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A220 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 424. Januar 2003
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ebratene Heuschrecken, hundertjährige Eier oder frittierte Tausendfüßler?Um vor den Kollegen nicht als Hasenfuß dazustehen, fällt die Entscheidung für die Heu- schrecken. Der Geschmack er- innert an scharf gewürzte Pommes frites. Doch dies ist keine Delikatessentour. Viel- mehr sind wir zehn Ärzte aus Deutschland und der Schweiz nach Peking gekommen, um uns in der Traditionellen Chi- nesischen Medizin (TCM) fortzubilden. Ein gewagtes Unterfangen, wenn man be- denkt, dass chinesische Ärzte während ihrer Ausbildung erst nach einem Jahr einen Patien- ten per Nadel traktieren dür- fen und insgesamt fünf Jahre bis zum Abschluss studieren müssen. Natürlich beinhaltet die TCM nicht nur die Aku- punktur, sondern auch Gym- nastik,Massagetechniken,Ord- nungstherapien oder Phyto- therapie. Somit stellt unser An- liegen – auch wenn alle Teil- nehmer über mehrjährige Akupunkturerfahrungen ver- fügen – einen kleinen Affront dar:Man stelle sich vor, eine Delegation ausländischer Ärz- te tauche in einem deutschen Krankenhaus auf, um sich in- nerhalb weniger Wochen die gesamte Schulmedizin aneig- nen zu wollen . . .
Die Verhältnisse in der uns zugewiesenen Ambulanz sind faszinierend: Der erste Patient ist ein freundlicher Herr aus der Nähe von Düsseldorf, der
eine Bandscheibenoperation in Deutschland scheut und sich hier eine Besserung seiner Rückenbeschwerden erhofft.
Der nächste Patient ist ein Bel- gier, der sich durch die chinesi- sche Medizin eine Gewichtsre- duktion und eine Egalisierung seiner Stimmungsschwankun- gen verspricht. Die Gruppe der einheimischen Patienten stellt sich vorwiegend mit ei- ner Mischung orthopädischer (Schmerzen des Bewegungs- und Stützapparates), neurolo- gischer (Schlaganfälle, schlaffe und spastische Lähmungen, Tinnitus) und internistischer Erkrankungen (Diabetes mel- litus, Rheuma, Neurasthenien) vor. Auffällig ist eine extreme Prävalenz von peripheren Fa-
zialislähmungen, einem Krank- heitsbild, auf welches man in Europa doch eher selten trifft.
Eine Akupunktur kostet den chinesischen Patienten nur wenige Cents.An den kur- zen Aufnahmegesprächen zwi- schen Arzt und Patient neh- men auch Unbeteiligte regen Anteil. Die Hygiene in der Ambulanz ist gemessen an westlichem Standard eher niedrig, da zum Beispiel die Akupunkturnadeln zwar in Alkohol desinfiziert, jedoch regelmäßig wieder verwendet werden. Auch werden die Stofflaken der Patientenliegen nur selten gewechselt. Auslän- dische Patienten bringen sich deshalb eigene Einmalaku- punkturnadeln und Laken mit.
In Deutschland ist man ge- neigt, bei chinesischer Medizin an eine „sanfte, patientenori- entierte Medizin“ zu denken.
Tatsächlich wenden die chine- sischen Ärzte ohne Hemmun- gen neben den Akupunktur- nadeln auch Reizstromgeräte und Injektionen an, wobei je- de ärztliche Direktive oder Therapie von den chinesi- schen Patienten ohne Murren akzeptiert wird. So werden beispielsweise Patienten mit Lähmungen der Zungen- oder Augenmuskulatur die Nadeln ohne viel zu fragen in den Zungengrund oder rund um den Augapfel gesetzt. Bei allen Patienten, deren Therapien wir mitverfolgen, kommt es zu subjektiven, aber auch objek- tivierbaren Verbesserungen des Gesundheitszustandes.Al- lerdings werden die Therapie- verläufe von unseren chinesi- schen Kollegen weder eva- luiert noch eingehend doku- mentiert.
Sobald die chinesischen Pa- tienten von uns deutschen Ärzten erfahren, verlieren sie schnell ihre Zurückhaltung vor den „Langnasen“.In Re- aktion auf die Erfolge der deutschen Fußball-National- mannschaft bei der Weltmei- sterschaft in Japan und Süd- korea werden wir von den jün- geren Chinesen oft mit „Claus, Claus – five Points“ begrüßt.
Nach längerem Überlegen interpretieren wir diesen Schlachtruf als „Klose, Klose – fünf Tore“.Dr. med. Steffen Grüner S T A T U S
China-Exkursion
Im Mutterland der Akupunktur
Foto:Steffen Grüner