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Erzählen als therapeutisches Unternehmen: Eine Untersuchung von Alfred Döblins Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“

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Academic year: 2022

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Erzählen

als therapeutisches Unternehmen

Eine Untersuchung

von Alfred Döblins Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende

Martha Altenstein

Die vorliegende Untersuchung von Alfred Döblins Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende folgt sowohl einem literatur- als auch medizinhistorischen Ansatz: Im Zuge ei- nes Vergleichs mit paradigmatischen Werken der Gattung Rahmenzyklus wird die den Roman prägende Darstellung einer fiktiven Erzählsituation als Variation traditioneller Er- zählmuster kenntlich gemacht. So kann zweierlei gezeigt werden: Dem (Geschichten-)Erzählen in Döblins Hamlet kommt eine therapeutische Funktion zu und das Schicksal des Protagonisten erweist sich als eine kritisch- reflexive Aus- einandersetzung mit der Psychoanalyse, die ein für die politi- sche Valenz des Romans grundlegendes Moment darstellt.

12,80 €

ISBN 978-3-96163-189-6 www.readbox.net/unipress

Altenstein Erzählen als therapeutisc hes Unter nehmen

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Erzählen als therapeutisches

Unternehmen

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H|B

Hagener Beiträge zur Literatur- und Medienwissenschaft

Herausgegeben vom Institut für

Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen

Band 6

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Unternehmen

Eine Untersuchung von Alfred Döblins Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende

Martha Altenstein von

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Da- ten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bei der Publikation handelt es sich um eine geringfügig überarbei- tete Fassung der von Prof. Dr. Michael Niehaus betreuten Bachelorarbeit im Studiengang „B.A. Kulturwissenschaften“, die im Sommersemester 2018 am Institut für Neuere deutsche Litera- tur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen vorge- legt wurde.

1. Auflage 2020 ISSN 2512-3327 ISBN 978-3-96163-189-6 readbox unipress

in der readbox publishing GmbH Rheinische Str. 171

44147 Dortmund

http://www.readbox.net/unipress

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1 Einleitung ... 7

2 Variation eines alten Musters: Erzählen nach der Katastrophe ... 13

3 Der gesellschaftliche Wert des Pathologischen – Edwards Kriegsneurose zwischen Gesundheit und Krankheit ... 23

3.1 Kriegsschauplätze – Zur Geschichte der Kriegsneurosen ... 24

3.2 Der Grund der Angst ... 31

4 Erzählen als therapeutisches Unternehmen ... 45

4.1 Erzählen als (Ent-)Mythologisierung ... 45

4.2 Die Wieder-Holung der Vergangenheit: Erzählen als ästhetisches Versteckspiel ... 57

4.3 Vom Fatum zum Heiligen: Die Orientierungsfunktion des Erzählens ... 70

5 Edwards Wahrheitssuche: Die therapeutische Funktion des Hamlet- Mythos ... 83

6 Literaturverzeichnis ... 95

6.1 Primärliteratur von Döblin ... 95

6.2 Andere Primärliteratur ... 96

6.3 Sekundärliteratur ... 97

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Seine Romanpoetik, so stellte Alfred Döblin (1878-1957) immer wieder klar, stehe im Dienste einer Literatur, die nicht nur „einige Oberflächen der Realität“1 imitieren, sondern den orientierungslos gewordenen Menschen in existenziellen Fragen seines Lebens „ehrlich etwas ange- hen“2 könne. So zeugt, ebenso wie sein 1928 gehaltener Vortrag Der Bau des epischen Werkes, auch noch Döblins letzter großer literaturästhetischer Essay Die Dichtung, ihre Natur und ihre Rolle (1950) von der Überzeugung, Dich- tung könne und solle, angesichts des Ungenügens ratio- nalistischer Welterschließung, durch sinngenerierende Überhöhung der Wirklichkeit zur ‚Aufklärung‘ des Men- schen beitragen.3 Die Fragen danach, wie sie das tut, welche Gefahren damit verbunden sind und wo die Grenzen solchen epischen Erkennens liegen, stellte sich Döblin, alarmiert durch die gesellschaftlichen Entwick- lungen in Deutschland, beziehungsweise unter dem Eindruck der Erfahrungen des zunächst französischen (1933-1940), dann amerikanischen Exils (1940-1945), gleichwohl mit erneuter Dringlichkeit und, auch vor dem Hintergrund seiner Konversion zum katholischen Glau- ben (1941), unter veränderten Vorzeichen.4 Ohne die Überzeugung vom gesellschaftlichen Wert von Dichtung aufzugeben, erfuhr Döblins Dichtungsverständnis in den dreißiger und vierziger Jahren so doch eine deutlich

1 Döblin: Der Bau des epischen Werkes, 219.

2 Ebd., 227.

3 Vgl. Döblin: Die Dichtung, ihre Natur und ihre Rolle, 499.

4 Vgl. Kleinschmidt: Die Erfahrung des Fremden, 95-112; vgl.

Emde: Weg zum Christentum, 237ff.; vgl. Birkert: Das Goldene Tor, 208ff.

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(selbst-)kritische Neubewertung. Zu Recht wurde mithin immer wieder auf die Spannung zwischen der zuneh- menden Skepsis Döblins, auch gegenüber der eigenen literarischen Tätigkeit, einerseits und der ungebrochenen literarischen Produktivität sowie dem konstanten, wenn nicht sogar gesteigerten Wirkungsanspruch des Autors auf der anderen Seite in dieser Phase seines Schaffens hingewiesen.5

Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusam- menhang Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1945/46)6 – Döblins letzter großer Roman. Döblin macht darin das Erzählen selbst auf eine Art und Weise und in einem Umfang zum Thema, die als einzigartig für das gesamte Werk des Autors gelten darf. Darauf ver- weist nicht nur die, die gesamte Romanstruktur prägen- de, fiktive Darstellung einer Erzählsituation, sondern auch die breite Ausschöpfung der mit der Form „Rah- menerzählung“7 verbundenen Möglichkeiten poetologi- scher Selbstreflexion im Kontext der um den nach Wahrheit suchenden Protagonisten Edward zentrierten Geschichte. Nachdem das Exil- und Spätwerk Döblins lange unterschätzt und weitgehend vernachlässigt wur- de8, hat sich die Döblin-Forschung wiederholt mit dem

5 Vgl. Auer: Exil vor der Vertreibung, 157-165; vgl. Kiesel: Trauer- arbeit, 195-200. Zu Döblins kulturpolitischen Aktivitäten nach 1945 vgl. Birkert: Das Goldene Tor, 218-229.

6 Döblin: Hamlet. Der Roman wird im Folgenden direkt im laufen- den Text zitiert mit Angabe der Sigle H und der entsprechenden Seitenzahl.

7 Döblin: Journal, 402.

8 Beispielsweise widmet die 1972 veröffentlichte Monografie von Klaus Müller-Salget über Alfred Döblin den einschlägigen Werken nur ein äußerst knappes Kapitel, das überdies mit „Der künstleri- sche Abstieg“ überschrieben ist (Müller-Salget: Werk und Entwick-

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Zusammenspiel des gegenwartsbezogenen Erzählrah- mens und den vorwiegend mythologisch-fiktiven Bin- nengeschichten, kurz – mit der Frage nach der Funktion des Erzählens im Hamlet-Roman, beschäftigt. Die fol- gende Untersuchung schließt daran an, widmet sich dem Thema aber aus einer besonderen, bisher selten berück- sichtigten Perspektive. Ziel der Arbeit ist es, die zuletzt von Werner Nell vertretene These, die Gestaltung der Erzählabsichten und des Aufbaus sowie die Inszenierung der erzählten Geschichten im Hamlet-Roman entsprä- chen der „intendierten therapeutischen Funktion seines [Alfred Döblins; M.A.] Romans“9, näher zu untersuchen.

Im Mittelpunkt des Interesses steht im Folgenden mithin die Frage, inwiefern die Funktion des Erzählens im Hamlet-Roman als therapeutische zu verstehen ist. Lei- tend ist dabei die Annahme, dass Döblin das Erzählen als Mittel der Therapie in Anlehnung an psychoanalyti- sche Therapiemodelle gestaltet hat. Die Untersuchung folgt damit nicht zuletzt einer Anregung des Autors selbst. In einer ebenso vorsichtigen wie präzisen Formu- lierung schrieb Döblin im Journal 1952/1953 über seinen Hamlet: Es wurde „eine Art psychoanalytischer Ro- man.“10 Wohlgemerkt spricht er nicht von einem psy- choanalytischen Roman sans phrase, sondern vergleichs- weise und relativierend von einer Art psychoanalyti- schem Roman. Geschildert wird keine realistische psy- choanalytische Behandlung, sondern ein genuin literari- sches, ein ‚künstlerisches Heilverfahren‘ (vgl. H 130), ein

lung, 375). Zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte des Ro- mans vgl. Genz: Hamlet, 182.

