen Jahren eine ganze Reihe von Verbindungen zu benachbarten oder befreundeten Regionen geknüpft. Das Elsaß habe ich schon erwähnt. Es gibt ferner enge Kontakte mit Schweizer Kantonen (Ba- sel-Landschaft und St. Gallen), mit dem österreichischen Vorarlberg, mit Südtirol, Trient und Friaul/Julisch-Venetien in Italien, mit Langue- doc-Roussillon in Südfrankreich, mit Wales in Großbritannien und mit Oulu in Finnland. Durch regelmäßige Besuche und Gegenbesuche wird ein intensiver Informations- und Meinungsaustausch über konkrete Sachfragen wie beispielsweise Müllentsorgung, Verkehrsfragen, Bil- dungswesen, Wirtschaftsförderung usw. gepflegt. Dabei liegt der Sinn solcher Begegnungen auf parlamentarischer Ebene insbesondere auch darin, die auf Regierungsseite vereinbarten und geplanten Projekte und Maßnahmen kritisch zu begleiten und zu unterstützen und darüber hinaus weitere Anstöße zu geben.

Eine besonders intensive Form regionaler Zusammenarbeit stellt die im Jahre 1988 von den Regierungen gegründete Arbeitsgemein- schaft der "Vier Motoren für Europa" dar. Ihr gehören Katalonien, die Lombardei, Rhöne-Alpes und Baden-Württemberg an. Assoziiert mit dieser Arbeitsgemeinschaft ist die kanadische Provinz Ontario, ferner gibt es in einzelnen Bereichen eine Zusammenarbeit mit Wales. Die sog. "Vier Motoren" verstehen ihre Zusammenarbeit als spezifischen Beitrag zur europäischen Integration und zur Realisierung des Gedan- kens eines Europas der Regionen. Ihr Ziel sind ferner Synergieeffekte durch einen intensiven Meinungs- und Erfahrungsaustausch sowie gemeinsame Projekte, insbesondere in den Bereichen W irtschaft, Wissenschaft, Technologie, Umweltschutz usw., wobei die vorhan-

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Fritz Hopm eier

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denen personellen und finanziellen Ressourcen optimal genutzt werden sollen.

Wir versuchen auf seiten des Landtags, entsprechend zu den Regierungskontakten die Beziehungen zu den Parlamenten der anderen Partnerregionen der Arbeitsgemeinschaft zu intensivieren, damit ent- sprechend dem von mir dargelegten Ziel solcher parlamentarischen Begegnungen die von der Arbeitsgemeinschaft eingeleiteten Vorhaben die notwendige parlamentarische Unterstützung - wie etwa durch Bereitstellung von Haushaltsmitteln - finden. Ein erstes Treffen der Parlamentspräsidenten der vier Partnerregionen hat M itte Oktober 1993 stattgefunden, das nächste ist für die Jahresmitte geplant.

Insgesamt zeigt sich für mich, daß das Europa der Regionen inzwischen durch vielfältige Aktivitäten zur politischen Realität gehört.

Das immer dichter werdende Netz der Zusammenarbeit, welches die Länder und Regionen auf ihrer Ebene knüpfen, fördert die europäische Integration von unten her und macht sie für unsere Bürger begreif- barer, erlebbarer und akzeptierbarer. Die regionale Zusammenarbeit trägt ferner dazu bei, ein gemeinsames europäisches Bewußtsein zu schaffen und w irkt damit Spannungen entgegen, die Nationalismus und Separatismus erzeugen.

Wollen wir Europa von unten her bauen, können w ir nach meiner Überzeugung freilich nicht auf die Stärkung des parlamentarischen Elements verzichten. Denn wir dürfen die Augen nicht davor verschlie- ßen, daß bisher die europäische Integration auf der einen Seite zu einer wachsenden Bürokratisierung geführt hat, auf der anderen Seite aber vor allem die Stellung des Europäischen Parlaments nicht aus- reichend gestärkt wurde. Auch nach Maastricht bleibt das Demokratie- defizit in der Gemeinschaft bestehen.

