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Zeit-Räume - Raum-Zeiten

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Im Medium fremder Sprachen und Kulturen 18

Zeit-Räume - Raum-Zeiten

Gedanken über Raum und Zeit in den Kulturen

Bearbeitet von Lutz Götze

1. Auflage 2011. Buch. 154 S. Hardcover ISBN 978 3 631 61519 5

Gewicht: 310 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >

Philosophie: Allgemeines > Nicht-Westliche Philosophie

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Vorwort

Das Einstein-Jahr ist einige Zeit vorüber. Vor mehr als einhundert Jahren – 1905 – gelangen Albert Einstein in einem Geniestreich drei physikalische Revolutio- nen: Jahrhundertealte Vorstellungen über Atom, Raum und Zeit wurden in fünf kurzen Artikeln über Bord geworfen. Mit der speziellen Relativitätstheorie wur- de das Verhältnis von Raum und Zeit fundamental neu definiert und die seit Isaac Newton vorherrschende Ansicht von absolutem Raum mit absoluter Zeit verworfen; die vierte Dimension war geschaffen und das Phänomen der Gleich- zeitigkeit vollkommen neu gedacht: Die Beziehung zwischen Gleichzeitigkeit und Gleichortigkeit hängt danach vom Bezugssystem ab.

Einsteins Forschungen waren nicht nur für die Physik und andere Naturwis- senschaften wesentlich, sondern ebenso für den Alltag der Menschen und für die Künste – in Sonderheit die Malerei, so für den Kubismus. Hermann Minkowski prägte 1908 das Wort von der Raumzeit. Ein neues Denken setzte ein.

Doch das Nachdenken über das Verhältnis von Raum und Zeit ist weit älter;

es geht zurück bis auf Aristoteles. Im vierten Buch der Physik behandelt er nach- einander Raum, Leere und Zeit.

Dem Traktat „Über den Raum“ (Peri topou) folgt ein gleich langes Traktat

„Über die Zeit“ (Peri chronou). Aristoteles denkt die Zeit konsequent vom Raum her. Heidegger hat das später ausdrücklich bestätigt: „,Zeit‘ steht (bei Aristote- les) mit ,Ort‘ und ,Bewegung‘ zusammen.“ (Heidegger 1993: 428)

Gegen diese „Verräumlichung“ der Zeit hat zuletzt François Jullien protestiert und sie als Kardinalfehler des abendländischen Zeitbegriffs bezeichnet (Jullien 2004).

Doch Raumerfahrung und Zeiterfahrung gehören eng zusammen. Im Begriff des Zeitraums wird dies unmittelbar evident: Die Zeit wird verräumlicht. Wir verwandeln die Zeit in Räume und können dadurch große Zeiträume leichter begreifen, Epochen eher denken.

Wie erfahren Menschen heute Zeit und Raum? Hat Jean Améry Recht, wenn er schreibt, „Die Zukunft, sagen wir, ist nicht Zeit, ist vielmehr Welt und Raum … Jung sein, das ist: den Körper hinauswerfen in die Zeit, die keine Zeit ist, sondern Leben, Welt und Raum … Wer das vor sich zu haben glaubt, was man so ,Zeit‘ nennt, weiß sich in Wahrheit bestimmt, hinauszutreten in den Raum: sich zu er-äußern. Wer Leben in sich hat, echte Zeit also, muß es genug

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sein lassen mit der trügerischen Magie des Er-innerns. Was auf ihn zukommt, ist der Tod, der wird ihn ganz aus dem Raume nehmen, ihn selbst und was von seinem Körper bleibt, enträumlichen, wird ihm die Welt und das Leben nehmen und der Welt ihn und seinen Raum rauben. Darum ist er als Alternder nur noch Zeit.“ (Améry 2005: 35 f.)

Dem entspricht die im Zeitalter der Globalisierung vielfach geäußerte These, der Raum schrumpfe dem Menschen, bis dieser kaum noch zu erfahren sei – zugunsten der Zeit, die sich machtvoll ausbreite. Alles in der Moderne sei dem Diktat der Zeit unterworfen, umgekehrt aber geschehe ein Wertewandel: Volle Terminpläne signalisierten Überlegenheit und charakterisierten den erfolgreichen neuen Menschen. Freilich betrifft das – anders, als Améry glaubt – alle, vor allem junge Menschen: Raumverlust zugunsten der Zeit.