9 Nell: Mythen(de)konstruktion, 85.

10 Döblin: Journal, 402.

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Spiel von Phantasie und Projektionen, das durch die Einfügung der an den Familienabenden erzählten Bin- nengeschichten immer wieder neu entfaltet wird.

Der inneren Logik des Romans folgend liegt der Fokus auf dem Entwicklungs- und Erkenntnisprozess der Figur Edward. Ähnlich wie schon in den Romanen Berlin Ale- xanderplatz (1928) und November 1918 (1943) steht mit ihm das Schicksal eines traumatisierten Kriegsheimkeh- rers und sein Weg in „ein neues Leben“ (H 573) im Mittelpunkt der Erzählung.

Um einen Überblick über die komplexe Romanhandlung zu bekommen, wird zu Beginn der Untersuchung, im Zuge eines pointierten Vergleichs mit paradigmatischen Werken der Gattung Rahmenzyklus, zunächst einmal die besondere Romanstruktur, mithin das Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählungen vorgestellt. Darauf aufbauend wird die Frage nach dem Grund von Edwards Leiden zu klären sein. Ohne den Roman damit auf eine medizinische Fallbeschreibung reduzieren zu wollen, werden – zur Klärung dieser Frage – die wich- tigsten, den zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs prägenden Theorien über die Ursachen von Kriegsneu- rosen hinzugezogen und für die Interpretation dienstbar gemacht. Auf diesem Wege sollen nicht nur wichtige Voraussetzungen zum Verständnis des therapeutischen Potenzials des Erzählens erarbeitet, sondern auch die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der zuneh- menden – auch praktischen – ‚Komplizenschaft‘ der zeitgenössischen Psychiatrie mit dem Krieg als ein für die politische Valenz des Romans grundlegendes Mo- ment erfasst werden.

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Auf dieser Basis gilt es sich schließlich dem therapeuti- schen Prozess, wie er im Roman zur Darstellung kommt, konkret zuzuwenden. Um der Komplexität der Bezie- hung zwischen dem Erzählen beziehungsweise dem Erzählten und Edwards Entwicklung gerecht zu werden, erscheint dabei eine nur bedingt an der im Roman entfal- teten Chronologie orientierte Vorgehensweise sinnvoll.

Die Analyse folgt daher weniger der Reihenfolge der Edward dargebotenen Erzählungen, als vielmehr einer idealtypischen Unterscheidung von drei wichtigen, den therapeutischen Prozess tragenden und aufbauenden Aspekten: Zunächst geht es um das Erzählen als ‚Analy- se-Werkzeug‘, seine die von Edward gesuchte Wahrheit entmythologisierende, enthüllende und zugleich mytho- logisierende, verhüllende Funktion. Anschließend wird die Funktion des Erzählens als eine die Vergangenheit vergegenwärtigende, im wörtlichen Sinne wieder- holende Handlung sowie – drittens – seine Bedeutung im Hinblick auf die Vermittlung eines ethischen, letztlich religiös konnotierten Wissens, also seine orientierungs- stiftende Funktion beschrieben. Zum Schluss der Unter- suchung gilt es, Edwards Entwicklungs- und Erkennt- nisprozess in seiner Bedeutung für das Verständnis der Funktion des Erzählens in dem Roman deutlich zu ma- chen und dessen Stellenwert für die Gesamtinterpretati- on des Romans im Sinne einer intendierten therapeuti- schen Funktion abschließend zu diskutieren.

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2 Variation eines alten Musters: Erzählen nach der Katastrophe

Alfred Döblins Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende besteht aus einer Rahmenhandlung und mehre- ren, insgesamt neun, darin eingelegten Binnenerzählun- gen. Anders als in den meisten klassischen Rahmenzyk- len liegt der Hauptakzent der Bedeutung sowohl dem Umfang nach, als auch thematisch auf Ebene der Rah- menhandlung. Die Binnenerzählungen sind deshalb freilich nicht als bloß schmückendes Beiwerk der Rah- menhandlung aufzufassen – ganz im Gegenteil: Sie sind so kunstvoll in den Rahmen integriert, so wichtig für den weiteren Verlauf der Handlung, dass, um Wolfgang Düsing zu zitieren, „die Erzählungen als Fortführung einer Romanhandlung mit anderen Mitteln anzusehen sind.“11 Zu Recht wurde in der bisherigen Forschung mithin immer wieder auf die vergleichsweise enge Bezie- hung von Rahmen- und Binnenerzählungen im Hamlet- Roman hingewiesen. Selten Beachtung fand: Das, was diese Beziehung überhaupt begründet, stimmt mit einer ganzen Reihe von klassischen Rahmenzyklen überein.

Dem Roman ist ein altehrwürdiges Erzählmuster einge- formt – die europäische Literaturgeschichte kennt es seit Boccaccios Dekameron, Goethe hat es 1795 mit den Un- terhaltungen deutscher Ausgewanderten vorbildhaft in die deutsche Literatur eingeführt: Die Inszenierung des geselligen Erzählens als Mittel zur Bewältigung krisen- hafter Erfahrungen.12 Wie im Dekameron, dem Prototyp

11 Düsing: Novellenroman, 276.

12 Einen guten Forschungsüberblick zur Gattung Rahmenzyklus gibt Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 183ff. Zum für zyklische

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der Gattung, sowie den meisten in dessen Tradition stehenden „Gesellschaftzyklen“13, ist es auch hier eine

„existenzielle Notsituation“14 (in Folge einer realhistori- schen gesellschaftlichen Katastrophe), die zum Erzählen führt. Dem grauenhaften Szenario der durch die Pest verwüsteten Stadt Florenz im Dekameron, oder dem der Revolutionskriege in Goethes Unterhaltungen, entspricht im Hamlet das der Kriegsschauplätze des zweiten Welt- krieges.15

Die Romanhandlung beginnt im Frühjahr 1945 mit der Schilderung des Angriffes zweier japanischer Kamikaze- flieger auf einen alliierten Kreuzer im Pazifik. Gleich auf den ersten (der insgesamt weit über fünfhundert) Seiten des Romans wird damit das traumatische Kriegserlebnis Edwards mit aller Vehemenz in den Vordergrund ge- rückt. Körperlich schwer versehrt – er verliert bei der Schiffsexplosion ein Bein – und vor allem seelisch zer- rüttet kehrt er in seine englische Heimat zurück. Seit jenem Ereignis fühlt er sich ‚enticht‘, seine Psyche ist deformiert: „Mein Hirn zersprengt, pulverisiert zu Ato- men, ich muß es wieder zusammensuchen.“ (H 131) In einer Klinik wird er zunächst von Dr. King, einem Freund seiner Eltern, behandelt, da die medizinisch- analytische Schnelltherapie keine Fortschritte zeigt, auf Drängen seiner Mutter Alice jedoch schon bald nach Hause entlassen, um im Kreise der Familie von seiner

Rahmenerzählungen typischen Erzählmotiv der Krise vgl. ebd.

282ff.

13 Ebd., 284.

14 Vgl. ebd., 290.

15 Auf diese Parallelität verweist Graevenitz: Erzählen nach der Katastrophe, 184. Entsprechende Hinweise finden sich auch bei Klotz: Erzählen, 244f.

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„merkwürdigen Kriegsneurose“ (H 31) zu genesen (vgl.

H 29).

Die das Schiffsdeck „durchbohrende“ und sich in den Maschinenraum ‚einwühlende‘ „Menschenbombe“ (H 9) des Romananfangs korrespondiert mit Edwards Verhal- ten nach seiner Ankunft im Haus: „Er bohrte und bohr- te.“ (H 32) Mit einer „berserkerhaften Hartnäckigkeit“

(H 32) tyrannisiert er alle Hausbewohner, zunächst mit richtungslosen Fragen nach den entlegensten Dingen,

„nach Leuten von gestern, vorgestern“ (H 29). Schon bald beginnen seine Fragen um „ein dunkles Thema“ zu kreisen, „um die Schuld am Krieg“ (H 32) – Fragen mit denen er vor allem seinem Vater Gordon zusetzt, einem berühmten Schriftsteller.

