Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 42⏐⏐20. Oktober 2006 A2783 MEDIZINGESCHICHTE
Keine leichte Lektüre
1988 erschien in Science ein Artikel, der sich mit der Frage befasste, ob es ethisch zu rechtfertigen ist, For- schungsergebnisse zu verwenden, die bei verbrecherischen Menschenver- suchen in Konzentrationslagern ge- wonnen wurden. Ganz konkret ging es um die Experimente, die man mit Phosgen, einem chemischen Kampf- stoff, im KZ Natzweiler angestellt hat. Die amerikanische Umwelt- behörde (EPA) erklärte damals, dass man in Zukunft nicht länger auf sol- che Daten zurückgreifen wolle, die ethisch höchst problematisch seien.
Was es mit diesen Menschenver- suchen auf sich hatte und welche Rolle skrupellos Ärzte dabei spiel- ten, kann man jetzt in einem Aufsatz- band nachlesen, der auch die Rolle der Deutschen Forschungsgemein- schaft und staatlicher Organisationen bei der Durchführung und Finanzie- rung beleuchtet. Um es vorwegzu- nehmen: Es ist keine leichte Lektüre, denn Betroffenheit und Grauen stel- len sich fast auf jeder Seite ein. Es geht nicht nur um die mehr oder we- niger durch den Nürnberger Ärzte- prozess und historische Forschungen bekannten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Malaria-, Hyper- thermie-, Kampfstoffversuche), son- dern das Augenmerk richtet sich ganz allgemein auch auf die Frage, warum im 20. Jahrhundert immer wieder (auch nach 1945) und nicht nur in Deutschland (zum Beispiel den USA, Japan) nutzbringende, aber auch eher abwegige und gefähr- liche Humanversuche angestellt wurden, ohne dass die betroffenen Personen darüber aufgeklärt und ihre vorherige Zustimmung eingeholt wurde. Einer der Autoren (Paul Weindling) geht zudem auf die Frage ein, warum die Opfer dieser men- schenverachtenden Versuche als In- dividuen bislang so wenig Aufmerk- samkeit in der Forschung gefunden
haben. Robert Jütte
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Woollffggaanngg UU.. EEcckkaarrtt ((EEddiittoorr)):: MMaann,, MMeeddiicciinnee,, aanndd tthhee SSttaattee.. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century. Beiträge zur Geschichte der Deut- schen Forschungsgemeinschaft, Band 2. Steiner, Stuttgart, 2006, 300 Seiten, 43 A