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Iden

tifik

ationsr

äume

Identi

fikations

räume

Potenziale und

Qualität großer Wohnsiedlungen

Herausgegeben von Maren Harnack und

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Identi

fikations

räume

Potenziale und

Qualität großer Wohnsiedlungen

Herausgegeben von Maren Harnack und

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Identifikationsräume

Herausgeber: Maren Harnack Jörg Stollmann

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Lizenzvertrag: Creative Commons Namensnennung 4.0 http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Druck: Lasertype, Darmstadt

Gestaltung: Anja Knust Designsysteme, Berlin Lektorat: Christian Holl, frei04 publizistik

ISBN 978-3-7983-2924-9 (print) ISBN 978-3-7983-2925-6 (online)

Zugleich online veröffentlicht auf dem institutionellen Repositorium der Technischen Universität Berlin: DOI 10.14279/depositonce-5103

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0 → Vorwort

S. 8

Große Wohnsiedlungen gestern und heute

1 → Maren Harnack

S. 11

Big is beautiful

2 → Martin Bredenbeck

S. 19

Wohnsiedlungen vermitteln: der Ansatz der Werkstatt Baukultur Bonn

3 → Rut Blees Luxemburg

S. 29

London Apex: Urbane Fotografie zwischen Konstruktion und Vision

4 → Jörg Stollmann

S. 39

Über die schwierige

Herstellung des Gemeinsamen: Die Akademie einer neuen Gropiusstadt

5 → Ignaz Strebel

S. 53

Der Beitrag der Hausmeister zur Identität von Gebäuden: Block Checks in der

Großwohnsiedlung Red Road in Glasgow

6 → Sebastian Bührig

S. 69

Rauf oder runter?

Im Gespräch mit Bewohnern hoher Wohnhäuser.

Ein Experiment

Die Publikation versammelt Beiträge der Tagung „Identifikationsräume“ im Herbst 2013 an der Frankfurt University of Applied Sciences (FRA-UAS). Die Tagung wurde veranstaltet von Prof. Maren Harnack, Lehrgebiet Städtebau und städtebauliches Entwerfen, und gefördert aus Mitteln des Innovationsfonds Forschung der FRA-UAS.

Iden

ti

fik

ations

räume

P ot en zial e un d Q ual it ät gr oß er W oh ns ie dlun g en

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Große Wohnsiedlungen

gestern und heute

Bisher wurden Großwohnsiedlungen als potenziell belastendes Erbe der Moderne

diskutiert. Ihr Ruf ist zweifelhaft, zu wirkungsvoll lebt im kollektiven Gedächtnis das Stigma sozialer Ghettos fort.

Großwohnsiedlungen haftet der Ruf an, a priori unter räumlichen, sozialen und infrastrukturellen Defiziten zu leiden.

Allenfalls ein paar spektakuläre Beispiele werden heute wieder unter baukulturellen Gesichtspunkten diskutiert und als Zeugen einer vergangenen Epoche des Städtebaus respektiert, beispielsweise die Gropiusstadt in Berlin, die Frankfurter Nordweststadt oder die Neue Vahr in Bremen. Der größte Teil des generischen Massensiedlungsbaus ist noch immer stigmatisiert, und es sieht nicht so aus, als würde sich dies in absehbarer Zeit ändern.

Ähnlich wie zu der Zeit, als diese Siedlungen entstanden, stehen die Kommunen in Deutsch-lands Ballungsräumen heute wieder vor einem akuten Wohnungsmangel. Berlin braucht jähr-lich 15.000 neue Wohnungen, Hamburg 9.000, Frankfurt geht von einem Bedarf von 3.700 aus. Es erscheint aussichtslos, diesen Bedarf nur über die Nachverdichtung des Bestandes zu decken, sondern man wird auch wieder über Neubau in der Peripherie nachdenken müssen. Überrascht von der demografischen Entwick-lung und der Zuwanderung aus Krisengebieten, werden kurzfristige, kosteneffiziente Lösun-gen gesucht, um bezahlbaren Wohnraum im unteren Marktsegment zu schaffen.

Damit kommt diese Publikation hoffentlich zum rechten Zeitpunkt. Die Beiträge reflektie-ren den Umgang mit dem Bestand der Moderne und dessen Qualitäten. Sie zeigen, dass die Angst vor großen Wohnsiedlungen unbegrün-det ist, aber auch, dass sie spezifische Heraus-forderungen und Bedürfnisse mit sich bringen: Sie erfordern eine kluge Belegungspolitik, die Bedürfnisse der Bewohner sind andere als in anderen Gebieten der Stadt, und der Unterhalt spielt eine ganz besonders wichtige Rolle. Die Beiträge sollen nicht nur eine Grundlage für die Re-Evaluation und Weiterentwicklung beste-hender, sondern auch eine Hilfe für die Planung zukünftiger großer Siedlungen sein.

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Im ersten Beitrag von Maren Harnack geht es um die Diskrepanz zwischen der Innen- und der Außenwahrnehmung großer Wohnsiedlungen. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass die Bewohner ihrem Umfeld gegenüber grund-sätzlich kritisch eingestellt seien, identifizie-ren sich diese häufig und in hohem Maße mit „ihrer“ Großwohnsiedlung.

Der Beitrag von Martin Bredenbeck stellt an-

hand Bonner Beispiele Wege vor, die Akzeptanz von Architektur, Städtebau und Wohnungsbau der Moderne in der Bevölkerung zu stärken. Diese nach außen gerichtete Informations- und Vermittlungsarbeit ergänzt die Bemühungen von Bürgervereinen und ähnlichen Gruppierun-gen, die eher innerhalb von Siedlungen wirken.

Die Londoner Künstlerin Rut Blees Luxemburg

setzt sich in ihren Fotografien mit der Ästhe-tik von Großwohnsiedlungen auseinander. Sie zeigt großmaßstäbliche soziale Wohnungsbau-ten als Orte mit genuin eigener ästhetischer Qualität, ohne sie romantisch zu verklären. Damit eröffnet sie eine neue Außensicht, die die bisherige Diskussion um große Wohnsied-lungen bereichert.

Der Beitrag von Jörg Stollmann stellt die

"Akademie einer neuen Gropiusstadt" vor, ein Projekt, das er gemeinsam mit Mitarbeiten-den und StudierenMitarbeiten-den der TU Berlin betreibt. Hier wird gemeinsam mit den Bewohnern der Gropiusstadt nach Möglichkeiten gesucht, die Siedlung weiterzuentwickeln. Der Lernprozess findet hier auf beiden Seiten statt – bei den Bewohnern, die an ihrer Siedlung arbeiten und bei den Architekten, die lernen mussten, ihre eigenen Vorannahmen und Vorurteile zu hin-terfragen.

Ignaz Strebel beleuchtet die Rolle von Gebäu-deunterhalt und Reparatur für das tägliche Leben in Großwohnsiedlungen. Er zeigt, dass die kontinuierliche Arbeit an der Gebäudesub-stanz und die fortlaufende Reinigung für die Bewohnbarkeit großer Gebäude essenziell ist, selbst wenn diese bereits für den Abriss vorge-sehen sind.

Zum Schluss untersucht Sebastian Bührig in

seinem Text die Verhältnisse in einem Berliner Plattenbau, wobei er vor allem auf die Erfah-rungen der Bewohner eingeht. Hier zeigt sich deutlich, dass sie sich über den schlechten Ruf von Wohnhochhäusern im Klaren sind, ande-rerseits aber auch auf vielerlei Weisen emotio-nal mit dem Gebäude verbunden fühlen.

Das Spektrum der Beiträge zeigt, dass Groß-wohnsiedlungen keineswegs eine gescheiterte Siedlungsform sind. Sie sind mehr als Aufbe-wahrungsbehälter für ihre Bewohner, sondern sie bieten ihnen eine Umgebung, mit der sie sich identifizieren, und eine Form von Gemein-schaft, in der sie sich wohlfühlen können. Gleichzeitig zeigen die Beiträge, dass Groß-wohnsiedlungen mit ihren speziellen Raumkon-stellationen und der großen Bewohnerdichte einer aufmerksamen Pflege bedürfen, dass sie unter dem Verlust von Infrastruktur beson-ders leiden, und dass insbesondere die lokale Gemeinschaft Orte braucht, an denen sie sich verankern kann. Da Kirchengemeinden diese Rolle heute kaum noch übernehmen können und die öffentliche Hand kaum die finanziellen Mittel hat, diese Lücke räumlich und personell zu füllen, müssen neue Siedlungen heute auch neue Antworten finden. Wie hoffen, mit dieser Publikation einige Anregungen dazu geben zu können.

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Maren

Harnack

Big is

beautiful

1

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Maren Harnack

Big is beautiful

Großwohnsiedlungen gehören zu den am wenigsten geschätzten Zeugnissen der europäischen Nachkriegsmoderne. Das verstellt

den Blick auf die Qualitäten, die sie auch heute noch haben.

