A 2248 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 106|
Heft 45|
6. November 2009 Das Buch „Erfolgsmythos Psycho-pharmaka“ kommt zur rechten Zeit, nachdem in den letzten Jahren die angeblich überlegene Wirksamkeit und das geringere Profil uner- wünschter Nebenwirkungen der Atypika gegenüber herkömmlichen (preisgünstigeren) Antipsychotika ebenso wie die behauptete große Wirkstärke der Antidepressiva durch große unabhängige metho- disch ausgefeilte Studien widerlegt beziehungsweise infrage gestellt wurden. Zum Mythos Wirksamkeit der Antidepressiva hat zudem die selektive Veröffentlichungspraxis, das heißt die Nichtveröffentlichung negativer beziehungsweise zweifel- hafter Studienergebnisse erheblich beigetragen. Was das Buch über die im Mittelpunkt stehende Frage des Stellenwertes und der Neubewer- tung von Psychopharmaka hinaus jedoch auszeichnet, ist sein breiter interdisziplinärer Blick auf das Fachgebiet unter Einbeziehung so- zialwissenschaftlicher, (kultur)an- thropologischer und transkultureller Ansätze sowie einer Public-Health- Perspektive auf die Psychiatrie. Bü- cher mit einem so breiten Ansatz haben bei uns Seltenheitswert.
Das Buch ist eine kritische, kom- petente und pointierte Standortbe- stimmung der derzeit dominieren- PSYCHOPHARMAKA
Kritische, kompetente Standortbestimmung
den Psychiatrie: ihrer fragwürdigen Grundannahmen hinsichtlich ihrer diagnostischen Systeme, ihren bio- logischen Reduktionismus und die Einseitigkeit ihrer Behandlungsop- tionen. Es stellt nicht die Bedeu- tung der Naturwissenschaften und die Notwendigkeit von Psychophar- maka in der Psychiatrie infrage, sondern deren einseitige Ausrich- tung angesichts der Komplexität des Fachgebietes und seiner vielfäl- tigen Determinanten. Gestützt auf breite und seriöse internationale Li- teratur erhebt es nicht den Anspruch einer umfassenden wissenschaftli- chen Publikation, sondern nimmt einen Standpunkt ein. Der Autor will in der oft polarisierend geführ- ten Debatte über die Ausrichtung der Psychiatrie zu einer Versachli-
chung beitragen. Er bezieht jedoch eindeutig einen Standpunkt, aber maßvoll, abwägend und differen- ziert in der Argumentation. Er plä- diert für eine andere Gewichtung in der Psychiatrie, mehr Offenheit für andere Behandlungsoptionen, mehr kritisches Bewusstsein gegenüber der vielfältigen Einflussnahme der pharmazeutischen Industrie auf die Psychiatrie, die schon an Verein- nahmung grenzt. Ein Kapitel zur
„Beeinflussung psychiatrisch Täti- ger und Forscher“ beschreibt die vielfältigen Methoden, wie in Me- dikamentenstudien Einfluss auf die Ergebnisse genommen werden kann und wird, Mechanismen, die zum „Erfolgsmythos“ der Psycho- pharmaka beitragen. Die Lektüre dieses Kapitels ist ein wirksames Antidot gegen die allgegenwärtige Marketingstrategie. Die Behaup- tung einer spezifischen Wirkung vieler Psychopharmaka, so eine zentrale These des Buches, sei nicht zu halten. An ihr festzuhalten, ge- höre jedoch zu den Ritualen moder- ner Psychiatrie und sei Teil der ak- tuellen Definition des Fachgebiets.
Sich dieser zu entziehen, erscheine jedoch notwendig, um dem Fachge- biet eine Fortentwicklung zu er- möglichen.
Der Autor zeigt am Beispiel der Soteria-Studien und des „Need adapted treatment“ in Skandinavien Alternativen zur primär medika- mentengestützten Behandlung auf, die trotz erwiesener Evidenz hier jedoch nur wenig zur Kenntnis ge- nommen werden. Er behandelt auch die Frage „Wie heilt ein Psychia- ter?“ und die Frage des langfristi- gen Nutzens psychiatrischer Be- handlung.
Das Buch ist ein Muss für jeden, der manche Voraussetzungen der aktuell dominierenden Psychiatrie kritisch reflektieren und sich über die Möglichkeiten jenseits deren einseitiger biologischer Verortung orientieren will. Dieter Lehmkuhl
Stefan Weimann: Erfolgsmythos Psychophar- maka. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2008, 264 Sei- ten, gebunden, 29,95 Euro
Medizin/
Naturwissenschaft
Rainer Hofmann, Uwe Wagner: In- kontinenz- und Deszensuschirurgie der Frau. Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2009, 242 Seiten, gebun- den, 129,95 Euro
K.-J. Wolf, Z. Grozdanovic. T. Albrecht, J. O. Heidenreich, A. Schilling, F. Wa- cker: Pareto-Reihe Radiologie: Gefä- ße. Thieme, Stuttgart, New York 2008.
293 Seiten, kartoniert, 49,95 Euro Dietlinde Peters: Dr. Martha Wygod- zinski (1869–1943). >>Der Engel der Armen<<. Berliner Ärztin – Enga- gierte Gesundheitspolitikerin. Jüdische
Miniaturen, Band 73. Hentrich & Hen- trich, Teetz, Berlin 2008, 64 Seiten, kartoniert, 5,90 Euro
Ute Jachmann-Jahn: Klinikleitfaden Leitsymptome Differenzialdiagno- sen. Urban & Fischer, Elsevier GmbH, München 2009, 438 Seiten, Kunst- stoffeinband, 39,95 Euro
Robert R. Chrichton, Bo G. Daniel- son, Peter Geisser: Iron therapy.
With Special Emphasis on Intrave- nous Administration. 4th edition. UNI- MED Verlag, Bremen 2008, 128 Sei- ten, Hardcover, 39,80 Euro
Heping Yuan: 60 Punkte – 60 Krank- heiten. Die wichtigsten Akupunkturpunk- te für Ihren Therapieerfolg – mit Zugang
zum Elsevier-Portal. 3. Auflage. Urban &
Fischer, Elsevier GmbH, München 2009, 447 Seiten, gebunden, 39,95 Euro
E. Siegel, F. Schröder, J. Kunder, M.
Dreyer: Diabetes mellitus XXS po- cket 2009. Börm Bruckmeier Verlag, Grünwald 2008, 128 Seiten, karto- niert, 4,95 Euro
Stefanie Förderreuther, Andreas Straube: Kopfschmerzen. Klinische Neurologie. W. Kohlhammer, Stuttgart 2009, 264 Seiten, ink. CD-ROM, kar- toniert, 49,95 Euro
Johann Auer: Antithrombotische und gerinnungsaktive Therapie.
UNI-MED Verlag, Bremen 2008, 144 Seiten, Hardcover, 24,80 Euro