Gordon, der „Phlegmatikus“ (H 33), spürt, ahnt, dass die Anklage ihm und seinesgleichen gelten könnte: „Er litt. Er blickte sich hilfesuchend um. Es waren Kreuz- verhöre, ein Prozess im eigenen Haus.“ (H 33) Als Aus- weg fällt ihm das Geschichtenerzählen ein: „So schmug- gelte Gordon Allison, der sich befreien wollte, seine große Idee ein: statt zu diskutieren – zu erzählen.“ (H 36) Edward und den anderen Familienmitgliedern ge- genüber erklärt Gordon seine Erzählidee wie folgt:

Wir fangen friedlich an, und jeder trägt seine Meinung vor, in einem kleinen oder großen Beispiel, in einer Erzählung, weil dies das beste Mittel ist, etwas zu be- haupten, ohne den anderen zu verwunden. Wir reden, wir überzeugen, wir lernen […] – also überhaupt nicht kämpfen. (H 43)

Ähnlich wie die Erzählanweisung Pampineas im Dekame- ron, dass von außen keine andere Nachricht als eine

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fröhliche zu ihnen (der Brigata) dringen solle16, oder die der Baronesse in Goethes Rahmenzyklus, alle Unterhal- tung über das Interesse des Tages zu verbannen17, zielt auch er darauf dem mit dem kranken Sohn in die Familie einbrechenden ‚Krieg‘ im und durch das Erzählen zu entgehen. Die Wahrheit soll zwar aufgesucht werden, wie Gordon in großer Pose verkündet, „die Wahrheit, die reine, ungeschminkte, vollständige Wahrheit“ (H 36), aber auf Ebene der Fiktionalität (seine, des Schriftstellers Domäne), nicht in der Realität der Umgebung, von der damit bewusst abgelenkt wird: „Er wollte dem Kreuz- verhör entgehen durch Flucht auf ein Gebiet, auf dem er sich sicher fühlte“ (H 36). Ein Gästekreis soll ferner Edwards herausfordernde Gegenwart neutralisieren.

Was im Dekameron und den Unterhaltungen noch gelingt, misslingt hier jedoch. Im kleinen Kreis von Freunden und Verwandten werden verschiedenste Geschichten, meist Neu- oder Umerzählungen literarischer, religiöser oder mythologischer Stoffe vorgetragen, zum Beispiel

„das Abenteuer der mittelalterlichen Prinzessin von Tripoli nach einem Gedicht von Swinburne“18 (H 45ff.), die Geschichte vom Knappen, der seinen Ring verlor (H 142ff.), die „Erzählung vom König Lear“ (H 219ff.) und die Theodora-Legende (H 382ff.). Inhaltlich spiegeln die Geschichten die Situation im Hause Allison wieder. Sie charakterisieren die Erzähler, zeigen, wie die Mitglieder der Familie sich selbst sehen und wie sie von anderen gesehen werden. Jede Erzählung deutet die Familiensitu-

16 Boccaccio: Das Dekameron, 29.

17 Goethe: Unterhaltungen, 139.

18 Döblin: Journal, 403.

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ation dabei – je nach Perspektive des jeweils Erzählen- den – anders, ist Ausdruck der Warnung, Herausforde- rung, Abwehr oder Verteidigung und ruft ihrerseits neue Erzählungen und Gegenerzählungen hervor.19 Einen alten, bis in die Zeit von Edwards Kindheit zurückwei- senden Konflikt der Eltern aktualisierend, entwickelt sich das Erzählen zum „Familienkrieg“20.

Neben Gordon und Alice treten nur um den schwelen- den Konflikt Wissende als Erzähler auf: Der Bruder der Mutter James McKenzie und Miss Virginia – die ehema- lige Lehrerin von Alice.21 Die zunehmenden Spannun- gen in den Gesprächen, Erzählungen und Gegenerzäh- lungen bekommen freilich auch die unbeteiligten Gäste zu spüren. Sie merken „daß man hier streitet und daß es Angreifer und Verteidiger gibt“ (H 375). In der „Arena“

(H 43), wie der Erzähler den Ort der Zusammenkunft nennt, bleibt ihre Rolle jedoch auf die der Zuschauer beschränkt: „Sie saßen in der Loge, mit Operngläsern in der Hand. Fehlte nicht viel, sie hätten applaudiert und gehetzt, denn schließlich war es spannend.“ (H 372)

19 Die einleitend auktoriale Paraphrase der Absichten, die James McKenzie mit seiner König-Lear-Geschichte verfolgt, verdeutlicht beispielhaft diesen Zusammenhang. Ganz entgegen Alices Hoff- nung ihr Bruder würde auf ihrer Seite stehen, beschließt dieser

„etwas in der Linie Gordon Allisons“ (H 214) zu erzählen: „Es wäre noch einmal der alte Ritter aus der Jaufie-Geschichte [die ers- te, von Gordon erzählte Geschichte – M.A.], aber ins Zentrum ge- stellt, mit einer ihm entsprechenden Umgebung. […]/ Die finste- re, beinahe starre Miene Alices verstärkte ihn in seinem Entschluß, für Gordon zu streiten und ihr und Edward das wahre Bild von Gordon zu geben.“ (ebd.)

20 Kiesel: Trauerarbeit, 496.

21 Ganz im Gegensatz zu Gordons anfänglicher Forderung ein jeder solle erzählen (vgl. H 43).

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Vor allem Edward ist es, der das Erzählte auf seine Hin- tergründe hin prüft, mit seinen Fragen provoziert und zu Stellungnahmen herausfordert. Darin bestärkt ihn, schon sehr früh, auch seine Schwester Kathleen, der das Nähe- re allerdings auch unbekannt ist: „Es ist, als ob die El- tern einen ewigen Streit haben, den sie nicht austragen.“

(H 199) Die analytisch erlangte Überzeugung, dass er von allen Seiten belogen wird, steigert sich zum Such- zwang, dem er hingegeben ist:

Ich leide an der Maulwurfskrankheit und habe mich in einen Maulwurf verwandelt, der unter dem Boden kriecht und an den Wurzeln beißt, aus denen ihre schönen Pflanzen wachsen. (H 287)

Gordon wird für ihn dabei umso mehr Objekt der Nachforschungen und des Hasses, als er – unter dem Einfluss von Indizien und den Erzählungen seiner Mut- ter, die dazu seine Labilität und leichte Lenkbarkeit aus- nutzt22 – immer mehr die Geschichte der Zurichtung der Mutter durch die Gewalt des Vaters zu vermuten be- ginnt. Dass man sich seinen Bemühungen um Aufklä- rung hartnäckig entzieht, bestärkt ihn in seinem Ver- dacht und bringt Edward schließlich auf den Gedanken, seine Situation entspreche der Hamlets, der unaufhörlich sucht, „den man belügt, den man zerstreuen will“

(H 206), einer der nichts weiß, bloß ahnt: „Er hat An- haltspunkte, gewisse Verdachtsmomente“ (H 207).

22 Die Situation wird von dem Familienkenner Dr. King klar begrif- fen: „Ein getretenes Geschlecht, das immer wieder um seine Auf- richtung kämpft und wie die Terroristen vor keiner unmenschli- chen Gewalttat zurückschreckt. […] Sie hat ihn [Edward] ins Haus geholt um ihre Tat zu verüben.“ (H 424)

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Mit der Eskalation des sich zuspitzenden Konflikts der Eltern im „offenen Kampf“ (H 340), kommt es schließ- lich zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung auf dem Dachboden des Hauses, in der Gordon sich zu einem Hassausbruch gegenüber Edward hinreißen lässt.