In den meisten aktuellen Diskussionen werden Großwohnsiedlungen weder sozial noch bau-lich als nachhaltig wahrgenommen. Und noch immer gelten sie als Materialisierung einer weitgehend gescheiterten Politik, die den Bür-ger vermeintlich bevormundete.1 Dabei wird

übersehen, dass Großwohnsiedlungen als voll-wertige Stadtteile konzipiert wurden, die ihren Bewohnern neben qualitativ hochwertigem Wohnraum auch ein sozial und kulturell befrie-digendes Umfeld bieten sollten. Ebenfalls aus dem Blickfeld gerät häufig, dass Großwohn-siedlungen heute gerade in den großen Bal-lungsräumen eine wichtige Rolle übernehmen: Sie bieten Wohnraum, der meistens nicht sehr teuer und dennoch halbwegs zentral gelegen ist. Gerade vor dem Hintergrund immer weit-reichenderer Gentrifizierung der älteren, innen-stadtnahen Wohngebiete ist dieser Bestand für viele weniger wohlhabende Stadtbewohner von essenzieller Bedeutung.

Wenn man sich intensiver mit Großwohnsied-lungen, ihren Bewohnern und ihrem schlechten Image beschäftigt, stellt man schnell fest, dass es eine eklatante Differenz zwischen der Innen-sicht und der AußenInnen-sicht auf diese Bauform gibt. Während die meisten Bewohner mit ihrem Wohnstandort durchaus zufrieden sind, wer-den Großwohnsiedlungen von außen oft als defizitär wahrgenommen. Hier gibt es zwei Stränge der Kritik, die sich gegenseitig stärken: Einerseits werden Großwohnsiedlungen heute häufig als Gegenbild zur sogenannten euro-päischen Stadt verstanden und entsprechend

auch an ihr gemessen. Das kann nur dazu füh-ren, diese Siedlungsform als defizitär wahr-zunehmen. Intensive und kleinräumige Nut-zungsmischung, klar begrenzte und definierte öffentliche Räume, strikte Trennung von pri-vater Sphäre und Öffentlichkeit, kurze Wege zu allem, was den täglichen Bedarf ausmacht – das, was wir landläufig unter Urbanität ver-stehen, gibt es in Großwohnsiedlungen kaum. Andererseits wirken Großwohnsiedlungen oft verwahrlost, was sich dann darauf überträgt, wie die Bewohner wahrgenommen werden. Der Grund hierfür sind die vielen gemeinschaftlich genutzten Flächen, deren Pflege und Unterhalt von den Eigentümern oft vernachlässigt wer-den. Die Bewohner haben wenig Möglichkei-ten, hier selbst Abhilfe zu schaffen, auch wenn gemeinschaftlich durchgeführte Projekte zur Wohnumfeldverbesserung die Situation durch-aus verbessern können.

A n s p r u c h u n d W i r k l i c h k e i t

Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass Großwohnsiedlungen als Alternative zu den Eigenheimgebieten konzipiert wurden, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren rasant in die Landschaft hinein ausbreiteten – und nicht zum verdichteten Wohnen in der Innenstadt. Kon-zeptionell wurzeln sie in der Gartenstadtbewe-gung, auch wenn sie mit dem von Sitte, Unwin und Barry geprägten Bild formal nicht mehr viel gemeinsam haben. Sie waren das Gegen-modell zu den damals noch heruntergekom-menen Altstadt- und Gründerzeitquartieren mit völlig unzureichender Sanitärausstattung,2

deren Abriss oftmals die einzig praktikable Lösung erschien. Der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen sowie später von Gastarbei-tern und deren Familien machte es bald nach dem Ende des Krieges nötig, die Produktion von Wohnraum effizienter als bisher zu orga-nisieren, was sich mit der klassischen

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Garten-stadt-Architektur nicht erreichen und den Bau von Großwohnsiedlungen sinnvoll erscheinen ließ. Am Stadtrand waren große Flächen für den Wohnungsbau leicht zu erschließen, es gab keinen Bestand, auf den man hätte Rücksicht nehmen müssen, und man konnte die Planung und den Bau optimieren, etwa durch den Ein-satz von Großtafelbauweise. Die Großwohn-siedlungen verbrauchten weniger Fläche als Einfamilienhausgebiete und versprachen eine ausreichend hohe Dichte, um ein Mindestmaß an Infrastruktur bieten zu können. Daneben bot die Neubauwohnung in einer Großwohn-siedlungen für viele der Erstbewohner einen bis dahin nicht gekannten Wohnkomfort, und auch die Emanzipation von ausbeuterischen Privat-vermietern und unsicheren Mietverhältnissen war häufig ein für die Bewohner nicht zu unter-schätzender Gewinn.

D e r R a u m d a z w i s c h e n

Was Großwohnsiedlungen sowohl von Eigen-heimgebieten als auch von den innerstädti-schen Wohnquartieren unterscheidet, ist der große Anteil von gemeinschaftlich genutzten Flächen. Diese machen, neben den individuel-len Wohnungen selbst, einen großen Teil der Qualität von Großwohnsiedlungen aus. Gleich-zeitig erfordern sie aber viel Pflege und Unter-halt, was nur sehr bedingt von den Mietern übernommen werden kann. Und anders als im Eigenheim mit Garten betrifft der Zustand der Gemeinschaftsflächen alle Bewohner und nicht, wie dort, den jeweiligen Eigentümer. Schlecht gepflegte Gemeinschaftszonen füh-ren aber dazu, dass die Bewohner von der Außenperspektive als unordentlich und asozial wahrgenommen werden, nicht jedoch deren Vermieter. Im direkten Vergleich zeigt sich, zum Beispiel in der Frankfurter Siedlung Main-feld, dass die von Einzeleigentümern bewohn-ten Häuser viel inbewohn-tensiver und von vor Ort

1 Dieter Hoffmann-Axthelm spricht

beispielsweise davon, dass damals in Deutschland das Gesellschaftsbild einer „staatlich organisierten Massengesellschaft“ geherrscht habe, in der “man glaubte, der Staat sei verpflichtet, die Vergesellschaftung aller Lebensbezüge vorzunehmen, die vorher in der Verantwortung der Individuen lag.“ (Die Katastrophale Utopie – Planungswirtschaft und Sozialdogmatismus. Im Gespräch mit Dieter Hoffmann-Axthelm. In: Michael Braum, Christian Welzbacher (Hg.): Nachkriegsmoderne in Deutschland. Eine Epoche weiterdenken. Basel 2009

2 Siehe hierzu die dokumentarischen

Fotos von Heinrich Kuhn in: Sabine Krüger und Heinrich Kuhn: Armutszeugnisse. West-Berlin vor der Stadterneuerung. Bruhns, Berlin 2014

3 Informationen zum Wettbewerb und

den Ergebnissen online unter http://www. stadtplanungsamt-frankfurt.de/wettbewerb_ nordweststadt_9061.html (aufgerufen am 19. März 2014)

4 vgl. Werner Hegemann: Das steinerne

Berlin. Berlin, Frankfurt am Main, Wien 1963 (Orig. 1930)

5 Siehe hierzu die dokumentarischen

Fotos von Heinrich Kuhn in: Sabine Krüger und Heinrich Kuhn: Armutszeugnisse. West-Berlin vor der Stadterneuerung. Bruhns, Berlin 2014

6 Siehe Maren Harnack: Rückkehr der

Wohnmaschinen. Sozialer Wohnungsbau und Gentrifizierung in London. Bielefeld 2012

7 Stellvertretend genannt seien hier:

Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte (Frankfurt am Main 1965) und Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angreß: Die gemordete Stadt (Berlin 1964), die früh Kritik am modernen Siedlungs- und Städtebau übten.

8 Eine Suche bei Google News zeigt

allein für den Monat August bzw. September 2015 jeweils über 200 Treffer an, darunter fast alle überregionalen Zeitungen sowie zahlreiche Nachrichtenmagazine. Die Wohnungsmarktanalyse des BBSR fasst die Lage auf dem Titelblatt zusammen: ”Die gestiegene Nachfrage nach Wohnraum und der notwendige Wohnungsneubau sind seit einiger Zeit wieder im Zentrum der wohnungspolitischen Diskussion. Ursächlich dafür sind Angebotsengpässe insbesondere in den dynamischen Ballungsräumen und

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angestellten Hausmeistern gepflegt werden. Zudem sind die Wohnungen meistens deutlich weniger dicht belegt als im sozialen Wohnungs-bau, wo häufig weniger als ein Zimmer pro Person zur Verfügung steht. Damit werden die Gemeinschaftsbereiche dort eben auch inten- siver genutzt und abgenutzt – und erfordern zwangsläufig einen höheren Pflegeaufwand. Im Umkehrschluss heißt das, dass in Groß-wohnsiedlungen besonders viel Sorgfalt auf die Pflege der Gemeinschaftszonen verwendet werden muss. Attraktive Gemeinschaftsflä-chen verbessern nicht nur das Image der Sied-lung und ihrer Bewohner, sondern sie können auch den Austausch mit der Umgebung för-dern, indem weitere Bevölkerungsgruppen in die Siedlungen kommen, um eben diese Orte aufzusuchen. Auch hier ist ein Projekt, das im Rahmen des Programms „Aktive Nachbar-schaft“ im Frankfurter Mainfeld verwirklicht wurde, vorbildlich: Gemeinsam mit den Bewoh-nern wurden höchst attraktive Spielplätze geschaffen, die auch fast zehn Jahre nach ihrer Entstehung keine Spuren von Vandalismus zeigen und regelmäßig von den Kindern aus der weiteren Umgebung aufgesucht werden. Die übrigen Freiflächen sind freilich weiterhin schlecht gepflegt, der Rasen nicht gemäht, die Büsche nicht geschnitten, die gebrochenen Gehwegplatten nicht ersetzt.

