Liebe Jugendliche, liebe Mütter, Großmütter, Väter, Großväter,
heute ist ein besonderer Festtag.
Ich bin froh, dass wir diesen gemeinsam begehen können.
Dass ihr den Übergang von der Kindheit und Jugend ins Erwachsenenalter mit euren Familien und
Angehörigen feiern könnt.
Und ich fühle mich geehrt, dass ich eingeladen wurde, um euch ein paar Gedanken mit auf den Weg zu
geben, die euch hoffentlich nützlich sein werden.
Liebe Jugendliche,
nach langer Zeit können wir wieder zu einem Fest zusammenkommen.
Das letzte Jahr kam mir unglaublich lang vor und euch ist es sicher nicht anders gegangen.
Termine wurden immer wieder verschoben und wir haben uns darauf eingestellt, dass wir viele Dinge nicht planen können.
Ich bewundere, wie ihr mit Distanz- und
Wechselunterricht, Videokonferenzen und digitalen Lerntools umgegangen seid.
Ich hoffe, dass wir alle etwas aus diesen Erfahrungen lernen und eine neue Perspektive auf manche Dinge entwickeln können.
Mir ist nach den langen Monaten digitaler Treffen klar geworden, wie wichtig es ist, sich bei einem Gespräch in die Augen zu sehen, sich die Hand zu drücken, sich zu umarmen.
Diese so selbstverständlichen, alltäglichen Handlungen stellen sich als etwas sehr Kostbares heraus, wenn wir sie nicht erfahren können.
Also genießt es, wieder mit euren
Klassenkameradinnen und -kameraden zusammen zu sein und eure Freundinnen und Freunde zu treffen und haltet manchmal inne, um dieses Beisammensein zu genießen.
Liebe Jugendliche,
das Jugendwort des Jahres 2020 ist „Lost“.
Ich musste erst einmal recherchieren, was dies genau bedeuten soll.
„Lost ist jemand, der ahnungslos, unsicher oder unentschlossen ist“, heißt es als Erklärung.
Lost haben wir uns im Jahr 2020 wohl alle gefühlt.
Daher scheinen die an der Umfrage teilnehmenden Kinder und Jugendlichen ein passendes Wort gewählt zu haben.
Doch unsicher und unentschlossen fühlen sich sicher viele von euch nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch, weil ein neuer Abschnitt in eurem Leben beginnt.
Und dieser bringt nicht nur neue Freiheiten und
Möglichkeiten, sondern auch neue Verantwortungen und wichtige Entscheidungen mit sich.
Viele von euch werden sich bald entscheiden, welche Berufsausbildung sie antreten, ob sie weiter zur Schule gehen, später studieren oder einen Freiwilligendienst leisten wollen.
Wir haben heute eine unglaubliche Vielzahl an
beruflichen Möglichkeiten, die manchmal überfordern kann.
Manche von euch wissen vielleicht schon genau, was sie werden wollen. Andere sind noch auf der Suche.
Aus Erfahrung kann ich sagen, dass sich eine berufliche Laufbahn nicht durchplanen lässt.
Seid offen für Neues, nehmt Chancen wahr und tut das, wofür ihr euch entschieden habt mit voller
Überzeugung.
Ich wünsche euch, dass ihr für euch den beruflichen Weg findet, der euch glücklich macht.
Eine Arbeit die euch erfüllt und euch gut leben lässt.
Liebe Jugendliche,
die Welt um uns herum verändert sich rapide.
Technische Hilfsmittel (MacBook, IPad, Smartphone), die für euch heute selbstverständlich sind, waren, als ich so alt war wie ihr, noch nicht vorstellbar.
Der Klimawandel stellt unseren Lebensstil grundlegend in Frage und eure Generation fordert zu Recht ein
radikales Umdenken.
Umweltkatastrophen und Kriege treiben Menschen in so vielen Regionen der Welt zur Flucht und in die Unsicherheit.
Wir erleben weltweit und auch in Deutschland und Thüringen den Aufstieg rechter Bewegungen, die die Menschenrechte und unsere Demokratie in Frage stellen.
Die Menschenverachtung, die sich in den rassistischen Morden in Hanau, den rechten Netzwerken in der
Bundeswehr und den Kampagnen der AfD zeigt, macht mich wütend und betroffen.
Wie ihr sicher wisst, streben wir in Thüringen Neuwahlen an und auch der Bundestag wird neu
gewählt. Wir müssen leider damit rechnen, dass die AfD wieder ein starkes Ergebnis erzielen wird. Trotzdem bin
ich optimistisch, dass wir diese Bestrebungen durch gesellschaftliche Zivilcourage stoppen können.
Ich stehe eindeutig zu dieser Aussage:
Bunte Vielfalt, statt brauner Einfalt.
All diese Entwicklungen können uns manchmal überwältigen, uns ohnmächtig machen. Doch wir Menschen entscheiden die Zukunft, wie sich unsere Welt entwickelt. Jeder und jede trägt mit seinem und ihrem ganz persönlichen Handeln ein Stück zu dieser Zukunft bei.