Als Gordon daraufhin abreist, empfindet sich Alice als Siegerin, die den Feind in die Flucht geschlagen hat:

„Der Böse ist weg. Der Tyrann ist verschwunden. Ich habe den Krieg gewonnen.“ (H 426) Edward wird durch das dramatische Ende der Erzählabende sehr in Mitlei- denschaft gezogen. Er fühlt sich verantwortlich für das Geschehene und bricht in Tränen aus – Zeichen der Erschütterung und zugleich der sich anbahnenden Be- freiung: „Es war, als ob sich der letzte Rest des Steines, den er in sich trug, in diesen Tränen auflöste. Danach war er freier, offener.“ (H 423) Er bittet seine Mutter nun um die Offenlegung der ganzen Wahrheit über den Streit, „ohne Bild und ohne Gleichnis“ (H 449), was Alice trotz des feierlichen Versprechens nicht zur Genü- ge tut. Um den ohnehin stark auf sie fixierten Sohn noch weiter auf ihre Seite zu ziehen, stellt sie die Ehe mit Gordon als einziges Martyrium dar und eröffnet ihm, dass nicht Gordon, sondern ihr Geliebter Glenn Washtrook sein Vater sei – ein Marineoffizier, den sie zu Beginn ihrer Ehe noch gelegentlich traf. Ohne zunächst zu wissen, dass ihre Ausführungen nicht der Wahrheit entsprechen, vermutet Edward sogleich, von seiner Mutter instrumentalisiert worden zu sein: „Man hat mich mißbraucht. Ich bin in den Krieg gezogen für eine Sa- che, die ich nicht kannte.“ (H 453)

Der letzte Teil des Romans berichtet davon wie Edward sein „Heilung selbst in die Hand nimmt“ (H 490) und

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führt das intratextuelle Kommentarpotenzial der mytho- logischen Binnengeschichten in Bezug auf das Schicksal der Eltern weiter aus. Alice bricht, wie die Figur der Theodora, mit ihrer bisherigen Existenz und begibt sich in ein Leben als Dirne, später verwahrlost sie – aus freien Stücken – zum willenlosen Objekt eines Pariser Varieté-Dresseurs. Auch Gordon macht einen umfas- senden Transformationsprozess durch und anverwandelt sich der Geschichte des Lord Crenshaw, eine der von ihm erfundenen Figuren mit „auswechselbarer Persön- lichkeit“ (H 42), die ohne Plan durch das Land zieht. Am Ende begegnen sich beide in Paris wieder und vergeben einander, geläutert durch das Auseinanderbrechen der Familie, ein Vaterunser betend, bevor Gordon an den Folgen eines Treppensturzes und auch Alice stirbt.

Edward entwickelt, wie Döblin es in einem Kommentar 1955 nennt, einen „Wille[n] zur Aktivität“, wird „weltof- fen“23. Er nimmt sein Studium wieder auf (H 492), ver- schenkt seinen ererbten Besitz und lässt, wie der verhei- ßungsvolle Schlusssatz des Romans verspricht, die lan- gen Schatten der Vergangenheit hinter sich zurück: „Ein neues Leben begann.“ (H 573)

Wie im Dekameron oder den Unterhaltungen wird mithin auch im Hamlet-Roman am Ende die Bewältigung jener am Beginn der Narration stehenden Krisensituation erreicht – wie das immer wieder evozierte Bild des Hau- ses als „Kriegsschauplatz“ (H 417) nahelegt, allerdings auf andere Weise. Mit der Inszenierung des Erzählens als eine konfliktträchtige, das ohnehin labile Familiengefüge zerstörende Auseinandersetzung, hat Döblin das traditi-

23 Döblin: Von Leben und Tod, 500f.

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onelle, in klassischen Rahmenzyklen vorgeformte Er- zählmuster (Krise – Narration – Neubeginn) variiert.

Während das Erzählen im Dekameron oder den Unterhal- tungen eine harmonische, gemeinschaftsstiftende, das bedrohliche Außen räumlich und gedanklich ausklam- mernde Unterhaltung ermöglicht, ist hier gewissermaßen das Gegenteil der Fall. Hier vollzieht sich der erzähleri- sche Bewältigungsprozess auf eine Weise, die sich als

‚Vertiefung der Krise‘ verstehen lässt.24

24 Sowohl im Dekameron als auch in den Unterhaltungen erzeugt das Erzählen ein stabiles soziales und narratives Gefüge, eine durch sprachliche Handlungen verbundene Gemeinschaft, die, zumin- dest potenziell, auch nach Beendigung der Unterhaltungssituation die dauerhafte Rekonstitution der gesellschaftlichen Harmonie leistet (vgl. Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 23f., 176f.). Wie im Verlaufe dieser Arbeit deutlich wird, gilt das gleiche auch für den Hamlet-Roman. Die ‚Existenzerhellung‘ der einzelnen Figuren geht hier freilich mit einer ‚Verdunkelung‘ des Horizontes der Fa- milie einher (vgl. Grevel: ‚Michelangelo-Komplex‘, 103).

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3 Der gesellschaftliche Wert des Pathologischen Edwards Kriegsneurose zwischen Gesundheit und Krankheit

Bis zu seiner Flucht aus Deutschland 1933 führte Alfred Döblin eine Art Doppelleben. Parallel zu seiner schrift- stellerischen Tätigkeit praktizierte er nach seiner Disser- tation bei dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche (1905) zunächst als Assistenzarzt in verschiedenen psy- chiatrischen und internistischen Kliniken. 1911 ließ er sich mit einer eigenen Kassenarztpraxis im Berliner Osten nieder – erst als praktischer Arzt und Geburtshel- fer, nach seinem Einsatz als Militärarzt im Ersten Welt- krieg als Internist und Nervenarzt. Der Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung Döblins mit der Psy- choanalyse wird in der Forschung auf das Jahr 1919 angesetzt. In den darauffolgenden Jahren berief er sich in mehreren Aufsätzen und Rezensionen wiederholt zustimmend auf Freud und bezeichnete sich sogar selbst immer wieder als praktizierenden Psychoanalytiker.25 Döblin war freilich nie ein unkritischer Freud-Verehrer und – immer auf Originalität bedacht – nie ein orthodo- xer Freudianer. Kontinuierlich kritisch äußerte sich Döblin über dogmatische, sektiererische und sich herme- tisch abschließende Tendenzen der psychoanalytischen Bewegung. Viele von Freuds Ausführungen waren ihm

25 Bei aller „Kritik in Einzelfragen steht Döblins Hochschätzung der Psychoanalyse und insbesondere der Leistung Freuds in den zwanziger Jahren außer Frage.“ (Anz: Alfred Döblin und die Psy- choanalyse, 20f.) Zum Verhältnis Döblins zur Psychoanalyse vgl.

auch Sander: Alfred Döblin, 27ff., 340ff.; vgl. Füchtner: Östlich um den Alexanderplatz, 30-50 sowie insbesondere die umfangrei- che Studie von Maaß: Individuation und Regression, 21-79.

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zu spekulativ, klangen ihm zu lyrisch. Bisweilen finden sich auch Einwände prinzipieller Art, so etwa in der Sammelbesprechung Die Seele vor dem Arzt und dem Philo- sophen aus dem Jahre 1926. Darin übt Döblin Kritik an Freuds Menschenbild und an monokausalen Erklä- rungsmustern:

Greifbar liegt in Freuds Lehre eine Vernachlässigung eines gewaltigen Seelenzentrums vor, des ursprüngli- chen und echten entfaltungsbedürftigen Ichs. Statt dessen hat Freud ein Surrogat gegeben, ein Ichideal kümmerlicher Art, das er von der Familienautorität herleitet. Er greift damit ebenso fehl wie Adler mit sei- ner ‚Minderwertigkeit‘, die an allem schuld sein soll.26 Im hiesigen Zusammenhang erscheint insbesondere Döblins Wissen über und Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse der Kriegsneurosen von Bedeutung.27

3.1 Kriegsschauplätze – Zur Geschichte der Kriegsneurosen

Charakteristisches Symptom von Kriegsneurosen sind anfallartig auftretende Angstträume und Dämmerzu- stände. Dem bewussten Zugriff weitgehend entzogen, wird die traumatische Erfahrung immer wieder von neuem durchlebt, so als wäre heute nicht heute, gestern

26 Döblin: Die Seele vor dem Arzt und dem Philosophen, 80.

27 Der 5. Internationale psychoanalytische Kongress in Budapest (28.-29. September 1918) markierte den Höhepunkt der Bemü- hungen um wissenschaftliche und militärische Anerkennung des psychoanalytischen Konzepts im Ersten Weltkrieg. Zur Psycho- analyse der Kriegsneurosen lautet der Titel der zu diesem Anlass veröffentlichten Anthologie, die neben einer Einleitung von Freud, die vorgetragenen Referate von Abraham, Ferenczi und Simmel sowie einen von Ernest Jones vor der Royal Society of Medicine in London am 9. April 1918 gehaltenen Vortrag enthält.

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nicht gestern – oft einhergehend mit körperlichen Aus- fallerscheinungen wie etwa starkem Zittern, Erbrechen, Sprach- und Wahrnehmungsstörungen oder Lähmungs- erscheinungen.