Auch in der Frankfurter Nordweststadt wurde inzwischen erkannt, dass die üppig vorhande-nen Freiflächen das größte Potenzial der Sied-lung sind. Bestrebungen, in größerem Maßstab nachzuverdichten, stießen bei den Bewohnern auf wenig Gegenliebe; Forderungen nach bes-serer Freiraumgestaltung scheiterten bis-her an der Finanzierung. Letztendlich hat die Stadt Frankfurt am Main einen Wettbewerb durchgeführt, um praktikable Vorschläge für die zukünftige Freiraumplanung zu erhalten – obwohl sie dort nur mittelbar am Wohnungs-bestand beteiligt ist. Nun hofft man, dass die

in zahlreichen Universitätsstädten mit der Folge dort steigender Mieten und Preise. Angetrieben wird die Diskussion auch durch die von Jahr zu Jahr steigenden Zuwanderungssalden aus dem Ausland von zuletzt etwa 600.000 im Jahr 2014.” (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Wohnungsmarktanalyse 2013. Bonn 2015. Online unter: www.bbsr. bund.de/BBSR/DE/WohnenImmobilien/ Wohnungsmarktprognosen/Fachbeitraege/ Prognose2030/Prognose2030_node.html aufgerufen am 1. Oktober 2015)

9 Daten zum Bestand an geförderten

Wohnungen werden nicht systematisch erfasst, eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Caren Lay im Juli 2012 ergab, dass es Anfang 1990 bundesweit etwa 3 Millionen geförderte Wohnungen gab, 2002 etwa 2,45 Millionen und 2010 etwa 1,66 Millionen. Neuere Daten liegen nicht vor.

10 Siehe beispielsweise “27-Jähriger nach

tödlicher Schießerei in U-Haft” vom 3. April 2014 im Nachrichtenmagazin Focus (online unter www.focus.de/regional/frankfurt- am-main/kriminalitaet-schiesserei-in-frankfurt-ein-toter-und-zwei-schwerverletzte_ id_3740820.html aufgerufen am 1. Oktober 2015), hier insbesondere die Beschreibung des Quartiers: “Alle vier Frankfurter hätten Kontakte zu der Hochhaussiedlung am Ben-Gurion-Ring. Die Wohnblocks gelten vielen als Inbegriff sozialer Schieflage und werden auch „Golanhöhe“ genannt. Die Hochhaussiedlung war in den vergangenen Jahren wegen Drogen und gewaltsamen Auseinandersetzungen immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Auch zwei 2008 als „U-Bahn-Schläger“ bekanntgewordene Männer kamen aus der Siedlung.” Ähnlich die Besprechung des Freiburger Rieselfeldes durch Till Briegleb in der Zeit vom 1. März 1996, online unter http://www.zeit.de/1996/10/Der_Traum_von_ der_lebendigen_Vorstadt (aufgerufen am 23. September 2015)

11 Alice Coleman: Utopia on Trial.

Hilary Shipman, London 1985

12 Oscar Newman 1972, online abrufbar

unter www.defensiblespace.com

13 Jane Jacobs: Tod und Leben großer

Amerikanischer Städte. 3. Auflage, Vieweg. Braunschweig 1993 (orig. 1963)

14 In der Zeit schrieb Till Briegleb hierzu

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auch die Grünflächen dafür, dass die für heu-tige Verhältnisse sehr kleinen Wohnungen noch immer extrem beliebt sind.

S i e d l u n g s k u l t u r e n

Im westeuropäischen Diskurs war die Stadt des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts lange ein verbreitetes Feindbild.4 Die

Altbauwohnun-gen, die wir heute so schätzen, waren damals noch unsaniert, völlig unzureichend ausgestat-tet5 – und außerdem häufig überbelegt. Die

Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren zunächst ein willkommener Anlass, um diese traditionellen Strukturen durch modernere Siedlungsformen zu ersetzen und damit weiten Teilen der Bevölkerung gesundes und bezahl-bares Wohnen zu ermöglichen. Dass nach dem Wiederaufbau die Flächensanierung von bis dahin kaum zerstörten Quartieren begonnen wurde, ist nur vor dem Hintergrund des damals häufig desolaten Zustands von Altbauten aus der Gründerzeit zu verstehen. Trotzdem woll-ten nicht alle Bewohner aus diesen Quartiere in die modernen Großwohnsiedlungen umzie-hen und begannen, sich gegen die Abrisspläne zu wehren, etwa im Frankfurter Westend oder in Berlin-Kreuzberg. Dass die verantwortlichen Planer und Politiker erst durch diese Bürgerpro-teste dazu gebracht werden mussten, von der Landestochter Nassauische Heimstätte, die

im Wettbewerbsgebiet einen großen Teil der Wohnungsbestände hält, bei der Umsetzung des Freiraumkonzepts vorangeht. Konkrete Schritte hat es allerdings noch nicht gegeben.3

Eine dritte Möglichkeit, mit den gemeinsamen Freiflächen umzugehen, ist am Hamburger Grindelberg zu sehen: Die Parzellen der Wohn-hochhäuser enden direkt an der Fassade und der gesamte Freibereich zwischen den Gebäu-den ist als öffentlicher Park ausgewiesen, der von der Stadt betreut und gepflegt wird. Anders als die Mehrzahl der Großwohnsiedlun-gen liegt der Grindelberg allerdings im dicht besiedelten Stadtteil Hoheluft, und der Park dient tatsächlich auch dem umliegenden Quar-tier als Erholungsfläche. Obwohl auch in Ham-burg Finanzmittel der öffentlichen Hand knapp sind, schafft diese Lösung dauerhaft Klar-heit und entlastet die Mieter von allzu hohen Nebenkosten. Nebenbei sorgen unter anderem

Die Terrassenhaussiedlung Graz St. Peter von der Werkgruppe Graz (1965–1978). Hier wurde

nicht nur verdichteter Wohnungsbau am Rande der Stadt. Das Miteinander der Bewohner und die Möglichkeit, sich die Räume der Siedlung anzueignen, standen bei der Konzeption im

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Der Fachdiskurs hat sich in den 1980er- und 1990er-Jahren weithin auf die Defizite der Großwohnsiedlungen konzentriert.7 Die

struk-turellen Rahmenbedingungen, die zu der Kon-zentration von Bewohnern mit Migrationshin-tergrund, Arbeitslosigkeit und relativer Armut in den Großwohnsiedlungen geführt haben, blieben dabei weitgehend außer Acht, insbe-sondere die veränderte Förderung von Sozial-wohnungen, die großmaßstäbliche Privatisie-rung kommunaler Wohnungsbestände sowie der schrumpfende Bestand geförderter Woh-nungen insgesamt. Erst in jüngster Zeit nimmt der Wohnungsmangel in den Ballungsräumen wieder breiten Raum in der politischen Diskus-sion ein,8 wobei keine zuverlässigen Aussagen

über den Gesamtbestand an sozial gebunde-nen Wohnungen gemacht werden köngebunde-nen.9

Ohnehin fallen die Wohnungen in den Groß-wohnsiedlungen ebenso aus der Bindung wie an anderen Standorten, und sie sind ebenso von Privatisierungen betroffen wie andere Bestände. Gerade in Großwohnsiedlungen, in denen die Bestände ehemals von der öffent-lichen Hand gehalten wurden, hat die Privati-sierung möglicherweise negative Folgen für die Qualität der gemeinschaftlich genutzten Räume, wenn die Pflege dieser nicht direkt vermietbaren Flächen zugunsten der Rendite eingeschränkt wird – und damit auch für die Außensicht auf Siedlung und Bewohner. Flächensanierung abzurücken, wird heute oft

als Beweis dafür verstanden, dass die großen Siedlungsprojekte Fehlplanungen seien. Dabei hat erst der moderne Massenwohnungsbau mit seinen enormen Produktionszahlen die Voraus- setzungen dafür geschaffen, dass die Altbau- quartiere erhalten und saniert werden konnten – und nicht zuletzt viel weniger dicht bewohnt werden müssen. Die öffentliche Hand hat die Sanierung der ehemals ungeliebten Altbauquar-tiere mit vielen Fördermillionen unterstützt. Heutzutage werden die in diesen Quartieren liegenden Wohnungen teuer an die zahlungs-kräftige Bevölkerung verkauft oder vermietet. Die Großwohnsiedlungen bieten im Windschat-ten dieser Renaissance noch immer guWindschat-ten und günstigen Wohnraum in stadtnahen Lagen. Um diesen Wechsel in der Förderpolitik zu rechtfertigen, waren die Großwohnsiedlungen ein willkommenes Feindbild und man diskredi-tierte sie als seelenlose Mietskasernen, die man denen, die sich nichts Besseres leisten konnten, gnädig zur Verfügung stellte. Im Vergleich zu dieser negativen Außensicht leben die meis-ten Bewohner auch heute noch gerne in ihren Großwohnsiedlungen. Ihre Kritik wendet sich weniger gegen die Bau- oder Siedlungsform, sondern gegen die verbreitete Stigmatisierung und auch gegen den oft unzureichenden Unter-halt seitens der Eigentümer.6