Wir können bürokratischem Mißbrauch und Wild wuchs jedoch nur wirksam begegnen, wenn auf allen drei Ebenen - Gemeinschaft, Mit- gliedstaaten, Länder und Regionen - die Parlamente ihre Funktionen wirksam erfüllen können. Als Repräsentant eines Landesparlaments ziehe ich daraus den Schluß, daß die Landes- und Regionalparlamente unbedingt in die künftigen regionalen Strukturen einbezogen werden müssen. Diesem Ziel sehen sich der Landtag und ich als sein Präsident verpflichtet.

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Nik o l a u s W enturis

Die Grenzen Europas und die Architektur der Europäischen Politischen Union

Zweifelsohne kann es auf die Frage nach dem neuen Europa, auf die Frage nach den Grundgedanken bei der europäischen Integration, keine einfache A nw ort geben. Wer die intellektuellen Dispute und die teilweise sich widersprechenden Integrationsbemühungen aufmerksam verfolgt, dem kann nicht entgangen sein, daß dringende Orientierungs- hinweise zu dieser Fragestellung benötigt werden, richtet sich der Blick vornehmlich auf die geistigen, kulturellen und politischen Inhalte, auf die grundlegenden Triebkräfte und Hindernisse, die den architekto- nischen Entwurf einer europäischen politischen Union beeinflussen.

Deshalb werden heute viel häufiger die Fundamente des post-kom- munistischen europäischen Domizils inspiziert und dabei gewichtige und tiefgründige Fragen gestellt: Was ist die Idee und die Kultur, was ist das Bild und wo die Grenzen, was ist das politische Ziel und die politischen Ordnungsprinzipien Europas? Gilt heute noch der Hinweis von Heinrich Mann, wonach "das übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer eine reine Erfindung der Dichter" sei, "die nur von jenen aufrechterhalten und bewahrt w ird "1? Oder trifft jener Ausruf Dolf Sternbergers zu, nach dem es "eine Idee, die Europa heißt, gar nicht g ib t"2? Oder könnte die Einheit Europas doch "ein Traum von weni- gen, die eine Hoffnung für viele wurde und deshalb eine Notwendig- keit für uns alle"3 sein, wie Konrad Adenauer im Jahre 1954 bemerk- te? Oder spiegelt die epigrammatische Definition von Karl Jaspers die europäische Realität wider, wonach "Europa die Bibel und die Anti- ke"4 sei?

י Zitiert in: EG-Magazin, Heft 8, Bonn 1983, S. II.

2 Vgl. Sternberger, D., Komponenten der geistigen Gestalt Europas, in: Merkur.

Zeitschrift für europäisches Denken, 34. Jg., Baden-Baden 1980, S. 237.

3 Zitiert in: Süddeutsche Zeitung vom 16.10.93, S.4.

4 Vgl. Jaspers, K., Vom europäischen Geist, München 1947, S. 9.

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Nikolaus W enturis

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Viel zu oft wird argumentiert, daß die europäische Identität die Herkunft Europas aus gemeinsamer Geschichte sei5. Das heißt, daß das Herkunftsbewußtsein als konstituierendes Element von Identität angesehen werden kann, weil die europäische Gegenwartskultur eine von historischem Bewußtsein geprägte Kultur ist. Zugleich signalisiert die affektive Zuwendung der Europäer zu ihrer Geschichte in den letzten Jahren die destabilisierenden Auswirkungen des heutigen Wandels, der im historischen Bewußtsein den Vertrautheitsschwund der Gegenwart kompensieren möchte®. Es wird ebenfalls häufig argu- mentiert, daß die europäische Identität sich auch aus der Erfahrung der Gegenwart konstituiert, und daß sich die ׳ westeuropäische Fe- stung׳ , d.h. expressis verbis die Abschottung Westeuropas vom nord-, ost-, mittel- und südosteuropäischen Raum, nur begrenzte Zeit durch- halten läßt7. Für die Vertreter einer Argumentation, die sich vom Denken in historischen Dimensionen losgelöst hat, kann das Lernziel in Europa nach dem Abbau der Mauern nicht anders lauten als: Ein- Übung in eine vergessene Tradition, Einübung in das lange vernachläs- sigte, europäische Denken8.