Im Ersten Weltkrieg traten diese, heute als ‚Posttrauma- tische Belastungsstörung‘ bezeichneten, psychopatholo- gischen Phänomene erstmals, in einer bis dahin nie da gewesenen Masse auf. Döblin war das Krankheitsbild mit Sicherheit vertraut, sowohl durch seine eigene lang- jährige, praktische Tätigkeit als Psychiater als auch durch die Lektüre der entsprechenden Fachliteratur.28 Auf seinen Einsatz als Militärarzt im Ersten Weltkrieg zu- rückblickend, schreibt er 1928:

Im Krieg sind viele erkrankt nach Erschütterungen, Granatexplosionen, Bombenabwürfen. In ihren Träu- men trat immer diese Situation vor sie; beängstigte sie.

Warum? […] Das ist die Gegenreaktion ihrer Seele. Sie ist erkrankt, weil sie sich damals nicht wehren konnte, weil sie zu heftig, zu plötzlich überrumpelt, überrascht wurde. Jetzt zaubert sie sich im Traum die Situation vor, geht sie von neuem an, und allmählich erstarkt sie daran. Der Schock heilt aus.29

Die traumatischen Szenen bedürfen keiner Deutung. Als präzise Reproduktionen wiederholen sie die Kriegserleb- nisse der Neurotiker, ohne jede Verschiebung oder Ver- dichtung. Gerade darin begründeten sich wohl die Schwierigkeiten Sigmund Freuds mit der Kriegsneurose.

Wenngleich er, auch nach Aufgabe seiner ‚Verführungs- theorie‘, daran festgehalten hatte, dass die traumatische Urszene in manchen Fällen tatsächlich auf real Erlebtes zurückzuführen sei, blieb für ihn in der Theorie der

28 Vgl. Füchtner: Östlich um den Alexanderplatz, 39.

29 Döblin: Erster Rückblick, 148f.

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Neurosen fortan doch allein die „psychische Realität die maßgebende“.30 Die Ursache der Neurosen wurde nun- mehr im inneren, triebbedingten Konflikt des Kindes, das heißt in dessen unbewussten Phantasieleben lokali- siert, die Frage nach der Realität (frühkindlicher) trauma- tischer Erfahrungen damit ebenso umgangen wie ausge- blendet:

Man könnte sagen, bei den Kriegsneurosen sei das Ge- fürchtete, zum Unterschied von der rein traumatischen Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneu- rosen, doch ein innerer Feind. Die theoretischen Schwierigkeiten, die einer solchen einigenden Auffas- sung im Wege stehen, scheinen nicht unüberwind- lich.31

Nicht der Krieg, sondern unbewältigte ödipale Konflikte waren demnach als Ursache der Kriegsneurosen anzuse- hen. Freuds Schüler, die auf dem großen internationalen psychoanalytischen Kongress in Budapest 1918 referier- ten, sahen sich mit der gleichen Aufgabe konfrontiert, die Freud über zwanzig Jahre zuvor mit der Aufgabe der

‚Verführungstheorie‘ gemeistert zu haben schien: das äußere Gewaltereignis in einen inneren Konflikt zu

30 Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 359.

31 Freud: Einleitung, 7. Zu Freuds (Aufgabe der) ‚Verführungstheo- rie‘ vgl. Fischer-Homberger: Medizingeschichte des Traumas, 277f. In Jenseits des Lustprinzips (1920) berücksichtigte Freud mit seiner Theorie des Schocks, als einer plötzlichen und gewaltsamen Durchbrechung des vom Bewusstsein errichteten Reizschutzes, wieder zunehmend auch äußere, unerträglichen Situationsfaktoren als Traumafaktoren (vgl. ebd.). Hinsichtlich der Frage nach der Relation von inneren übermäßigen Triebregungen und äußeren re- alen Ereignissen bei der Neurosenentstehung blieb er bis zu sei- nem Tod jedoch indifferent. Vgl. dazu ausführlich Grubrich- Simitis: Trauma oder Trieb, 637-656.

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transformieren.32 Sie betonten daher vor allem sexuelle Symptome wie Impotenz oder Homosexualität und versuchten das Trauma – in theoretischer Hinsicht – als Störung des Narzissmus zu begreifen.33 Die Kriegsbeja- hung gehörte damit zur inneren Natur eines jeden Ge- sunden: „Wir gelangen […] zu dem tröstlichen Schluß“, so der Analytiker Ernest Jones,

daß ein normaler Mensch auch der drohendsten Ge- fahr frei von Angst, furchtlos wie Siegfried, gegenüber- stehen müßte; solche Menschen scheint es, erfreuli- cherweise in unserer Armee in reichem Maße zu ge- ben.34

In den Kreisen der führenden Militärpsychiater vertrat man – im Anschluss an die Lehren Hermann Oppen- heims – zunächst die Auffassung, dass Kriegsneurosen auf eine durch Schreck und Erschütterungen, etwa durch Granatexplosionen, verursachte organische Schädigung des Gehirns zurückzuführen seien. Schon nach wenigen Kriegsmonaten, spätestens jedoch mit der großen Mün- chener Kriegstagung der Psychiater 1916, setzte sich die Theorie einer reinen Psychogenese dieser Krankheitser-

32 Vgl. Ubl: Fremdkörper und Geheimnis, 164.

33 Sandor Ferenczi wies auf die regressive Gesamtpersönlichkeit der Traumatiker hin, die eines „infolge Erschreckens verängstigten, sich verzärtelnden, hemmungslosen, schlimmen Kindes“ gleiche (Ferenczi: Psychoanalyse der Kriegsneurosen, 28). Karl Abraham behauptete Kriegsneurotiker seien labile, im praktischen Leben ge- scheiterte Menschen, ihr gestörter Narzissmus zeige sich in der

„Aufdringlichkeit [ihrer] Symptome“ sowie durch ihre unmännli- che Haltlosigkeit und Niedergeschlagenheit. „Viele Kranke zeigen sich vollkommen weiblich-passiv in der Hingabe an ihre Leiden. “ (Abraham: Erstes Korreferat, 35) „Der Gesunde“ aber sei „zur Aufopferung seines Ich für die Gesamtheit fähig“ und auch bereit.

Er unterdrücke seine Selbstliebe und seinen Selbsterhaltungstrieb zugunsten der "ideellen überwertigen Vorstellungen“ (ebd., 33f.).

34 Jones: Kriegsneurosen und die Freudsche Theorie, 80f.

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scheinungen durch. Nicht mehr mikromolekular demo- lierte Nervenzellen, sondern der mehr oder weniger bewusste Wunsch sich den Todesgefahren und den Entsagungen des Kriegseinsatzes durch „Flucht in die Krankheit“35 zu entziehen, innere Fehlbildungen oder Fehlverhalten der Soldaten, mithin die Betroffenen selbst wurden nunmehr für ihre Leiden verantwortlich gemacht.36 Die therapeutische Antwort darauf war die Anwendung von „Zwangs- und Abschreckungsthera- pien“37. Besondere Verbreitung fand die Behandlung mit Hypnose oder Wortsuggestionen, gepaart mit Elektro- schocks – die sogenannte Kaufmann-Kur. Auch Schein- operationen, Zwangsexerzierübungen oder dauernde Bade- und Isolierungskuren waren üblich. Ziel all dieser sogenannten ‚aktiven Therapieverfahren‘ war es, den Patienten durch Induktion von Angst, Schreck und körperlichen Schmerz den ‚sekundären Krankheitsge-

35 Riedesser/ Verderber: Maschinengewehre, 35.

36 Die Psychologie, samt Psychoanalyse, erlebte damit einen enor- men Anerkennungsschub. Freud kommentiert 1918: „Während der Beschäftigung mit den Kriegsneurosen, die ihnen durch die Anforderungen des Heeresdienstes auferlegt wurde, sind auch sol- che Ärzte psychoanalytischen Lehren näher gekommen, die sich bisher von ihnen ferngehalten hatten.“ (Freud: Einleitung, 5) Vgl.

Schäffner: Ordnung des Wahns, 359 ff.

37 Fischer-Homberger: Der Begriff Krankheit, 235. Der überaus rigide Kurs der Psychiater gegenüber den Kriegsneurotikern legte den Einfluss rassenhygienischer Ideen offen zu Tage. „Die Bes- ten“ so lässt sich etwa der Psychiater Max Nonne in kruder sozial- darwinistischer Diktion vernehmen, „werden geopfert, die körper- lich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge wer- den sorgfältig konserviert, anstatt daß bei dieser günstigen Gele- genheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zehrenden Parasiten verklärt hätte.“ (Max Nonne: Therapeutische Erfahrungen, 112, zit. n.: Quinkert u.a.: Einleitung, 18.)