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Die Kritik an der mangelnden Urbanität moderner Großwohnsiedlungen und deren Gleichsetzung mit desolaten sozialen Zustän-den hat sich bis heute erhalten.10 Das Buch

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ hat die weit-gehend negative Außensicht von der Berliner Gropiusstadt nachhaltig geprägt, ebenso wie die Londoner Großwohnsiedlung Tha-mesmead noch heute mit Stanley Kubricks dystopischem Film „Clockwork Orange“ in Verbindung gebracht wird. Bücher wie „Uto-pia on trial“,11 „Defensible Space“12 oder „Tod

und Leben großer Amerikanischer Städte“13

haben die Bedeutung von klar definierten öffentlichen Räumen und informeller Über-wachung im Fachdiskurs etabliert, Qualitäten die, so die Autoren, in den modernen Groß-wohnsiedlungen schlicht nicht zu erreichen seien. Im Umkehrschluss führte dies zu einer Renaissance der Blockrandbebauung bei Neu-planungen, wie sie etwa im Freiburger Riesel-feld umgesetzt wurde.14 Andere prominente

Beispiel für die Renaissance der Blockrandbe-bauung sind die Tübinger Südstadt oder das Deutschherrnufer in Frankfurt am Main. Der nur vordergründig kausale Zusammen-hang von städtebaulicher Form und sozialen Problemen erschien in dieser Diskussion so zwingend, dass die umgekehrte Abhängigkeit gar nicht in Erwägung gezogen wurde, dass sich also soziale Probleme in Quartieren wie dem an das Rieselfeld angrenzende Weingar-ten konzentrieren, weil die Menschen wenig Geld haben und daher im sozialen Wohnungs-bau leben müssen. Und auch die Lösung sozia-ler Probleme durch eine andere städtebauliche Form erscheint in Rahmen dieses Diskurses plausibel. Entwürfe wie der Wettbewerbsbei-trag von Christoph Mäckler für die Gropius-stadt in Berlin setzen diese Lesart fort, indem sie versuchen, in den fließenden Räumen der Moderne Blockränder zu etablieren und damit „Urbanität“ und „soziale Mischung“ zu erzeu-gen.15

des vorstädtischen Bauens in Freiburg sind die gründerzeitlichen Stadterweiterungen“, schränkt aber ein, dass Kompromisse bei der Planung dazu führen werden, dass man „die Kneipe an der Ecke und den Gemüsehändler im Haus nebenan […] im Rieselfeld wahrscheinlich vergeblich suchen“ werde. Die Probleme des angrenzenden Stadtteils Weingarten führt der Autor auf die der Moderne verpflichtete städtebauliche Konstellation zurück: „Das Viertel, das mit seinen zwanzigstöckigen Wohnsolitären und den drum herum verteilten Zeilenbauten, umgeben von öffentlichem, auf Distanz haltendem Grün, wie aus dem Lehrbuch des modernen Städtebaus wirkt, ist zu vier Fünfteln von Menschen bewohnt, die von privaten Wohnungsbaugesellschaften nicht als Mieter akzeptiert werden. […] Auch pastellbunte Verschönerungen an den Fassaden […] können nicht die grundsätzliche Ratlosigkeit der Stadtplaner beseitigen, was mit diesen sozialen Wartesälen und Schließfachtürmen im Hinterland der Stadt eigentlich geschehen soll. Die Zeit, 1. März 1996, a.a.O.

15 Brigitte Schmiemann schrieb in der

Berliner Morgenpost vom 26. September 2014; “Mit Läden und Arkaden will Architekt Mäckler mehr Leben in die Siedlung bringen.” (online unter http://www.morgenpost.de/ berlin/article132675325/Spatenstich-in-Berliner-Gropiusstadt-fuer-250-Wohnungen. html, aufgerufen am 24. September 2015). Isabell Jürgens beschrieb die Gropiusstadt in der Welt unter dem Titel “Im Ghetto des Südens wird wieder gebaut”: “Seit den 1980er-Jahren gilt die Großwohnsiedlung vor allem als seelenloses Hochhausghetto, als sozialer Brennpunkt, bundesweit bekannt geworden durch das Buch 'Wir Kinder vom Bahnhof Zoo'”. Christoph Mäcklers Neuplanungen werden hingegen gelobt: “Statt monotoner Wohnsiedlung soll ein urbanes Stadtviertel entstehen.” Die Welt, 22. Oktober 2012, online unter http://www.welt.de/regionales/berlin/ article110132228/Im-Ghetto-des-Suedens-wird-wieder-gebaut.html, aufgerufen am 23. September 2015

16 vgl. zahlreiche Studien, z.B. „We call

these projects home“(online unter: http:// www.righttothecity.org/index.php/resources/ reports/item/61-we-call-these-projects-home, aufgerufen am 19. März 2014) oder Harnack: Wohnmaschinen, a.a.O., insbesondere den Abschnitt über den Aylesbury Estate.

Die Siedlung La Rouviere in Marseille von Raoul Guyot (1960–71) ist eine der größten Eigentümergemeinschaften in Europa. Anders als

man auf den ersten Blick denken mag ist das Gebiet ein Wohnort der oberen Mittelschicht.

Concierges und ein Sicherheitsdienst sorgen für Ordnung.

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nicht mehr dem, was die urbanen Eliten unter attraktivem Wohnen verstehen, doch sollte man das nicht zum Anlass nehmen, sie als grundsätzlich defizitär zu verstehen. Vielmehr sollten die urbanen Eliten ihre eigenen Vor-stellungen hinterfragen und begreifen, dass das innenstadtnahe, dichte Wohnen im Alt-bau nicht nach jedermanns Geschmack ist und dass es Personengruppen gibt, die sich dort im Angesicht des verbreiteten, bildungsbürgerli-chen Habitus keineswegs wohl fühlen. 16

Anstatt Großwohnsiedlungen mit dem An- spruch zu konfrontieren, sie mögen doch bitte „urbaner“ und ihre Bewohnerschaft „sozial gemischter“ werden – eben eher so, wie die von der bildungsbürgerlichen Mittelschicht geschätzten, innerstädtischen Gründerzeit-quartiere –, sollten wir uns darauf besinnen, die wesentlichen Qualitäten, die Großwohn-siedlungen heute noch auszeichnen, zu schät-zen und zu fördern: Die relativ üppig vorhande-nen gemeinschaftlich genutzten Freiräume, die meistens noch günstigen Mietwohnungen, die relativ gut ausgeprägte soziale Infrastruktur. Gerade in einer Zeit, in der sich die öffentliche Hand immer weiter aus der Wohnraumversor-gung zurückzieht, gewinnen die Bestände der Großwohnsiedlungen wieder an Bedeutung. Und zwar nicht nur, weil sie von den zahlungs-kräftigen Schichten gemieden werden, sondern weil sie praktischen, gut geschnittenen Wohn-raum mit direktem Grünbezug bieten. Diese Erkenntnis setzt aber voraus, dass die urbane Mittelschicht ihre eigenen normativen Vorstel-lungen vom richtigen Leben hinterfragt. Dabei könnte es helfen, Großwohnsiedlungen über-haupt erst einmal unbefangen anzuschauen, anstatt sie an falschen Vorbildern zu messen. Dieser zu kurz gedachte Schluss von der

städtebaulichen Form auf Mangel an Urba-nität und damit verbundene soziale Prob-leme ist allerdings gefährlich. Denn die daran geknüpften formalen Kriterien für Urbanität – definierte Raumkanten, hohe Nutzungsmi-schung und belebte öffentliche Räume – soll-ten Großwohnsiedlungen nie erfüllen, und sie werden dies auch in absehbarer Zeit gar nicht können. Und eine solche Schlussfolgerung ver-stellt den Blick auf die Qualitäten, die Groß-wohnsiedlungen haben und die ihre Bewohner auch heute noch schätzen: praktische Woh-nungen, niedrige Mieten, viel Grün. Hier wird deutlich, dass die Kritik an Großwohnsied-lungen zumindest teilweise auch von ästheti-schen Vorlieben bestimmt ist. Das komplexe Geflecht aus Präferenzen, Rahmenbedingun-gen und alltäglichen VerflechtunRahmenbedingun-gen, auf dem die Wohnortwahl beruht, umfasst aber viel mehr als ästhetische Entscheidungen und kann eben auch zu dem Ergebnis führen, dass eine Großwohnsiedlung den größten Nutzen verspricht.

Großwohnsiedlungen entsprechen vielleicht

Die Siedlung La Viste von Candilis, Josip und Woods (1958–64) wurde im sozialen Wohnungsbau errichtet. Nach der Fertigstellung zogen viele Algerienflüchtlinge ein. Der gelegentliche Besuch

von Architketurtouristen wird von den Bewohnern heute verwundert zur Kenntnis genommen.