Mit dem Zielprojekt einer politischen Union als dem Telos der euro- päischen Ordnungsstruktur werden Hoffnungshorizonte, Untergangs- Visionen und beschwörende Appelle vermischt und zu einer bizzaren europäischen Wirklichkeit verwoben. Der Grund hierfür liegt möglicher- weise in dem Umstand, daß die Europäer in der Regel eine Vorliebe für die pathetischen Klänge großer Formulierungen verraten, so daß Euro- pa stets weihevolle Girlanden für das Selbstbildnis finden konnte:

Europa als universeller Kunstspender, Europa als nie versiegender Ideenborn, Europa als anthropozentrisches Schatzhaus der Ideale.

Dieser Pathos, dieser rhetorische Schmuck, wird zudem durch die spartanische und deshalb auch anspruchlose Sachlichkeit in der Kon-

5 Vgl. Löwenthal, R., Die Gemeinsamkeiten des geteilten Europas, in: Weiden- feld, W. (Hrsg.), Die Identität Europas, München-Wien 1985; Bondy, F., Selbstbesinnung, Selbstbestimmung: Kultur und Integration, in: Weidenfeld, W., Die Identität Europas, a.a.O.

e Vgl. Weidenfeld, W., Einführung, in: Derselbe, Die Identität Europas, a.a.O., S.10.

7 Vgl. Frei, D., Integrationsprozesse, in: Weidenfeld, W., Die Identität Europas, a.a.O., S. 113 ff.; Rovan, J., Nation und Europa, in: Weidenfeld, a.a.O., S.219 ff.; Kohlhase, N., Strategien der Europapolitik, in: Weidenfeld, a.a.O., S. 255 ff.

8 Vgl. hierzu u.a. Jaspers, K., Drei Gründer des Philosophierens. Plato - Augu- stin - Kant, München 1957; Clagett, M./Post, G./Reynolds, R. (eds.), Twelfth-Century Europe and the Foundations of Modern Society, Madison

19662; Tarn, W., Hellenistic Civilization, London 19593.

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struktion einer 'Einheit in der Vielfalt' ergänzt, da diese emotional vordergründig entlastende, pauschale Erklärung immer wieder über Einwände und Widersprüche hinweghelfen kann. Trotz der erworbenen Salonfähigkeit konnte diese neu erfundene, aber schwermütig geblie- bene Dialektik dennoch keinen Erkenntnisfortschritt hervorbringen, weil sie brauchbare und pragmatische Antworten auf eminent wichti- ge, die Europäische Union betreffende Fragen bis heute schuldig geblieben ist. Denn nach dem neuen europäischen Umbruch und vor allem nach der Beseitigung der Trennung Europas sollte nicht nach geographischen Grenzen, sondern nur nach der geistigen, kulturellen und verfassungspolitischen Gestalt Europas gefragt werden.