Ihr könnt nur Spuren hinterlassen, indem ihr die eingefahrenen Gleise und ausgetrampelten Pfade verlasst und offen seid für neues fortschrittliches Denken und friedliches, solidarisches Handeln!
Liebe Jugendliche,
ich habe eine Bitte an euch:
Helft uns Erwachsenen dabei, neue Wege zu finden und Ideenlosigkeit und Resignation zu überwinden.
Kämpft für eure Vorstellungen, auch wenn die Welt euch Widerstände in den Weg stellt.
Mischt euch ein, wenn ihr merkt, dass Unrecht geschieht.
Traut euch, fröhlich zu lachen, aber auch zu weinen, zu trauern und wütend zu sein.
Habt den Mut, laut zu sagen, was Ihr von eurem Leben erwartet und auch den Mut, das Nötige zu tun, um eure Träume zu erfüllen.
Vergesst nicht, dass erst ein starkes Rückgrat den aufrechten Gang ermöglicht.
Das Rückgrat, von dem ich rede, ist aber keine Sache des Skeletts, sondern eine des Charakters.
Den Älteren unter uns kann ich nur sagen: unterstützt die jungen Menschen, die verändern wollen und seid offen für ihre Ideen, auch wenn sie euch radikal und utopisch erscheinen.
Und helft den jungen Menschen dabei, neuen Mut zu finden, die bereits zu Beginn ihres Lebens zu
resignieren drohen.
Liebe Jugendliche,
auch wenn es heute um euch geht, soll ein kleiner Teil dieser Rede auch euren Familien gewidmet sein. Auch für eure Eltern und Großeltern ist heute ein aufregender Tag.
Liebe Mütter, Väter, Großmütter, Großväter,
ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Jungs auf so einer Bühne standen. Ich war stolz und etwas
ängstlich, ob sie in der Welt das erreichen werden, was sie sich wünschen.
Liebe Eltern, Großeltern,
sicher werden Sie sich jetzt an Ihre eigene
Jugendweihe erinnern und die letzten Jahre Revue passieren lassen, in denen Sie Ihre Kinder, Ihre Enkel haben wachsen, sich verändern sehen.
Jetzt werden Sie sich auf einen neuen Abschnitt einstellen, in dem diese jungen Menschen ihren eigenen Weg einschlagen. Dieser wird sicher nicht immer gradlinig verlaufen oder Ihren Vorstellungen entsprechen.
Niemand wird über Nacht vom braven, abhängigen Kind zum freien, selbstbewussten Erwachsenen.
Bei all den Prozessen holt man sich oft Beulen, die weh tun können oder läuft falschen Idolen hinterher.
Da ist es gut, wenn Sie, liebe Eltern und Großeltern, in der Nähe Ihrer Kinder bleiben, Verständnis für sie
haben, ihnen vertrauen und zuhören.
Es ist eine Zeit des Loslassens und der Wehmut, aber auch der Hoffnung und Freude.
Wie wertvoll sind die Erinnerungen an das erste
Lächeln, den ersten Zahn, die ersten Worte, den ersten Schritt, an den ersten Tag im Kindergarten, die
Zuckertüte und viele andere schöne Momente.
Viele Momente, an die ihr, liebe Jugendliche, euch nicht erinnern könnt und die doch wichtig für eure
Entwicklung waren.
Viele Momente, die euch peinlich sind oder banal
erscheinen, wenn eure Eltern Anekdoten erzählen oder alte Fotos zeigen.
Seid nachsichtig mit euren Eltern, wenn euch ihr Verhalten seltsam vorkommt. Auch für sie ist es ein neuer Abschnitt. Auch sie wissen nicht unbedingt, was auf euch und auf sie zukommt und auch sie sind
manchmal unsicher.
Gemeinsam werdet ihr, werden Sie, diesen Übergang gut gestalten – mit Geduld, Toleranz und Respekt auf beiden Seiten.
Liebe Jugendliche, liebe Eltern und Großeltern,
ich hoffe, Sie alle ein bisschen nachdenklich gemacht zu haben vor dem feierlichen Akt, zu welchem die Jugendlichen auf die Bühne gerufen werden, um Glückwünsche und Blumen zu erhalten.
Ich wünsche euch, liebe Jugendliche, einen tollen Tag mit euren Familien und euren Freundinnen und
Freunden.
Zu diesem möchte ich euch noch eine sogenannte
„Weisheit“ mitgeben:
Nicht jeder Stein, der vor eure Füße rollt, muss ein Stolperstein sein.
Nehmt ihn als Chance, um einmal stehen zu bleiben, zurück zu schauen, euch zu orientieren und
neue Wege zu ergründen.
Gestattet mir, euch ganz persönlich meine
allerherzlichsten Glückwünsche auszusprechen.
Diese Glückwünsche verbinde ich auch mit dem Dank an eure Eltern und Großeltern
- für die Liebe und Fürsorge,
- für ertragenen Kummer und Streit,
für Vergeben und Verzeihen
in all den bisherigen Jahren.
Liebe Jugendliche,
der Augenblick ist gekommen, in dem euer Weg in das Erwachsensein beginnt.
Ich wünsche euch, dass Ihr diesen Tag immer in guter Erinnerung behaltet und dass er gelingt – wie euer ganzes Leben.