(21)

Martin

Bredenbeck

Wohn

siedlungen

vermitteln

2

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Martin Bredenbeck

Wohnsiedlungen vermitteln:

der Ansatz der Werkstatt

Baukultur Bonn

In Bonn stand 2009 die Beethovenhalle zur Debatte. Ausgerechnet im Jahr des fünfzigs-ten Einweihungsjubiläums wurden Stimmen laut,

die forderten, das geschützte Baudenkmal von 1959 zugunsten eines noch ungewissen Festspiel-hausprojektes abzureißen. Um das öffentliche Bewusstsein für die gestalterischen, leider durch mangelnde Pflege nicht immer leicht

wahr-nehmbaren Qualitäten der Beethovenhalle zu fördern, gründete sich am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn die studentische

Initiative Beethovenhalle.

Die Beethovenhalle in Bonn.

Unter der Schirmherrschaft von Prof. Dr. Hiltrud Kier richtete die Initiative einen offe-nen Brief an die damalige Bonner Oberbürger-meisterin, dem sich zahlreiche Angehörige des Instituts anschlossen. Den 50. Geburtstag der Beet hovenhalle am 8. September 2009 beging die Initiative mit öffentlichen Führungen, mit einer Fotoausstellung im Kunsthistorischen Institut, mit einem Kolloquium und schließ-lich mit der 2010 erschienenen Publikation „Beet hovenhalle Bonn. Konzerthaus, Festsaal, Denkmal“. Die Initiative schaffte es, all denje-nigen Gehör zu verschaffen, die sich in Bonn bis

zu diesem Zeitpunkt nicht zu Wort gemeldet hatten, nämlich den zahlreichen Freundinnen und Freunden der Beethovenhalle, die in dem Gebäude mehr als ein potenzielles Abrissob-jekt sahen. Gemeinsam mit der Bürgeriniti-ative ProBeethovenhalle wurde am Ende ein beachtlicher Erfolg erzielt. Für die Studieren-den gipfelte er vorläufig in der Auszeichnung mit der Silbernen Halbkugel des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz 2010, also der höchsten Auszeichnung in Deutsch-land auf dem Gebiet von Denkmalschutz und Denkmalpflege.

Einladung zur Veranstaltung Werkstatt@Stadthaus

In der Folge entwickelte sich die Initiative Beet hovenhalle 2011 zur „Werkstatt Baukultur Bonn“ weiter, um einen grundsätzlichen Bei-trag zu den Baukulturdebatten in Bonn zu leis-ten. Damit ist an der Schnittstelle von Öffent-lichkeit und Fachwelt ein Forum entstanden, das das universitäre Wissen in die Stadtge-sellschaft hineinträgt. Dabei geht es nicht aus-schließlich um denkmalgeschützte Bauten und Anlagen, sondern um Baukultur in einem weit-gefassten Sinn. Bauten und Anlagen der Nach-kriegsmoderne bilden einen wichtigen thema-tischen Schwerpunkt.

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S e l b s t v e r s t ä n d n i s d e r A k t i o n s g r u p p e

Die Mitglieder der Werkstatt Baukultur finden sich für verschiedene Aktionen wie öffentliche Führungen, Vortragsabende und kleine Kollo-quien in immer neuen Konstellationen zusam-men. Die Gruppe, die weiterhin am Kunst-historischen Institut verankert ist, setzt sich für Planungs- und Diskussionskultur und für einen nachhaltigen Umgang mit (gebauten) Ressourcen ein. Das Vorhandene soll ertüch-tigt werden, statt in immer wieder eingelei-teten grundlegenden Neuplanungen in Frage gestellt zu werden. Die Stadtgesellschaft soll für vorhandene Qualitäten sensibilisiert wer-den, die manchmal erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Ortstermine werden durch Archivrecherchen und ausführliche Ortsbe-gehungen vorbereitet. Dazu kommen Kon-takte zu Experten, beispielsweise Architekten, Denkmalpflegern, Nutzern der Gebäude. Nach fünf Jahren kontinuierlicher Arbeit werden die Anregungen der Gruppe mittlerweile in der Stadtöffentlichkeit sehr gut wahrgenommen, und auch die Stadt Bonn selber hat Vertrauen zu ihr gefasst, hat der Gruppe beispielsweise mehrfach die Organisation des Tags des offe-nen Denkmals anvertraut sowie ihr Mitarbeit im Rats-Unterausschuss für Denkmalschutz gewährt.

Schon bei der Verteidigung der Beethoven-halle hat es sich als erfolgreich erwiesen, inte-ressierten Menschen an Ort und Stelle Füh-rungen anzubieten: „Sehen Lernen – Sehen Lehren“, so lautete die Devise. Daraus hat sich schnell eine etablierte Veranstaltungs-reihe entwickelt. Weitere in diesem Rah-men diskutierte Beispiele moderner Bon-ner Architektur waren unter anderem das 1978 eingeweihte Stadthaus, das Juridicum (Fakultätsgebäude der Rechts- und Staats-wissenschaftlichen Fakultät, Grundstein-legung war 1963), das in den 1970er-Jahren

fertiggestellte Viktoriabad und der aus der gleichen Zeit stammende Bahnhofsvorplatz, das sogenannte Bonner Loch und die Südüber-bauung.

Bei Werkstatt@Bonner Loch wurde die vernachlässigte Bühne des Bahnhofsvorplatzes mit

viel interessiertem Publikum zurückerobert.

Der rote Faden, der sich durch die Arbeit der Werkstatt Baukultur zieht, ist die Architek-turvermittlung an interessierte Laien. Viele Menschen möchten über Bauen und Planen mitreden (und sollen es ja durchaus auch). Sie verfügen jedoch oft nicht über das nötige Infor-mationsfundament, um über diffuse Urteile und über Unterscheidungen „schön“ und „häss-lich“, „marode“ und „modern“ hinauszukom-men. Architektur als Kind ihrer Zeit verstehen – und würdigen – zu können, bedarf der Erklä-rung. Auch die Bonner Presse hat das Wirken der Werkstatt mittlerweile als konstruktives Angebot begriffen und bewirbt es beispiels-weise im Terminkalender. Zu entdecken gibt es im Programm vieles, was nicht auf der Agenda stadthistorischer oder touristischer Führun-gen steht: öffentliche Plätze, Architektur der Nachkriegsmoderne, moderne Sakralbauten, aber auch ein Thema wie Wohnsiedlungen. So ergänzt das Werkstatt-Programm die vorhan-denen Führungsangebote um eine bis dahin nicht vorhandene, doch benötigte Facette. Der Slogan „So hast Du Bonn noch nicht gesehen“ bringt dies zum Ausdruck.

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zur Anbindung an Bad Godesberg –, schreckte Mitte der 1950er-Jahre das damals zustän-dige Bundesfinanzministerium vor einem Kauf zurück. Die Realisierung der Siedlung ver-sprach dann die Initiative eines Godesberger Bauunternehmers, der 1959 mit der Stadtver-waltung vereinbarte, als Bauherr einer großen Siedlung, einer regelrechten Satellitenstadt für 8.000 Bewohner, aufzutreten. Die Verkaufsbe-reitschaft des Landbesitzers kam ihm dabei zugute.

Ein 1960 durchgeführter Gutachterwettbe-werb sollte die städtebauliche Gestaltung klären: Eingeladen waren Architekt Prof. Steinbach, Aachen, die Städtebauer Wal-ter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann, beide Kronberg/Taunus, sowie Architekt Ralf Hogrefe, der für den Bauunternehmer tätig war. Die von Schwagenscheidt und Sittmann vorgeschlagene Raumstadt stieß auf positive Resonanz. Freilich unterließ der Bauherr es, die beiden Städtebauer mit der Ausarbeitung ihrer Entwurfsidee zu einem Bebauungsplan zu beauftragen und wollte diese Arbeiten in sei-nem eigenen Unternehmen ausführen lassen. Als sich jedoch herausstellte, dass Planungs- und Erschließungsaufwand die Möglichkeiten des Unternehmens weit übersteigen würden,

E i n S c h w e r p u n k t t h e m a : B o n n e r S i e d l u n g e n

Auch ohne bewusst gesetzte Jahresthemen haben sich thematische Schwerpunkte her-ausgebildet. Hierzu zählt auch das Thema Siedlungen, das beim Publikum auf große Resonanz gestoßen ist. Die vom HICOG, High Commissioner Of Germany (Hochkommissar für Deutschland), um 1950 errichteten Wohn-siedlungen waren die ersten Objekte auf die-sem Feld, zu denen die Werkstatt Baukultur Führungen angeboten hat. Da die Bedeutung dieser Siedlungen im Stadtgedächtnis und natürlich bei ihren Bewohnern sehr präsent ist, lag das Thema nahe. Zudem sind die Bau-ten der frühen Hauptstadtzeit allgemein als Kulturerbe anerkannt und zu einem großen Teil denkmalgeschützt.

Als nächsten Schritt kamen jüngere Siedlungen ins Programm, beispielsweise die Großstruktur Brüser Berg (Bauschwerpunkt der 1970er- und 1980er-Jahre) und die Wohnsiedlung Heider-hof (erster Spatenstich 1964, Bauschwerpunkt 1960er-Jahre).