Die m it dem eingetretenen ordnungspolitischen Wandel aufgelösten, herkömmlichen Interpretationsmuster haben zur Folge, daß ein drin- gender Bedarf der Europäer an einer neuen ideologieträchtigen Konzep- tion, an neuen europapolitischen Strukturen und an zeitgemäßen wertpolitischen Orientierungspunkten entstanden ist, weil sowohl die Ordnungsrahmen für die eingehenden Informationen als auch das Instrument zur Lokalisierung sozialer Objekte verwischt wurden. Des- halb können Identitätsdefekte zu individuellen und/oder kollektiven pa- thologischen sozialen Prozessen führen, die in der Form eines aggressi- ven oder auch verkappten Nationalismus nicht nur den politischen Eini- gungsprozeß in Europa, sondern auch die vorherrschenden liberal- demokratischen Grundlagen der europäischen politischen Kultur zer- stören können. Diese Gefahr kann überdies durch den Umstand poten- ziert werden, daß im post-kommunistischen Zeitalter besonders hohe Anforderungen an die orientierungsstiftenden nationalen und/ oder transnationalen Institutionen gestellt werden, so daß auch die indivi- duellen und/oder kollektiven Identifikationsmöglichkeiten bei zuneh- mender M obilität, Pluralität und Differenzierung irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Angesichts dieses strukturellen Wandlungsprozesses in den europäischen Gesellschaften ist es mehr als verständlich, daß gerade der Topos 'Europa' mit besonderem Nachdruck erneut zum identitätsstiftenden Bezugssystem erhoben wird.

Das Europa, dessen gemeinsame Identität wir seit dem Zerfall eines der politisch und ideologisch getrennten Lager stärker empfinden als zu früheren Zeiten, ist kein Naturprodukt der Geographie. Die gemein- same europäische Identität ist vielmehr das Resultat einer kulturellen Entwicklung von der Antike bis heute. Diese Gemeinsamkeit Europas umfaßt aber keineswegs nur das sogenannte Westeuropa, sondern es impliziert auch die nordeuropäische, mitteleuropäische, südeuropäische und osteuropäische Region des Kontinents. Aus diesem kultur-histo- risch definierten Europa sind die Grundzüge der modernen Welt mit ihrer institutionellen Vielfalt und ihrer zunehmenden Dynamik, mit ihren wissenschaftlichen und technischen Leistungen, mit ihrer Nei-

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Nikolaus W enturis

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gung zur utopischen Selbstüberhebung und den ihr entspringenden Gefahren entstanden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind die alten, ideologisch geprägten Zuordnungs- und Zugehörigkeitssymbole obsolet geworden. Die Hoffnung auf eine nunmehr greifbar gewordene Einheit Europas wird mit der nicht zu unterschätzenden Gefahr konfrontiert, durch die historische Amnesie von Journalisten, Historikern, kirch- liehen Würdenträgern und Politikern begraben zu werden, die - vom eigenen intellektuellen Pathos entzückt ־ in der Erfindung der Vergan- genheit eine abermalige ideologische Trennung Europas zu konzeptuali- sieren versuchen; denn im post-kommunistischen Europa und allen voran im wiedervereinigten Deutschland glaubt man heute zu wissen, daß die europäische Geschichte neu erfunden und geschrieben werden müsse, um die diplomatisch elegant getarnten nationalen Interessen und Zielsetzungen durch die Rekrutierung des ׳ Wissenschaftlichkeit' vortäuschenden Historizismus zusätzlich ideologisch zu legitimieren.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Abschied von dem klassischen Ost-West-Gegensatz als Folge des Kalten Krieges sind emotionsträchtige Ersatz-Feindbilder salonfähig geworden. Als Konstrukteure und Verteiler dieser neuen Stigmatisierungs- und Dä- monisierungskampagne fungieren (wie so oft in der Vergangenheit) Print- und Massenmedien, Journalisten und Wissenschaftler, Politiker und Kleriker aus den sogenannten rational-aufgeklärten Regionen des europäischen und amerikanischen Kontinents, die überraschenderwei- se mit wiederholtem Nachdruck verkünden, die Ursache des sowjeti- sehen und jugoslawischen Übels u.a. in der Orthodoxie gefunden zu haben9. Ob die zunehmende Verbreitung dieser Ideologie jene Finalität im europäischen Integrationsprozeß langfristig gefährden kann, die auf die Überwindung der Nationalstaaten zugunsten einer föderalen euro- päischen Union abzielt, kann weiterhin kontrovers diskutiert werden;

daß diese post-kommunistische Ideologie eine neue Form des Ras- sismus darstellt und daß sie deshalb weder durch wissenschaftliche Diskurse noch durch die Informationspolitik demokratischer Print- und Massenmedien reproduziert werden dürfte, müßte in jenen európai-