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winn‘ zu nehmen und so möglichst schnell an die ver- gleichsweise erträglichere Front zurück zu treiben.38 Dem Trauma wird mit einem traumatischen Gegen- schlag begegnet, wie der Psychiater Ludwig Mann es formuliert:

Möge man es zunächst auch eigentümlich finden, wenn man die Wirkung einer faradischen Pinselung etwa mit der Wirkung des Trommelfeuers an der Somme vergleichen will; ich glaube aber doch sagen zu können, dass die faradische Pinselung eben nur dann heilend wirkt, wenn sie für den Patienten ein mächtiges neues Erlebnis vorstellt, welches dem Eindruck der Kriegsereignisse sich einigermaßen an die Seite stellen kann. 39

Seitens der Psychoanalytiker kamen deutlich ‚sanftere‘

Therapiemethoden zum Einsatz. Ernst Simmel – ein psychoanalytischer Autodidakt – hatte als Alternative zur herkömmlichen, langsam wirkenden psychoanalytischen Methode – aus einer „Kombination von analytisch- kathartischer Hypnose mit wachanalytischer Aussprache und Traumdeutung“40 ein von Freud durchaus gewür- digtes modifiziertes psychoanalytisches Schnellverfahren entwickelt.41 Durch das wiederholte Nacherleben der

38 Vgl. Riedesser/ Verderber: Maschinengewehre, 48; vgl. Roth:

Modernisierung der Folter, 8-75.

39 Mann: Neue Methoden und Gesichtspunkte, 1337, zit. n.: Horn:

Erlebnis und Trauma, 137f.

40 Simmel: Zweites Korreferat, 43.

41 In Freuds Einleitungsreferat in Budapest 1918 heißt es: „Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenan- wendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und

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traumatischen Kriegserlebnisse in der Hypnose konnte der eingeklemmte Affekt gelöst, der Patient sich abrea- gieren und so – laut Simmel – in durchschnittlich zwei bis drei Sitzungen eine Befreiung von kriegsneurotischen Symptomen erreicht werden. Nach Meinung Simmels hätte er es „nicht nötig, seinen in die Krankheit gehetz- ten Patienten in die entgegengesetzte Richtung zu ja- gen.“ Im Gegensatz zu den Psychiatern, die ein „System von Qualen ersonnen“ hätten, würde er dem Kranken

„die Ketten seines Unbewussten nehmen und […] den Neurotiker in die Gesundheit als Erlösung hinübergelei- ten“.42 Auch für ihn bestand diese ‚Gesundheit‘ und

‚Erlösung‘ freilich darin, den Kriegsdienst möglichst schnell wieder aufnehmen zu können.43

Unter dem Druck, den Massenerkrankungen und Zeit- not auslösten ergab sich ein erstaunlicher Effekt. So manifest die kriegsneurotischen Symptome auch waren – Psychiater und Psychoanalytiker, anfangs noch einander radikal entgegengesetzt, kamen darüber überein, dass der Krieg selbst keine Auswirkungen haben würde. Beide beschleunigten die Therapien und verwendeten die Hypnose „als den in idealer Weise effektiven militäri- schen Befehl“44 und Therapie zugleich. Die Ärzte wur-

wichtigsten Bestandteile werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind.“

(Freud: Wege der psychoanalytischen Therapie, 249) Nach dem Ende des Krieges distanzierte sich Freud wieder von der Idee ei- ner „Psychotherapie fürs Volk“ (ebd.). Vgl. Schäffner: Ordnung des Wahns, 372f.; vgl. Roth: Modernisierung der Folter, 30.

42 Simmel: Zweites Korreferat, 60.

43 Vgl. auch Simmel: Kriegsneurosen und ‚psychisches Trauma‘, 68.

44 Schäffner: Ordnung des Wahns, 360.

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den zu „Maschinengewehren hinter der Front“.45 Wäh- rend der Krieg aus den ätiologischen Theorien ver- schwand, zog er in die Therapie selbst ein; die Behand- lungsmethoden der Psychiater und der Psychoanalytiker, so der Historiker Wolfgang Schäffner, wurden „dem Geschehen auf den Schlachtfeldern immer ähnlicher.“46 3.2 Der Grund der Angst

Insgesamt finden sich im Hamlet-Roman sieben Darstel- lungen von Angstanfällen, die Edward eruptiv mit der Stärke einer Halluzination immer wieder überfallen. Dass sich Edwards Wahrheitssuche von Anfang an und dann im zunehmenden Maße mit der Familie beschäftigt, wird

45 Freud: Gutachten 14.10.1920, zit. n.: Riedesser/ Verderber: Ma- schinengewehre, 64. Das zitierte Gutachten entstand im Zuge des Prozesses gegen den Psychiatrieprofessor Julius Wagner-Jauregg in dem dieser von einem seiner ehemaligen Patienten der Folter be- zichtigt wurde. Freud äußerte sich darin ausgesprochen kritisch über die kruden Behandlungsmethoden der Psychiater, betrachtete Wagner-Jauregg persönlich jedoch nicht als verantwortlich. Er wurde freigesprochen. Vgl. dazu Büttner: Freud und der erste Weltkrieg, 103ff.

46 Schäffner: Ordnung des Wahns, 378. Im Dritten Reich wurde der Konsens, der sich während der Ersten Weltkrieges innerhalb der großen Mehrheit der Ärzte herausgebildet hatte, zur ausschließlich akzeptierten (und in der Praxis umgesetzten) Lehrmeinung. Nach der drastischen Verschärfung der Kriegslage im Sommer 1941 kam es erneut zu einem massenhaften Auftreten der typischen kriegs- neurotischen Symptome. Ab 1943 erfolgte eine zunehmende Ra- dikalisierung der therapeutischer Maßnahmen: Die Psychiater ver- wendeten immer stärkere und öfter wiederholte Stromstöße, die Psychoanalytiker verschafften ihren Patienten einen „Ersatz der vorhergehenden Abneigungsvorstellungen durch eine neue Vor- stellung weit schrecklicheren Inhalts.“ (Roth: Modernisierung der Folter, 75) Vgl. Quinkert u.a.: Einleitung, 19ff. Kriegsneurotiker gehörten auch zu den Opfern der T4-Krankenmordaktionen (vgl.

Rauh: Von Verdun nach Grafneck, 54-74); vgl. dazu Döblin: Die Fahrt ins Blaue, 210-214.

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individualpsychologisch damit erklärt, dass die „Bombe“

(H 24) noch eine weitere, viel ältere unbewusste Erinne- rung wachgerufen hat – das Bild einer „Kampfszene“ (H 278), in der Edward als Kind zwischen die Fronten seiner Eltern geriet und von seinem Vater tätlich be- droht wurde. Beide Bilder scheinen sich in Edwards Psyche ständig zu überlagern und ineinander zu schie- ben. Subtil deutet sich dies anhand seiner Mimik und Gestik während der Anfälle an. Sie vermittelt den Ein- druck als befinde er sich im „Kampf mit einem unsicht- baren Gegner“ (H 12). Immer wieder hebt Edward schützend den Arm „als ob er einen Schlag erwarte[n]“

(H 338) würde, sein Gesicht wird verzerrt vom Aus- druck der Angst, Wut und Verzweiflung (H 17). Wo der Inhalt von Edwards Angstträumen direkt wiedergegeben wird, lässt sich kaum unterscheiden, um welches Schre- ckensbild es sich handelt:

Es flammte auf. Eine Feuersäule stieg hoch, Asche, Splitter. Und etwas flog herunter, streckte die Arme aus, ein Mensch stürzte an seine Brust. Jemand schrie und rief ihm zu kommen, eine Frauenstimme? (H 51).47

Die Einschätzung, Döblin habe sich bei der Modellie- rung seiner Edward-Figur durch das psychoanalytische Konzept über die Ursachen von Kriegsneurosen inspi- rieren lassen, erscheint naheliegend. Die Parallelen sind kaum zu übersehen:

Die psychoanalytische Logik sagt, die Macht der trau- matischen Kriegsbilder entstehe nur deshalb, weil diese

47 Am deutlichsten wird die Überlagerung der traumatischen Erinne- rungsbilder in der Enthüllungsszene auf dem Dachboden (vgl. H 417f., zitiert in Kap. 4.2).