D i e S i e d l u n g H e i d e r h o f

Mit der Siedlung Heiderhof wurde auf den rasant wachsenden Wohnraumbedarf für die zunehmende Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Diensten des Bundes sowie für deren Familien reagiert. Gerade im südlich von Bonn gelegenen, damals noch selbständigen Bad Godesberg bot ländlicher Großgrundbe-sitz gute Voraussetzungen für die Entwicklung von Ministeriums- und Wohnstandorten. Die Gemarkung Heiderhof mit ihrem historischen Hofgut, auf einer Höhenterrasse über der Stadt und dem Rheintal gelegen, stellte hinsichtlich Klima und Landschaft eine besonders wert-volle Wohnlage dar. Da jedoch umfangreicher Erschließungsaufwand absehbar war – etwa

Blick auf die Siedlung Heiderhof von Nordosten

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kauft. Im selben Jahr begann der Hausbau, und schon 1965 konnten die ersten Bewohner einziehen. In der Siedlung wurden in kurzer Zeit auf der sprichwörtlichen grünen Wiese am Waldrand die Stadtplanungs- und Architektur-ideale jener Zeit verwirklicht. Gedacht war der Heiderhof vornehmlich für Beamte und Bun-desbedienstete, insgesamt also eher für das mittlere bis gehobene Bürgertum. Diesen eher gediegenen Charakter, auf den auch die ver-schiedenen Haustypen vom Einfamilien-Rei-henhaus bis zum Wohnhochhaus abgestimmt sind, hat die Anlage bis heute bewahrt. Bis in die 1970er wurde am Heiderhof weitergebaut und mittlerweile natürlich auch vieles verän-dert (renoviert, modernisiert usw.).

Auf der Karte ist die Binnenstruktur des Heiderhofs besonders gut zu erkennen

Der Blick auf die Karte zeigt eine im Überblick fast lungenartige Struktur, deren Verkehrsnetz sich ausgehend vom Ring bis in kleine Stich-straßen verzweigt. Dabei ist der Innenbereich der Siedlung weitgehend frei vom motorisier-ten Individualverkehr, wie es dem Ideal der Trennung der Verkehrsströme entspricht. Über den Ring und die Anbindung an den öffentli-chen Personennahverkehr ist Bad Godesberg (seit der Kommunalreform Stadtbezirk von musste über eine Finanzierungshilfe durch

den Bund verhandelt werden. Weitere Gelder kamen aus Mitteln des Landes NRW für den sozialen Wohnungsbau.

Vor diesem Hintergrund wurde das Projekt Heiderhof in die Reihe der seit 1956 vom Bun- deswohnungsbauministerium geförderten De- monstrativbauvorhaben aufgenommen: Mit diesem Format ließ das Ministerium Erfah-rungen im gemeinnützigen Wohnungsbau sammeln, um vorbildhafte Siedlungen zu ent-wickeln.1 Für das Bonner Projekt lud das

Minis-terium die WOHNBAU AG, die GAGFAH und die Rheinischen Heimstätten ein, die fortan gemeinsam mit dem Bauunternehmer ein Koor-dinierungsgremium bildeten. An objektivierba-ren Ergebnissen wurden von den Demonstra-tivbauvorhaben u.a. erwartet, wie zu einem vorbildlichen Städtebau beigetragen werden kann, wie durch Rationalisierung der Bauab-läufe eine Kostensenkung gefördert und neue Konstruktionsweisen etabliert werden können. Das in Hannover ansässige, im Auftrag des Ministeriums tätige Institut für Bauforschung beriet die Beteiligten dabei kontinuierlich. Großer Einfluss kam dem Ministerium im Bon-ner Fall auch deswegen zu, weil dort auf Grund-lage der vorliegenden Entwurfsideen für die städtebauliche Gestaltung die Grundzüge der Bebauungsstruktur erstellt wurden. Anschlie-ßend arbeiteten die in Bonn ansässigen Inge- nieure Prof. Gaßner und Prof. Lammers den Verkehrs- und Erschließungsplan aus, worauf der Bebauungsplan erstellt werden konnte. Diese Entstehungsgeschichte erklärt, dass die Siedlung zunächst aus der Ingenieurs- und Stadtplanersicht auf Rationalisierung hin kon-zipiert wurde und dass der Tiefbau zunächst im Fokus stand, während die konkrete Gestaltge-bung für die Hauszeilen und Wohnhausgrup-pen erst im zweiten Schritt erfolgte.

Das namengebende Gut Heiderhof stellte 1962 seinen Betrieb ein, das Land wurde 1964

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ver-zu der das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 und die gerade in den 1980er-Jahren zahl-reichen Stadtrevitalisierungen viel beigetragen haben, und die modernen Siedlungen verloren einen Teil ihrer Anziehungskraft. Verschwiegen sei auch nicht, dass Herausforderungen wie der demografische Wandel oder die Neustruk-turierung christlich-kirchlichen Lebens auch im Heiderhof noch lange nicht gelöst sind.

W a s u n d w i e v e r m i t t e l n ?

Für die Führung durch den Heiderhof war zu überlegen, welche Aspekte die Werkstatt Bau-kultur, gleichsam ein Beobachter von außen, in die Siedlung hineintragen konnte. Es stellte sich heraus, dass den Bewohnern die Geschichte des Ortes und die Personen, die sie geprägt hatten, präsent waren. Auch war ein umfangreiches Wissen über die Siedlung auszumachen, das in praktischen Fragen des Alltags nützlich ist. Es ließen sich für die Menschen im Heiderhof aber Parallelen zur Architektur- und Stadtbau-geschichte aufzeigen, die in der Öffentlichkeit weniger vertraut sind und die es ermöglichen, die Siedlung in den größeren Zusammenhang der Gestaltungsgeschichte im 20. Jahrhundert zu stellen. Diese Erweiterung des Blicks hat erfahrungsgemäß eine positive Auswirkung auf die Wertschätzung, die sich, so die Hoff-nung, auch in persönliches Engagement über-setzt, beispielsweise wenn es um Pflege und Bewahrung des Bestandes geht.

Anhand zweier Beispiele soll erläutert wer-den, wie der Bezug zum Kontext internatio-naler Gestaltungsleitbilder illustriert werden konnte. Das erste ist der Neubau des Berliner Hansaviertels. Geplant ab 1953, entstand diese Mustersiedlung zwischen 1955 und 1960 und war Herzstück der Internationalen Bauaus-stellung Interbau 1957. Sie ist ein Musterfall für die Verwirklichung von Stadtlandschaf-ten, wie sie in der Wiederaufbauzeit überall in Bonn) der Bezugspunkt der Siedlung Heiderhof.

Im Luftbild deutlich zu erkennen sind die unterschiedlichen Haustypen, deren höchst abwechslungsreiche Bandbreite vom Bungalow für eine Familie bis hin zum vielgeschossigen Scheibenhochhaus reicht. Zu den Rändern der Siedlung hin werden die Gebäude schrittweise niedriger. Auffällig ist der hohe Grünanteil, und in der Tat bestimmen bis heute die gärt-nerisch gestalteten Freiflächen mit ihren mitt-lerweile ausgewachsenen Bäumen wesentlich das Erscheinungsbild des Heiderhofs. Für die Planung war das Büro des bekannten Bonner Garten- und Landschaftsarchitekten Heinrich Raderschall verantwortlich. Auch finden sich etliche Kunstwerke im öffentlichen Raum, für die in den verschiedenen Bauquartieren unter-schiedliche Künstler beauftragt wurden. Von einer Generalplanung für die Kunst im öffent-lichen Raum war zuvor Abstand genommen worden.

An den einzelnen Bauten haben die Eigentümer zwar in den letzten Jahren Veränderungen vor-genommen, die ästhetisch nicht immer vorteil-haft sind (zum Beispiel Fassadenverkleidungen oder neue Fensterrahmen), und auch mit den fast schon üblichen Problemen solcher Siedlun-gen wie der Vernachlässigung des öffentlichen Raums und dem Wegzug von Geschäften hat der Heiderhof zu kämpfen. Insgesamt bietet das Gebiet aber viel Wohnkomfort und hohe Lebensqualität – und erfreut sich daher großer Beliebtheit.