Auf diese Weise kehrt sich die ursprüngliche Verräumlichung (Spatialisie- rung) der Zeit in ihr gerades Gegenteil um, die Enträumlichung. Doch sei die Moderne zugleich durch ein Paradoxon gekennzeichnet, auf das Harald Weinrich hinweist: „Wir leben immer länger und wir sollten daher immer mehr Zeit zur Verfügung haben, um sie mit Gelassenheit zu nutzen. In Wirklichkeit jedoch wird uns die Zeit immer knapper.“ (Weinrich 2005: 303)

Gilt diese knappe Zeit, vor allem aber die Verdrängung des Raumes durch die Zeit – die Enträumlichung – weltweit? Gilt die These für alle Kulturen rund um den Erdball? Hat sich im Zuge der Globalisierung die gesamte Welt dem Zeit- bewusstsein des westlich-kapitalistischen Systems unterworfen und damit der Verdrängung des Raumes? Hat die knappe Zeit den Globus erobert? Bleibt dabei aber auch das Raumbewusstsein auf der Strecke?

Den Fragen wollen wir nachgehen. Anhand von theoretischen Reflexionen seit der Antike sowie von Texten aus unterschiedlichen Kulturen sollen das Ver- hältnis von Raum und Zeit einerseits sowie das subjektive Empfinden dieser Grundgrößen durch die Menschen diskutiert werden. Dem werden Schlussfolge- rungen für einen interkulturellen Fremdsprachenunterricht angefügt, dem es darum geht, auf der Grundlage einer kulturkontrastiven Analyse ein besseres Verstehen unterschiedlicher Begriffe von Raum und Zeit zu ermöglichen.

Das Buch kann kontinuierlich, also Seite für Seite, gelesen werden, ebenso aber – je nach Interesse – Kapitel am Ende vor anderen zu Beginn oder in der Mitte des Werkes. Der Tatsache eingedenk, dass vollkommen unterschiedliche Inhalte – Historie, Naturwissenschaften, die schönen Künste, Geographie und Philosophie sowie fremdsprachendidaktische Folgerungen – erörtert werden und nicht alle Leserinnen und Leser Fachleute auf allen diesen Gebieten sind, wurden gelegentlich Wiederaufnahmen oder Verweise auf weiterführende Kapitel einge- streut.

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9 Ich habe zahlreichen Kolleginnen und Kollegen sowie Freunden für Rat und Vorschläge zu danken. Sie einzeln aufzuführen, würde den Rahmen der Darstel- lung sprengen. Mein besonderer Dank gilt Frau Sigrid Juranek für die überaus sorgfältige Erstellung des druckfertigen Manuskripts sowie meiner früheren Sekretärin Frau Doris Zintel-Matzanke für die Übermittlung zahlreicher Dateien.

Herrsching, im April 2011

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Historie

Reflexionen an antiker Stätte

Das Denken in und das Nachdenken über Raum und Zeit bewegt die Menschheit seit ihrem Anbeginn. Auf der Mytheninsel Santorini wird dies unmittelbar evi- dent: Erste vulkanische Eruptionen vermuten die Geologen vor etwa 1,5 Mil- lionen Jahren; Fossilierungen von Pflanzen und Ölbäumen sind uralt. Der Raum wurde seither Zug um Zug verkleinert, die Insel schrumpfte – zuletzt nach dem gewaltigen Erdbeben 1956 – auf heutiges Format. Doch die Menschen wichen nicht von ihrem Eiland, bauten ihre Häuser wieder auf, pflanzten neue Reben – und zählten die Zeit weiter. Leben wird auf Santorini seit der frühen Steinzeit angenommen; erste Funde von Steinwerkzeugen aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend belegen dies. Bald traten Kupfer- und Bronzewerkzeuge und Waf- fen, Münzen und Siegel an deren Stelle.

Ging das räumliche Denken dem zeitlichen voraus? Waren die Vorstellungen von Höhe und Tiefe, Länge und Breite früher entwickelt als Ideen von Tag und Nacht, Woche, Monat und Jahr? Vieles deutet darauf hin, und die Sprache liefert die besten Belege dafür. Wir bezeichnen Zeiträume mit Adjektiven, die dem räumlichen Denken entlehnt sind: Eine Begegnung ist kurz und eine Stunde ebenso, eine Veranstaltung hingegen dauert lange, ein Leben nimmt ein schnel- les oder auch, im übertragenen Sinne, kein Ende. Frühere Generationen maßen die Zeit in Wegstrecken: Die Strecke zum Markt war weit. Bald schon freilich wurde dieses Maß zeitlich bestimmt: Vier Tage Fußmarsch oder zwei Sonnen- aufgänge zu Pferde. Völker in Afrika, am Amazonas oder im Malaischen Archi- pel messen noch heute so. In Europa und anderswo wird vielerorts noch heute eine Ackerfläche in „Morgen“ gemessen: die Zeit, die es brauchte, ein Stück Land an einem Morgen zu bestellen.