9 Vgl. hierzu den Vortrag des Direktors des Max-Planck-Institutes für európai- sehe Rechtsgeschichte und Frankfurter Universitätsprofessors Michael Stol- leis, den er im Rahmen der Siemens-Stiftung in München gehalten hat und der auszugsweise in der Süddeutschen Zeitung vom 6./7.2.1993 (S. 10) abgedruckt wurde. Weiterhin vgl. Huntington, S., The Clash of Civilization?, in: Foreign Affairs, Summer 1993; außerdem vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25.1.1994 ("Kirchenhistoriker warnt Orthodoxe") S.2; Le Monde -débats- vom 8.4.1994 ("Punir Milosevic") oder vom 7.5.94 ("L'Europe sans le Sud") S.1 sowie die seit zwei Jahren sprunghaft angestiegenen, stark ideologisch gefärbten Publikationen in den französischen, britischen, deutschen und US- amerikanischen Printmedien.

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sehen und amerikanischen Kreisen, die die Demokratie und ihre Feinde ernst nehmen, eigentlich unbestritten sein.

Denn in einer liberal-demokratisch präformierten politischen Kultur sollte die Tatsache einsichtig sein, daß jeder verspätete Versuch, die Weber'sche 'protestantische Ethik' durch die Implikation des Katholi- zismus zu erweitern sowie die Errichtung des Rechtstaates und der Demokratie in der westlichen Welt ausschließlich mit diesen beiden christlichen Gemeinschaften zu verbinden, nicht nur wissenschaftli- eher Unsinn ist, sondern auch in höchstem Maße ideologischer Ob- skurantismus, weil u.a. das Faktum verschwiegen bzw. verdrängt wird, daß z.B. das Übel des Faschismus in vorwiegend katholischen Ländern gewütet hat und daß der menschenverachtende Imperialismus in den vornehmlich kalvinistisch-protestantischen Ländern entsprungen ist; dennoch ist bis heute kein seriöser Wissenschaftler, Journalist, Politiker oder Kleriker auf die Idee gekommen, diese beiden Abarten des menschlichen Geistes und der westeuropäischen politischen Kultur mit diesen Konfessionen im Zusammenhang zu bringen. Der Grund dafür liegt vor allem in dem Umstand, daß die Wiederbelebungsver- suche des europäischen Historizismus sowie die subtile Verbreitung der neo-rassistischen Ideologie und deren Instrumentarisierung im Dienste der Verfolgung nationaler und/oder verkappt nationalistischer Interessen stehen, die u.a. das Ziel haben, eine Neu-Ordnung Europas im Sinne eines modifizierten und der Moderne angepaßten Geistes aus der Zeit des ׳ Wiener Kongresses' zu gestalten.

Bei dieser reaktionär-restaurativen 'Europa-Semantik' handelt es sich konkret um das politische Szenario eines interdisziplinären, ultrákon- servativen Kreises ideologischer Messianisten, der mit Hilfe eines cäsaro-papistischen Manierismus die künftige architektonische Struk- tur des 'Europäischen Hauses' auf den "Fundamenten der west-römi- sehen Kirche"10 errichten will, indem sie den europäischen Neubau mittels eines ausgegrabenen und restaurierten Konfessionalismus an einen historisch-romantischen Idealismus anzubinden versuchen. Nach diesem Konzept soll eine neue, aus Deutschland, Frankreich, Groß- britannien, Italien und Spanien bestehende "Pentarchie ... die Architek- tur des Europäischen Hauses"11 bestimmen, aus dem nicht nur die Türkei wegen des Islams, sondern auch Zypern, Rumänien, Bulgarien sowie Rußland, Weißrußland und die Ukraine wegen der dort vorherr- sehenden orthodoxen Kirche auszuschließen seien12, um dadurch die Grenzen des künftigen Europas eindeutig und unmißverständlich