Der Zukunftsoptimismus der 1960er-Jahre, der die Menschen aus den damals noch stark ver-nachlässigten historischen Innenstädten und Stadtquartieren des 19. Jahrhunderts in sol-che Neubausiedlungen ziehen ließ, wurde frei-lich mittlerweile durch pragmatische Überle-gungen wie beispielsweise die Nähe zur Natur abgelöst. Darüber hinaus folgte den Siedlungs-idealen der Nachkriegsmoderne die Wiede-rentdeckung der historischen Stadtquartiere,

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wäre hier zweifellos eine schlichtere Lösung gefunden worden. Um den Teilnehmern der Führung dies zu veranschaulichen, dienten die Planungsvisionen für den Platz der Republik in Berlin von 1929 (heutiger Spreebogen) als Beispiel. Hans Poelzig war damals nur einer von mehreren Architekten, die im Wettbewerb eine großzügige Anordnung solcher Haus-scheiben vorschlugen.3 Ob die Architekten des

Heiderhofs diese Details im einzelnen gekannt haben, sei dahingestellt – der Wettbewerb von 1929 und seine Ergebnisse war sicher nicht die unmittelbare Inspirationsquelle für diese Pla-nung der 1960er-Jahre. Und doch gibt es eine enge Verbindung zwischen den Zeitschichten, die beispielsweise biografisch erklärbar ist. Denn die Architekten des Heiderhofs hat-ten ihre Ausbildung meist in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren absolviert, die Gestal-tungsideale der damaligen Zeit haben sie also zu einer Zeit aufgenommen, in der sich ihr Bild von guter Gestaltung erst geformt hat. Wich-tig war anhand dieser Parallelen anschaulich zu machen, dass der Heiderhof architektur-historisch eingeordnet werden und Ansatz-punkte für vertiefende wissenschaftliche Recherchen bieten kann. Das gleiche städ-tebauliche Motiv findet sich auch in anderen Demonstrativbauvorhaben aus dieser Zeit, Deutschland angestrebt wurden. Anstelle der

für die Entstehungszeit des Hansaviertels im 19. Jahrhundert charakteristischen Blockrand-bebauung entlang von sternförmig auf einen zentralen Platz zulaufenden Straßen entstand – befördert durch die starken Beschädigun-gen im Zweiten Weltkrieg – eine aufgelockerte Bebauung, deren unterschiedliche Haustypen gestaffelt in die Landschaft hineinkomponiert sind, gewissermaßen ein Landschaftspark mit Wohnhäusern. Die Crème de la Crème der damaligen international tätigen Archi-tekten lieferte die einzelnen Entwürfe, etwa Alvar Aalto, Oscar Niemeyer, Van den Broek & Bakema, Hans Schwippert, Walter Gropius und andere. Man kann ziemlich sicher davon aus-gehen, dass die weniger renommierten Archi-tekten des Heiderhofs dieses Vorbild gekannt haben; auf jeden Fall waren sie von ähnlichen Idealen geleitet.2

Das zweite Beispiel ist ebenfalls aus Berlin: Die den Norden des Heiderhofs prägende Struktur aus sechs entlang des gekurvten Heiderhof-rings radial angeordneten, mehrgeschossigen Wohnscheiben ist städtebaulich sehr einpräg-sam. Hier wurde offensichtlich eine markante Gestaltung angestrebt, denn aus rein funkti-onalen (oder besser: ratifunkti-onalen) Erwägungen

Blick auf das

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sich über den Kontext von Planung und Archi-tektur hinaus für die Werkstatt Baukultur als bedeutsam erwiesen.

Zunächst stellte sich eine Teilnehmerin als Vor-sitzende des Bürgervereins Heiderhof vor. Die in solchen Vereinen organisierten Bürgerinnen und Bürger sind für die Vermittlung von bauge-schichtlichem und kulturhistorischem Wissen über Wohnsiedlungen eine wichtige Gruppe. Ihnen bedeutet ihr Wohnumfeld unmittelbar etwas, sie sind daran interessiert, es zu verste-hen und es unter Umständen auch aktiv auf-beispielsweise in den Siedlungen Langen

Oberlinden und Dreieich-Sprendlingen Am Hirschsprung.4 Auch Bezüge zu anderen, in den

1960er-Jahren gleichzeitig entstandenen Bau-ten in Bonn halfen den Teilnehmern dabei, ein reichhaltiges Gesamtbild der Epoche zu erhal-ten. Kaum einer der Anwohner im Heiderhof wusste, dass kurz vor dem ersten Spatenstich der Siedlung das mittlerweile denkmalge-schützte Frankenbad in der Innenstadt einge-weiht und für das Juridicum der Grundstein gelegt worden war – in der Rückschau gehö-ren alle diese Bauten zur selben Epoche der Stadt- und Architekturgeschichte. Und was in dieser Zeit außerhalb Bonns beispielsweise an Siedlungen geplant wurde, war ein weiterer Baustein für ein vertieftes Verständnis des-sen, was am Heiderhof zu würdigen ist, sei es, weil es den damals allgemeingültigen Maxi-men folgt, sei es, weil es sich von ihnen durch eine besondere Eigenheit abhebt.

R e s o n a n z e n u n d E r g e b n i s s e

Der Zuspruch zur Führung durch die Sied-lung war unerwartet gut. Der Heiderhof ist für heutiges Empfinden durchaus abgelegen und für Bonnerinnen und Bonner aus anderen Stadtbezirken schlecht zu erreichen. Daher wären wenig Besucher der Führung nicht ver-wunderlich gewesen. Das Gegenteil war der Fall, selbst Gäste aus anderen Stadtbezir-ken waren dabei. Die Führung gestaltete sich abwechslungsreich, denn eine Großstruktur wie eine solche Siedlung bietet beste Möglich-keiten für Orts- und Perspektivenwechsel. Die Vielfalt der Haustypen und Freiräume erleich-tert dies außerdem. An unterschiedlichen Sta-tionen konnte eine Fülle von Einzelaspekten dargestellt werden. Im Spazieren, Zuhören und Diskutieren erlebten die Gäste ihr teil-weise ja durchaus vertrautes Umfeld neu. Unter den etwa 25 Interessierten waren neben Bewohnern der Siedlung auch drei Gäste, die

Zeitungsbericht über die Führung im Heiderhof – mit unerwartet positiver Schlagzeile.

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F a z i t

Das Thema Siedlungen erfreut sich allgemein eines großen Interesses. Es fällt in Bonn leicht, ein Publikum zu erreichen, das solchen Anlagen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt ist. Für diese Gäste entwickelt die Werkstatt Bau-kultur Spaziergänge, die lehrreich und unter-haltsam sind, die Architekturwissen vermitteln und auch das Wissen der Teilnehmenden ein-beziehen, da diese häufig Unerwartetes und Wichtiges beitragen können. Die differenzierte Struktur einer Siedlung bildet sich in Orts-wechseln ab, und im Idealfall entsteht aus den einzelnen Stationen und Bausteinen am Ende ein schlüssiges Gesamtbild. Allgemeingültiges und Lokal-Individuelles kommen zusammen, so dass Wissenschaft und emotionaler Bezug gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

Bei allem Optimismus muss freilich eine Ein-schränkung gemacht werden: Die Siedlung Heiderhof ist kein sozial problematisches Quartier, im Gegenteil. Die Bausubstanz ist in gutem Zustand, die verschiedenen Wohn-formen werden geschätzt, die meisten hier lebenden Menschen identifizieren sich sehr mit ihrem Wohnumfeld. Durch die Gesamt-zahl von heute rund 5.000 Einwohnern und die aufgelockerte und durchgrünte Struk-tur sind im Heiderhof die andernorts auf-tretenden Probleme von Anonymität, Dichte und Trostlosigkeit vermieden. Und: Konkrete Konflikte, die beispielsweise auftreten, wenn zwischen energetischer Sanierung und dem Erhalt architekturhistorisch wertvoller bau-zeitlicher Fassaden abgewägt werden muss, sind noch gar nicht angesprochen. Insofern war die Aufgabe, die baukulturelle Bedeutung dieser Siedlung der 1960er-Jahre einem Laien-publikum zu vermitteln, hier vergleichsweise einfach zu lösen. Dennoch kann sie als Modell für weitere Aufgaben dienen, denn Baukultur heißt für die Werkstatt konsequent auch: Ein-mischen und Mitwirken.

zuwerten. Außerdem verfügen diese Menschen und Vereine über wertvolles Alltagswissen und können damit die Arbeit von Gruppen wie der Werkstatt Baukultur sehr bereichern. Sie können beispielsweise eine Fülle von persönli-chen Geschichten erzählen, die mit Kuriosem und Bemerkenswertem die nötige emotionale Bindung herstellen, ohne die echtes Interesse wahrscheinlich nicht dauerhaft genährt wer-den kann.

Sodann stieß im Verlauf der Führung ein Mitar-beiter der Tageszeitung zur Gruppe, der ange-regt vom Terminkalender der Zeitung einen Bericht über die Veranstaltung und den Heider-hof allgemein geplant hatte. Daher fand sich kurz darauf im viel gelesenen Bonner Gene-ral-Anzeiger ein großer, bebilderter Bericht, der dem Heiderhof unerwartete Aufmerksam-keit verschaffte und nicht nur den Siedlungsbe-wohnern ein positives Bild von ihm vermittelte. Zwar hat die Siedlung in Bonn keinen schlech-ten Ruf, aber viele, die hier nicht leben und für die der Heiderhof „weit weg“ ist, haben auch keine klare Vorstellung von seinen Qualitäten. Die Werkstatt Baukultur hat daraus gelernt, immer wieder auch aktiv auf die Presse zuzu-gehen, um mittel- und langfristig dafür zu sor-gen, dass ihr Anliegen in die breite Öffentlich-keit getragen werden.

Und schließlich gab sich ein Teilnehmer als Buchautor zu erkennen, der kurz davor stand, das Manuskript zu seinem Buch „111 Orte in Bonn, die man gesehen haben muss“ abzu-schließen. Angeregt durch die Führung ent-schloss er sich dazu, den Heiderhof unter diese ausgewählten Orte aufzunehmen, die er Bonnerinnen und Bonnern, vor allem aber den Gästen von auswärts mit kurzen Porträts ans Herz legen wollte. So findet sich also eine Wohnsiedlung der 1960er-Jahre nun neben unangefochtenen touristischen Highlights wie der Bundeskunsthalle oder dem Haribo Werksverkauf.