Die moderne Naturwissenschaft übernahm diese Reihenfolge: zuerst der Raum, dann die Zeit. Schon in der Antike wurden die Dimensionen des Raumes bestimmt: Länge, Breite und Höhe (Tiefe). Erst Albert Einstein erweiterte dieses Messen um die vierte Dimension. Seither sprechen wir vom Raum-Zeit-Denken, obwohl der Gedanke schon in der Antike auftaucht. Der Raum also ging dem Nachdenken über die Zeit voraus – wohl auch notwendigerweise, denn der Mensch der Frühzeit brauchte zuallererst ein Maß für die Orientierung im Raum,

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um sich zurecht zu finden, und, vor allem, zu überleben. Tag und Nacht waren Naturereignisse, damit wohl von Göttern gestiftet und deshalb unveränderlich.

Sie nach Menschenmaß zu bestimmen, war zweitrangig.

Heute scheint sich dieser Prozess zu vollenden. Der Raum schrumpfe, so ist zu vernehmen, unentwegt – bis er kaum noch erfahrbar sei – zugunsten der Zeit, die sich machtvoll ausbreite und ubiquitär Besitz ergreife. Alles in der Moderne sei dem Diktat der Zeit unterworfen; volle Terminpläne charakterisierten den neuen und erfolgreichen Menschen. Wer die Zeit der anderen bestimme, habe Macht – so lautet die weit verbreitete Überzeugung im Abendland. Der Mensch überbrücke in Sekundenschnelle mithilfe technischer Medien Zehntausende von Kilometern, in wenigen Stunden erreiche er per Flugzeug entfernte Regionen.

Was er deshalb nicht wahrnehme, seien Räume und Distanzen; was ihn hingegen bestimme, sei die Zeit, freilich gebrochen durch Zeitverschiebungen: Wenn er morgens in Berlin aufwache, sei es in Tokio bereits Nachmittag, in New York hingegen noch finstere Nacht. Den Börsenmakler in Europa erreichten als Erstes die Kurse aus Japan, dann folgten Deutschland und England, erst am Nachmittag schlössen sich die Vereinigten Staaten von Nordamerika an: Nunmehr sei es dem Makler möglich, auf vier Bildschirmen nebeneinander die Börsenkurse dreier Kontinente zeitgleich zu studieren; die Akteure in Tokio, Frankfurt und New York redeten miteinander, obwohl sie Zehntausende von Kilometern voneinan- der entfernt seien. Lediglich die Uhrzeit auf jedem Monitor verkünde die Nacht- stunde in Tokio, den frühen Abend in Europa und den späten Vormittag an der Ostküste Nordamerikas. Die These lautet also: Der Raum vergeht, die Zeit be- steht. Von den vier Dimensionen bleibe nur die letzte – also die Zeit – übrig.

In Wahrheit ist dies freilich nur eine der Varianten eines die Moderne kenn- zeichnenden Reduktionismus. Dieser Prozess bedeutet, einen Gegenstand, ein Problem oder Phänomen auf einzelne Teile zu verkürzen und andere nicht zu beachten, um das – vermeintlich – Wesentliche desto genauer zu betrachten und analysieren zu können, ein in der Wissenschaft übliches Verfahren: Konzentrati- on auf ein Detail um den Preis der Gesamtsicht. Auf diese Weise werden Proto- typen geschaffen, freilich auch Stereotype und – als deren Folge – Vorurteile.

Der grundsätzliche Fehler solchen Reduktionismus aber liegt darin, dass seine Apologeten dazu neigen, dergestalt gewonnene Erkenntnisse zu generalisieren und als nicht mehr hinterfragbare Wahrheiten darzustellen.

Die Sprache der Gegenwart bietet ein anderes Beispiel des Reduktionismus, mit fatalen Folgen übrigens: Jahrzehntelang galt die Unterscheidung von eigent- licher und uneigentlicher Bedeutung – oder dem deontischen und epistemologi- schen Gebrauch von Sprache – als fundamental. Douglas Hofstadter hat es so beschrieben: „In jedem kognitiven System muss es Organisationsebenen geben,

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die es gestatten, dass aus einer starren Syntax eine fluide Semantik auf oberster Ebene hervortritt.“ (Hofstadter 1991: 181)