10 Vgl. den Vortrag von Stolleis, M., in: Süddeutsche Zeitung, a.a.O.

11 Ebenda.

12 Ebenda.

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Nikolaus W enturis

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innerhalb des Einflußbereichs "des römischen Rechtsdenkens ein- schließlich des Kirchenrechts, aber auch anderer bedeutender Kulturlei- stungen der west-römischen Kirche"13 festzusetzen.

Im Duktus eines aus der Mottenkiste der Geschichte geholten Gra- msci'schen Kultur-Chauvinismus wird ein architektonisch separates Gebäude innerhalb des soeben befreiten Europas sophistisch errichtet, mit dem angeblich normativ begründeten Ziel, bestimmte gemeinsame zivilisatorische und kulturell-historische Erfahrungen stilvoll mitein- ander zu integrieren, um sie sodann, mit dem alten politischen Kampf- begriff ,Abendland' definiert, für die jeweiligen national-politischen Interessen zu instrumentarisieren. Abendland, d.h. das ׳Abendländi- sehe', soll der neuen, ideologisch bedingten Spaltung Europas die dazu benötigte mentale Legitimation liefern und eine affektive regionale Identifikation ermöglichen. Mit den sich immer wieder bewährenden obskurantistischen Vorgehensmustern und mit bemerkenswerter Be- harrlichkeit wird dabei völlig ignoriert, daß der Begriff ׳ Westeuropa׳

durch die im Rahmen dieser neuen Ideologie künstlich erstellten Defini- tionsmerkmale eines europäischen Abendlandes geradezu entleert wird - eines europäischen Abendlandes nämlich, das sich ausschließlich durch die gemeinsamen Erfahrungen aus dem lateinischen Christen- tum, der Renaissance, der Reformation, dem Absolutismus, der Auf- klärung, der bürgerlichen und der industriellen Revolution konstituieren soll14.

Die Fragen jedoch, ob Europa ein Kontinent ist, der durch seine Ge- schichte für immer zweigeteilt sein müsse, und ob aus historischen und kulturellen Gründen eine Einigung Europas deshalb nur dort mög- lieh sei, wo sie schon während des ideologischen Ost-West-Gegen- satzes weit vorangeschritten war, in Westeuropa also, lassen sich außerhalb einer ideologischen Betrachtungsweise nicht beantworten.

Trotzdem ist gerade in Deutschland eine Diskussion darüber entstan- den, die ehrgeizig an große Namen und Gegensätze anknüpft. Es gäbe, heißt es, ein vom west-römischen Reich geprägtes Europa, das lateini- sehen Wesens sei, überwiegend katholisch und seit jeher der Hort frei-

13 Ebenda.

14 Zu den Apologeten des neuen ideologischen Obskurantismus in Deutschland gehören (ähnlich wie in Frankreich, Großbritannien oder in den USA) auch Sozialwissenschaftler, die allzu leicht den wissenschaftlichen Erkenntnisfort- schritt durch die ׳ neo-rassistische' Ideologie eines Kultur-Chauvinismus ersetzen. Vgl. hierzu u.a. Weidenfeld, W. (Hrsg.), Die Identität Europas, a.a.O., S .16 ff., und passim; Axt, H.-J., Die Befreiung der Kulturen. Europas Kulturkreise nach dem "Ende der Systeme", in: Südosteuropa Mitteilungen, 33. Jg., Heft 1, München 1993.

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Abbildung

TABELLE  1:  Die  Positionen  der  Mitgliedsstaaten  zur Politischen  Union  (PU)

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