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mit traumatischen Szenen aus der Kindheit assoziiert werden, die das Zentrum der neurotischen Mechanis- men bilden.48

Auch Edwards (titelgebende) Identifikation mit Hamlet deutet in diese Richtung. Während Ödipus den manifes- ten Trieb repräsentiere, da hier „die Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Licht gezogen und reali- siert“ sei, so führt Freud in der Traumdeutung aus, of- fenbare Hamlet,

das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Ge- mütsleben der Menschheit. […] Im Hamlet bleibt sie verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz – dem Sachverhalt bei einer Neurose ähnlich – nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen.49

Für Freud war Hamlet das Modell des Neurotikers schlechthin. Hamlets Zögern Claudius zu töten und damit die von ihm geforderte Rache für den Mord an seinem Vater zu vollziehen, ist seiner Interpretation zufolge auf einen ungelösten ödipalen Konflikt zurück- zuführen, der aus dem inzestuösen Begehren der Mutter und aggressiven Gefühlen gegenüber dem Vater resul- tiert – für Freud (nach Aufgabe seiner ‚Verführungsthe- orie‘) und Generationen von Psychoanalytikern nach ihm der „Kernkomplex einer jeden Neurose“50.

Der Schock, den Edward durch das Kriegserlebnis erlit- ten hat, wäre demnach als „nur das auslösende Mo- ment“51 einer bereits vor dem Krieg latent bestehenden

48 Schäffner: Ordnung des Wahns, 375.

49 Freud: Die Traumdeutung, 270f. (eigene Hervorh.).

50 Freud: Über Psychoanalyse, 37.

51 Düsing: Erinnerung und Identität, 151. Vgl. auch: „Der Fliegeran- griff entwickelte sich nur deshalb zu einem psychischen Trauma, weil er unbewußt mit dem Angriff des Vaters verknüpft wurde.“

(ebd., 160)

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Erkrankung anzusehen, während die „eigentliche Ursa- che“52 seines Leidens in der psychosexuellen Konstella- tion der Familie zu suchen sei.53 Fraglos – Döblins Text vollzieht diese Bewegung präzise nach. Rückschreitend von den Wirkungen zu den Ursachen führt Edwards Wahrheitssuche fort, immer weiter vom Krieg weg in die familiäre Konstellation hinein.54 Immer bestimmter nimmt er an, mit der Entdeckung der familiären Situati- on möge er an sein in ihm verborgenes, unangreifbares Rätsel herankommen, seine Angst hätte mit dem im Hause im Gange befindlichen Kampf zu tun: „Es ist etwas nicht richtig im Haus.“ (H 200) Die Familienkons- tellation ergibt dabei eine engere Beziehung zwischen Mutter und Sohn, Vater und Tochter – eine Konstellati- on, die Kathleen treffend als „umgekehrten Ödipus- komplex“ (H 141) bezeichnet. Das konventionell ge- meinte bleibt erkennbar, muss sich jedoch merklichen Veränderungen unterziehen. Ein Wortwechsel zwischen Dr. King und Alice, noch vor Edwards Entlassung aus der Klinik, verrät explizit die im Hintergrund themati-

52 Düsing: Novellenroman, 274.

53 Auf Döblins kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der Psy- choanalyse im Hamlet hat erstmals Wolfgang Schäffner aufmerk- sam gemacht (vgl. Schäffner: Der Krieg ein Trauma, 31-46). So- fern der Zusammenhang von Kriegstrauma und kindlichem Trauma überhaupt näher in den Blick kam, wurde dieser, in Über- einstimmung mit dem zeitgenössischen psychoanalytischen Kon- zept über die Ursachen von Kriegsneurosen, (dennoch) immer wieder als kausaler interpretiert. So etwa (auch) von Maaß: Indivi- duation und Regression, 146f. und Emde: Weg zum Christentum, 315, 325, 345. Das Kriegstrauma als Ursache von Edwards Leiden bleibt bei einer solchen Deutung unterbelichtet, der Widerspruch zu der den Roman bestimmenden, genuin ethischen Perspektive auf das Kriegsschuldproblem (konsequenterweise) bestehen.

54 Vgl. Schäffner: Ordnung des Wahns, 361. Vgl. Kap. 4.1.

(36)

sierte psychoanalytische Problematisierung der Mutter- Sohn-Beziehung55:

„Sie wissen, Doktor, wie wir zueinander standen.“/

„Natürlich. Aber man weiß nie. Vielleicht standen sie zu gut zu ihm.“/ „Ach was, euer psychoanalytischer Unsinn. Gönnen Sie ihn mir doch. Um Gottes Willen, warum nicht? Warum quälen Sie mich so? Ich hatte ihn fast verloren. Ich war schon mit ihm gestorben. Geben Sie ihn mir wieder.“ (H 26)

Die Erzählerstimme erhält bei der Darstellung von Ali- ces Verhalten auch einen ironisch-parodistischen Ton:

„Die Mutter hatte eine stürmische Freude an ihm. Sie saß stundenlang an seinem Bett und hielt seine Hand. Er blieb einsilbig und schickte sie oft weg (er hatte eine Krankenschwester) – ob sie nichts im Haus zu tun hät- te?“ (H 29) Edwards anfänglicher Widerstand den merkwürdigen Liebesbekundungen seiner Mutter gegen- über, wird immer mehr gelähmt, so dass ihre Treffen allmählich etwas fast Erotisches annehmen, nicht ganz ohne den Beigeschmack des Karikierens56:

„Und nun bist du wieder da. Bei mir, Eddy.“ Sie küßte ihn auf beide Wangen und blieb neben ihm sitzen. Wie freudig ihre Augen strahlten: „Und jetzt läufst du nicht mehr weg. “ Er streichelte ihre Hand. Wie schön die Mutter aussieht. Wie sie an mir hängt. Vor Vater habe ich sie nie so gesehen. (H 211)

Schon als Kind wurde Edward auf seine Mutter fixiert, weil der Vater ihn hasste, ja, mehrmals bedrohte (vgl.

H 447) Dass dieser Hass bestand, war die Schuld Alices, ihres irrealen Wahnwitzes, ihrer Traumliebe zu Glenn.

Mit Glenn meint sie im Paradies gewesen zu sein. Sie

55 Vgl. Uvanović: Söhne vermissen ihre Väter, 148.

56 Vgl. ebd.

(37)

phantasiert sich so sehr in diese Beziehung hinein, dass sie schließlich behauptet, Edward sei dessen Sohn, ob- wohl ihr späteres Abenteuer mit einem Marineoffizier – einem „Schatten Glenns“ (H 516) – zeigt, dass die Liebe zu diesem gerade dadurch gekennzeichnet war, dass ihr alles Körperliche fehlte.57 Glenn und sie hatten sich „nie geküßt“, sich nur „die Hände gedrückt“ und sich „selig angeblickt“ (H 498). Es ist Alices Lebenslüge, dass Gor- don diese Idylle mädchenhafter Unschuld zerstört hat.

Sie, die „das Kriegsbeil wieder ausgegraben“ (H 354) hat, zweifelt zwischendurch an ihren eigenen Beweggründen:

Was will ich nur, was will ich nur. Ich habe es gewollt.

Nein, es war Edward, der es betrieb. Ich? Nein! Ich tat es für ihn. Nein, es war nicht zu vermeiden, das Schicksal hat ihn mir ins Haus geschickt […] Ich er- kenne ihn wieder in dem Anzug, mit dem goldenen Armband und der Zigarette, und zittere, wenn ich da- ran denke. […] So hat er mich damals überfallen und mich in meinem Zimmer genommen. Ich habe um mich geschlagen, habe ihm die Stirn zerkratzt. (H 355) Geht es Alice um die Rache dafür, dass Gordon sie einst vergewaltigte? Einiges („überfallen“, „genommen“) spricht dafür. Ist Edward gar das Produkt dieser Verge- waltigung? Fest steht: Alices Lügen und Glenn- Wunschträume dienen dazu den Sohn für die Rache an ihrem Ehemann zu instrumentalisieren. Nicht das Drän- gen des Sohnes an die Mutter, sondern das der Mutter an den Sohn, nicht aggressive Gefühle des Sohnes ge- genüber dem Vater, sondern der Sohn als Opfer väterli- cher Aggressionen, wird hier als Ursprung der noch bis

57 Emde: Weg zum Christentum, 334.

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in die Erzählgegenwart hinein bestehenden ödipalen Familienkonstellation aufgedeckt.