Daraus erwächst nicht nur das Uneigentliche – also nicht wörtlich gemeinte – als das der Kunst Eigentümliche, sondern auch das der Sprache Charakteristi- sche: Naives Wörtlichnehmen der verwendeten Sprache in übertragener – also uneigentlicher – Bedeutung kann sicher zunächst auf ein schlichtes Gemüt deu- ten, das die fluide Semantik des Angesprochenen nicht versteht. Doch zeigt die Moderne zu viele Fälle, in der uneigentliche Sprache wörtlich genommen wird, als dass hier nur Ahnungslosigkeit angenommen werden dürfte: Es steckt in Wahrheit Absicht dahinter, zumeist eingespeist in Normen der political cor- rectness. Ein Beispiel ist der nicht nur stilistische Unfug, der – keineswegs ledig- lich von engagierten Feministinnen – betrieben wird, wenn die in der deutschen Sprache angelegte Unterscheidung von natürlichem Geschlecht (Sexus) und grammatischem Geschlecht (Genus) bestritten wird: Also verlangt die korrekte Äußerung, statt Studenten (die auch immer das natürliche weibliche Geschlecht mitmeinten und so auch verstanden wurden) Studenten und Studentinnen zu schreiben, hilfsweise (mit Majuskel-I) StudentInnen (was kaum aussprechbar ist) oder, neutral, Studierende. Ebenso verlief es mit dem unpersönlichen man (was im Alt- und Mittelhochdeutschen irgendeinen beliebigen Menschen oder eine Gruppe von Menschen, keineswegs aber ausschließlich Vertreter des männlichen Geschlechts bezeichnete), dem interessierte Kreise nicht nur an Universitäten – in vollkommener Unkenntnis des Sachverhalts – ein Indefinitpronomen frau zugesellten: Nicht nur Unbildung steckt dahinter, sondern politische Korrektheit, die uneigentliches in eigentliches Sprechen ummünzt.

Doch die Sprache bietet noch andere Beispiele eines fatalen Reduktionismus.

So hat es der Linguistische Strukturalismus, in der Nachfolge Ferdinand de Saus- sures, zu seinem Leitsatz erklärt, formale Strukturen einer beliebigen natürlichen Sprache zu untersuchen – unter Ausklammerung der Bedeutung –, um ein mög- lichst exaktes Analyseergebnis zu erhalten. Dass dabei freilich die Essenz der Äußerung unbeachtet blieb oder verloren ging, wurde hingenommen.

Das Raumverständnis des Aristoteles

Aristoteles handelt in den Vorlesungen zur Physik im Buch IV über Raum, Leere und Zeit (Aristoteles 1995). Die Zeit folgt dem Raume in der Darstellung und er definiert sie räumlich (spatialisierend): „Wenn dagegen ein ‚davor‘ und ‚danach‘

wahrgenommen wird, dann nennen wir es Zeit: Die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ,davor‘ und ,danach‘.“ (Aristoteles 1995: 6, 106)

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Man kann sich also die Zeit im Aristotelischen Sinne als eine Art Strecke vor- stellen, die durch Bewegung oder Veränderung erfahrbar und beherrschbar wird.

„Bewegung“ und „Veränderung“ freilich sind Kategorien des Raumes oder des Ortes. Von diesem heißt es bei Aristoteles: „Wir setzen also für richtig an (= wir glauben – L. G.), (1) Ort sei das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist, und (2) er sei kein Stück des (umfaßten) Gegenstandes (selbst); weiter (3), der unmittelbare (Ort) sei weder kleiner noch größer (als das von ihm umfaß- te Ding); weiter (4), er lasse jedes Ding hinter sich und sei von ihm ablösbar;

außerdem (5), jeder Ort enthalte das ,oben und unten‘ (als seine Arten); und (6), es bewege sich jeder Körper von Natur aus zu seinem angestammten Ort und bleibe (dort), das tue er entweder oben oder unten.“ (Aristoteles 1995: 6, 81)

Ähnlich übersetzt Ulrich Nortmann: „Wir glauben, dass der Ort erstes Umfas- sendes desjenigen ist, wovon er Ort ist“ (psl. Mitteilung an den Verfasser vom 25.7.2005).

Ortsveränderung nennt Aristoteles Bewegung (Aristoteles 1995: 6, 74).

Aristoteles stellt also bewusst den Kapiteln 10–14 im 4. Buch seiner Physik, die Passagen über die Zeit enthält (Peri chronou), seine Gedanken über den Raum (Peri topou) voraus: Er schreitet vom Raum zur Zeit (Kapitel 1–9).