Döblin geht damit weit über das psychoanalytische, rein individualpsychologische Konzept der Kriegsneurosen hinaus. Von Übereinstimmung oder bloß affirmativer Rezeption der Psychoanalyse kann keine Rede sein.

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Schilderung der Behandlung Edwards in der Klinik, gleich am Beginn des Romans. „Damals gab es“, so erklärt der Erzähler,

ein Medikament, mit dem man sich bequem an die Seele eines Menschen heranpirschen konnte. Penthotal hieß es, ein Schlafmittel, das im Abklingen zu einem eigentümlichen Zwischenzustand führte. Der betref- fende Mensch lag dann und hörte: er verstand, und man konnte mit ihm wie mit einem Hypnotisierten umgehen. Er erinnerte sich und sprach von Dingen, die er sonst verheimlichte. (H 20)

In medizinischen Begriffen nennt sich dieses Vorgehen Narkoanalyse, im Zweiten Weltkrieg eine der schnellsten psychoanalytischen Methoden um Kriegsneurosen weg- zukathartisieren oder -suggerieren.58 Hypnotisiert erzählt und erlebt der Soldat unter Anleitung des Analytikers nach, was er an Grauen im Krieg erfahren hat:

Der Arzt erklärte dem träumenden Geschöpf auf dem Lager: man führe jetzt auf dem Meer, über den stillen

58 Vgl. Schäffner: Ordnung des Wahns, 372f. Döblins kritische Haltung gegenüber dieser Behandlungsmethode wird nicht zuletzt in einem seiner Rundfunkbeiträge aus dem Jahre 1948 in der Reihe Kritik der Zeit deutlich: „Ich bleibe bei dem Bild des Penthotal, welches nicht tief dringt, Gutes leistet, aber sich nicht dazu ge- brauchen läßt, die Geheimnisse der Seele aufzudecken und ganz und gar nicht imstande ist, die Seelen, die Gemütsart des Men- schen zu verändern.“ (Döblin: Kritik der Zeit, 130) Vgl. Quack:

Redllichkeit, 172.

(39)

Ozean. […] Man käme gut vorwärts, das Meer läge glatt. Man wäre vier Tage unterwegs. Edward wieder- holte mit schläfriger, näselnder Stimme sehr leise, lang- sam: „Das Meer ist glatt. Wie kommen gut vorwärts.“

(H 20)

Die im „therapeutischen Kriegsspiel“59 unbesetzte Posi- tion des Gegners nehmen die Analytiker ein. In Döblins Roman gleichen sie Soldaten, die versuchen mit „Sturm- angriffen“ (ebd.) eine „Festung“ (H 22) einzunehmen:

Den Artilleristen und Pyrotechnikern von gestern tra- ten die Ärzte gegenüber. Sie drangen in langsamer Mi- nierarbeit durch die Wälle, die die Seele um sich ge- worfen hatte, und schlugen Breschen in die Mauer, hinter der sie sich versteckte. (H 19)

Doch obwohl mehrere Sitzungen immer wieder die Szene der Schiffsexplosion hervorholen, gelingt die Abreaktion nicht vollständig: „Wir konnten sie [die oberflächliche Angsterregung]“, so erklärt Dr. King, „auf gewisse ihnen zugängliche Erlebnisse zurückführen. An die eigentliche Angst sind wir nicht herangekommen.

Völlig verdrängte, abgelagerte Dinge“ (H 278).

Im Hamlet soll das Geschichtenerzählen die Narkoanaly- se als Heilverfahren ersetzen. Nicht zuletzt auf seinen Vater ist die folgende Aussage Edwards gemünzt:

Mein Doktor ist auf dem richtigen Wege und ahnt et- was. Aber er will, daß ich es zwischen ihm und mir abmache und begrabe. Mein Leben soll in der Konsul- tationsstunde verlaufen. Er will mir einen Komplex wegkurieren. Möchte er. Man bezahlt seine Doktor- rechnung, geht nach Hause, und alles ist erledigt. O nein, Herr Doktor, so kommen wir nicht weiter. Ihre Generalparole ist: Vor Ruhestörung wird gewarnt. – Das predigen dieselben Leute, die, man weiß nicht aus

59 Schäffner: Ordnung des Wahns, 369.

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welchem Grunde, zu irgendeiner Zeit auf den guten Einfall kommen, einige Millionen Menschen in den Tod zu treiben. Natürlich sich selbst nicht. (H 285) Nach Gordons Dafürhalten würden

Kriege, im Lichte der Weltgeschichte gesehen, sich von Zeit zu Zeit unter Menschen ereignen wie Grippe, Ty- phus, Scharlach, gegen die man ja auch kein Kraut ge- funden hätte. (H 30)

Das einzige, was sich tun ließe sei, „Kriege hinzunehmen und zu sehen, ihren Verlauf milder zu gestalten.“ (ebd.) Mit dieser „Einsicht“ (H 30) hatte er bereits den ersten und auch den zweiten Weltkrieg „vorzüglich überstan- den“ (ebd.). Den Zeitungsartikeln und Extraausgaben, die man ihm auf den Rauchtisch legte „wurde er spielend Herr. Das stumme Papier, die Druckerschwärze konnte man sich vor Augen halten und sie liegenlassen, wie es einem paßte.“ (ebd.) Ebenso handhabte er sein Radio,

„das stündlich bis oben mit Nachrichten vollief, die ihn belästigen sollten und die er nicht hören wollte.“ (ebd.) Bei Kriegsmitteilungen schaltete er auf Tanzmusik um.

Gordon ist „Eskapist“ (H 33) und das Landhaus, in das er sich zurückzog, symbolisiert diese Haltung: „Diese schöne Villa, Eigentum Allisons, hatte der Krieg nicht berührt, sowenig wie seinen Besitzer.“ (H 27) Dass eine solche Haltung falsch ist, selbst Krieg bedeutet und Vernichtung einkalkuliert, geht aus Edwards Reflexionen hervor und wird durch den Familienkrieg – der ja auch eine Kriegsfolge ist – exemplifiziert.

Als Sinn dieser Analogie muss man festhalten, dass Edward Gewalt in der Familie und Gewalt im Krieg mit

(41)

dem selben Maßstab einer individuellen Moral misst.60 Für ihn gibt es kein „Kompatibilitätsproblem“, keine Konkurrenz zwischen der Höhe des Weltgeschichtlichen und den Niederungen des Familiären.61 Immer wieder von Neuem versucht er, die Zuschreibung einer persön- lichen Verantwortung für das men made desaster in Stellung zu bringen. Dabei beruft er sich auf Kierkegaard, aus dessen Werk Was ich will? er vorliest. Er weist den Vor- wurf zurück, dass es sich dabei um „Kanzelreden“ han- dele, weil die Frage nach der Verantwortung und der Schuld von Kierkegaard „ernst genommen“ werde (H 172). Er will damit sagen, dass es hier um die Grundfra- ge der Moral geht und macht deutlich, dass die gesell- schaftliche Theorie der Kriegsursachen diese Frage schlichtweg ignoriert und derart den Einzelnen von jeder Schuld frei spricht: „Man ist nicht schuldig – die Gesell-

60 Schon seine Ausgangsfrage nach der Kriegsschuld zielt nicht auf objektive Ursachen, sondern auf individuelle Motive: „Am Krieg und an seinem Unglück waren gewisse Personen schuld. Es waren also die Personen zu ermitteln, die für die Massenschlächterei und das Unglück verantwortlich waren“ (H 33) – nach Gordons Ein- schätzung „eine unsäglich kindliche Auffassung“ (ebd.). Vgl.

Quack: Redlichkeit, 117.

61 In der Literaturwissenschaft firmierte die Frage nach dem Zu- sammenhang von Familie und Krieg, seit Helmut Kiesels treffen- der Formulierung, als „Kompatibilitätsproblem“, das sich jedem Interpreten des Romans unweigerlich stelle: „Vor allem aber liegt zwischen der globalen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Allisonschen Familientragödie ein Gefälle, das den Sprung aus den Niederungen, in die der Familienstreit absinkt, zurück auf die Höhe, auf der die Ausgangsfrage nach der Verantwortung für den Krieg angesiedelt war, fast unmöglich erscheinen lässt.“ (Kiesel, Trauerarbeit, 495f.) Eine ähnliche Auffassung vertritt Auer: Exil vor der Vertreibung, 112. Vgl. dazu kritisch Nell: My- then(de)konstruktion, 66ff.; vgl. Ostheimer: Ungebetene Hinter- lassenschaften, 108ff.

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