Zeit ist daher für Aristoteles messbare Bewegung im Raum mit einem Davor und einem Danach, genauer: hinsichtlich einer vorderen (davor) und einer hinte- ren (dahinter) Position. Raum (Ort), Bewegung und Zeit gehören bei Aristoteles also eng zusammen. Man kann Aristoteles somit mit Fug und Recht einen Rela- tionisten nennen, denn er ging davon aus, Zeit existiere nur durch die Bewegung beweglicher Körper.

Weiter heißt es im Physik-Buch des Aristoteles:

„Wenn wir nämlich die Enden als von der Mitte verschieden begreifen und das Bewußtsein zwei Jetzte anspricht, das eine davor, das andere danach, dann sprechen wir davon, dies sei Zeit: Was nämlich begrenzt ist durch ein Jetzt, das ist offenbar Zeit.“ (Aristoteles 1995: 6, 105 f.)

Raum und Zeit sind nach Aristoteles vermittelt; Raum und Zeit stehen nicht für sich allein da, sondern werden durch die Bewegung verbunden. Nur durch Be- wegung werden Raum und Zeit erklärbar. Ein Gegenstand wird bewegt, es gibt ein „Vorher“ und ein „Nachher“: Die Bewegung begründet Zeit. Raum und Zeit sind untrennbar miteinander verbunden. Durch Bewegung werden das Werden und Vergehen verständlich: Sie sind als Bewegung in Raum und Zeit zu begrei- fen.

Doch nicht nur diese Verknüpfung von Raum und Zeit finden wir bei Aristo- teles als dem überhaupt ersten Denker des Abendlandes, der dies tut – eine gran- diose theoretische Leistung –, sondern auch die theoretische Vorwegnahme des

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Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, des Entropie-Satzes (Götze 2004).

Bei Aristoteles lesen wir:

„Denn an und für sich genommen, ist die Zeit Urheberin eher von Verfall.“ (Aristoteles 1995:

6, 111)

Der Zweite Thermodynamische Hauptsatz stellte fest, dass alles Tun der Men- schen in geschlossenen Systemen durch eine Zunahme der Entropie, also des Verfalls an Ressourcen, gekennzeichnet sei: eine starke Argumentation für den Gedanken des Zeitpfeils, also die Linearität der Zeit mit Anfang und Ende, sowie eine Begründung für und Aufforderung zu ökologisch verantwortlichem Han- deln, um die Lebensgrundlagen zu schonen und für künftige Generationen zu erhalten.

Nun ist es freilich so, dass die Bewegung im Raum – also die Ortsverände- rung – bei Aristoteles sowohl linear – ähnlich dem Spaziergang oder Weg mit Anfang und Ziel durch seine peripatetische Philosophenschule – zu verstehen ist wie zirkulär: analog dem Weg der Gestirne am Himmel. Beide Bewegungen sind messbar: die lineare mit Hilfe einer Wasseruhr, die zirkuläre mit der Sonnenuhr an einem exponierten Gebäude. So verbindet Aristoteles zweierlei auf höchst geschickte wie überzeugende Weise: einerseits Raum und Zeit, andererseits line- ares (irdisches) mit zirkulärem (außerirdischem) Raum-Zeit-Denken.

Weinrich weist darüber hinaus auf den Umstand hin, dass der aristotelische, vom Raum her gedachte, Zeitbegriff „eine beträchtliche Zahl von kongruenten Metaphern umfasst, zum Beispiel: Veränderung (metabole), Fortbewegung (pho- ras), Weg (hodos) und Gang (poreia). Die dazu passenden Adjektive und Ad- verbien treten vorwiegend paarweise auf und lauten im Text: kurz (brachys) und lang (makros), langsam (bradys) und schnell (tachys), hinteres (hysteron) und vorderes (proteron) – sie alle angeordnet nach dem Schema weniger (elatton) und mehr (pleion).“ (Weinrich 2004: 20 f.)

Wichtig ist noch der Hinweis, dass die Linearität von Aristoteles ausdrücklich horizontal verstanden wird – in Länge und Breite des Raumes – und also nicht vertikal, die Höhe des Raumes betreffend. Möglicherweise wies Aristoteles die dritte Raumdimension dem Außerirdischen zu, also der zirkulären Bewegung der Gestirne. Dagegen steht freilich die Beobachtung Hegels, dass Aristoteles stets nur von Oben und Unten – und nicht von drei Dimensionen spreche: der Himmel als das Enthaltende und die Erde als das Unterste. (Hegel 1971: 19, 184)

Die Unterscheidung von linearem (irdischem) Raum-Zeit-Denken und zirku- lärem (außerirdischem) Raum-Zeit-Denken hatte Folgen, so bei Immanuel Kant, dem wir uns später ausführlich zuwenden.

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