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Die positive Berichterstattung über den Heiderhof geht weiter – es tut sich

was an der zentralen Marktpassage

1 Siehe Bundesministerium für

Woh-nungswesen und Städtebau (Hg.): Wohnungs-bau und Stadtentwicklung. Demonstrativ-bauvorhaben des Bundesministeriums für Wohnungswesen und Städtebau. Buchverlag Franz Faeckler, München 1967

2 Zur Geschichte des Hansaviertels siehe

Sandra Wagner-Conzelmann: Das Hansavier-tel in Berlin und die Potentiale der Moderne. Akademie der Künste, Berlin 2008.

3 Zum Wettbewerbsbeitrag von Hans

Poelzig siehe Wolfgang Pehnt: 1929 Hans Poelzig: Platz der Republik. In: Carsten Krohn (Hg.). Das ungebaute Berlin. Stadtkonzepte im 20. Jahrhundert. DOM publishers, Berlin, 2010

4 Vergleiche Maren Harnack: Generic

Germany. Unveröffentlichter Forschungsbe-richt, Frankfurt am Main 2015

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Rut Blees

Luxemburg

London

Apex

3

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Vertiginous Exhilaration 1995

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Rut Blees Luxemburg

London Apex – Urbane

Fotografie zwischen

Konstruktion und Vision

Die Fotografin Rut Blees Luxemburg setzt sich in ihren Arbeiten immer wieder mit dem urbanen, öffentlichen Raum auseinander. Ohne Menschen zu zeigen, reflektieren ihre Bilder die Bedingungen des Zusammenlebens in einer internationalen

Metropole wie London. Implizit sind die Mechanismen der Stadtproduktion ebenso präsent

wie die schwindenden Kräfte des britischen Sozialstaats. Maren Harnack sprach mit Rut Blees

Luxemburg über ihre Arbeit. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht die Arbeit A London Project, die Mitte der 1990er-Jahre entstanden ist und

Gebäude des sozialen Wohnungsbaus zeigt. Interview: Maren Harnack

Towering Inferno, 1995

→ MH Wie sind Sie darauf gekommen,

Häu-ser des sozialen Wohnungsbaus zu fotogra- fieren?

← RBL Mich haben diese Gebäude in London

interessiert, weil sich darin ein Modernismus manifestiert, der im Londoner Stadtbild auf den ersten Blick nicht so stark vertreten ist. Deshalb habe ich mich zu ihnen hingezogen gefühlt. Diese Siedlungen wurden – obwohl sie im Zentrum der Stadt liegen – als Randgebiete, oder wie man im Englischen so schön sagt, als

hinterland verstanden, was mit oft mit einer

medialen Stigmatisierung der Bewohner ein-herging. Mich interessierte zunächst ästhe-tisch und formal, wie diese Gebäude im Stadt-bild funktionieren; erst später hat dann auch ihre soziale Relevanz für mich an Bedeutung gewonnen.

→ Auf welche Weise haben Sie die Menschen interessiert? Es fällt sehr auf, dass auf den Bil-dern keine Personen zu sehen sind.

← Menschen verankern das Bild in einer gewis-sen Zeit. Kleidung und Haltung zeigen die Ent-stehungszeit der Arbeit. Die Gebäude jedoch haben etwas Zeitloses oder Zeitumspannen-des. Darum ging es mir in der Serie auch: Wie das Gebäude an sich, nicht als Skulptur, aber vielleicht als Ossature, als infrastrukturelles Skelett funktioniert. Die Menschen sind den-noch präsent: durch das Licht, die Autos, aber vor allem durch die individuelle Beleuchtung der Wohnungen.

→ Wie haben Sie die Motive ausgewählt?

← Die Häuser, die ich fotografiert habe, lie-gen alle mehr oder weniger in der Nähe von meiner damaligen Wohnung, im Londoner East End. Ich habe keine architekturspezifische Recherche betrieben, um die interessantesten Siedlungen zu finden, sondern ich habe mich in meinem unmittelbaren Umfeld umgeschaut.

→ Warum haben Sie nicht recherchiert? Gera- de im Hinblick auf den sozialen Aspekt wäre

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das naheliegend gewesen – zumindest nach wissenschaftlichen Kriterien.

← Die Recherche des Künstlers läuft auf einer anderen Ebene. Mich interessiert die Verwand-lung durch das Licht und die Nacht, die Ver-wandlung von einem realen Gebäude in einen imaginären Raum; wie der Raum sich durch die fotografische Repräsentation ins Imaginäre verschiebt und neu aufgeladen wird, also wie die Architektur wieder potenziell wird.

→ Worin genau besteht dieses Potenzial?

← Mit diesen Gebäuden waren konkrete Ideen der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung nach dem Zweiten Weltkrieg verknüpft, die ein utopisches Potenzial bergen: Moderne Woh-nungen für alle, gesellschaftliche Chancen-gleichheit, Streets in the Sky… Auch wenn dies nach und nach erodiert ist, ist das Potenzial immer noch in Ansätzen zu spüren – dem wollte ich nachgehen. Ähnlich dem Schriftsteller JG Ballard, den ich dann später entdeckte, zogen mich diese Hochhäuser und der Westway an, da sie Spannungen sichtbar machen. Diese Strukturen haben eine Dynamik, die für Verän-derungen, unerwartete Ereignisse und zufäl-lige Begegnungen steht. Ich gab meinen Arbei-ten euphorische Titel wie Meet me in Arcadia oder Vertiginous Exhilaration.

→ An wen wenden sich die Arbeiten?

← Sie wenden sich jedenfalls auch an das lokale Publikum. Ich habe die Arbeiten nicht nur in Galerien ausgestellt, sondern Caliban Towers wurde von muf architecture/art als großforma-tige Installation unter der Old Street Railway

Bridge gezeigt. So konnte die lokale

Bevölke-rung wiederum ihre Wohnsiedlungen in einem anderen Kontext sehen; eine Verschiebung der Plattformen, von social housing crisis zu Kunst im öffentlichen Raum.

→ Wie haben die Leute auf diese Installation reagiert?

← Es gab keine konkrete Rückmeldung. Aber

die Installation hat sich während des gesamten Jahres, in dem sie gezeigt wurde, unbeschädigt gehalten – ohne Graffiti oder Vandalismus, was ist ja auch eine Reaktion ist.

→ Und wie hat das andere Publikum, der Kunstmarkt und die Architektenschaft, rea-giert?

← Bald nach der Installation unter der Eisen-bahnbrücke habe ich ein Fotobuch gemacht:

London – a modern project, gerade

Architek-ten interessierte das. Die ArbeiArchitek-ten zeigen, dass Gebäude an sich nicht eindeutig bestimmt sind. Durch den Exzess von Farbe und auch durch die Komposition evozieren die Fotos ein Fallen, wie in dem Bild Vertiginous Exhilaration. Dadurch bekommt die Architektur eine Leben-digkeit, ein Momentum. Die Bilder sind keine Dokumentation, ihnen liegt eine grundsätz-lich andere Herangehensweise zugrunde, eine Art halluzinatorische Inszenierung. Ein Teil der Arbeiten wurden von öffentlichen Kunstsamm-lungen angekauft.

→ Haben Ihre Bilder eine Rückwirkung auf die Öffentlichkeit, auf die Wahrnehmung dieser Siedlungen?

← Ja, in London hat sich die Art, wie diese Siedlungen wahrgenommen werden, stark ver-ändert. Manche Hochhäuser sind regelrechte Kultobjekte geworden. Balfron Tower zum Bei-spiel wird gerade sehr erfolgreich privatisiert und vermarktet. Heute sind diese Häuser Orte wo man gerne leben möchte, wo kreative Leute leben. Diese Verbindung zur Kreativität ist eine sehr erfolgreiche Aufwertungsstrategie. Aber auch unabhängig von berühmten Archi-tekten wie Ernö Goldfinger hat sich die Wahr-nehmung des sozialen Wohnungsbaus aus den 1960er- und 1970er-Jahren verändert. In London haben die extreme Wohnungsknapp-heit und die unglaublich hohen Preise eine solche neue Sicht besonders begünstigt. Das ist noch mal anders als in Deutschland. Hier spielt es auf jeden Fall eine Rolle, dass es nicht

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→ Sind Sie dadurch in engeren Kontakt zu den Bewohner gekommen?

← Ja, zum Beispiel hat ein Bewohner, ein Künstler, es uns ermöglicht, die Wohnung als Galerie zu benutzen.

→ Sind auch andere Bewohner gekommen und haben sich die Ausstellung angeschaut?

← Einige sind gekommen, ja. Aber nicht jeder interessiert sich für zeitgenössische Kunst. Das muss auch nicht sein.

→ In dem Moment, in dem Sie eine Galerie in dem Haus realisieren, gehen Sie ja explizit und sehr aktiv auf die Bewohner zu. Vielleicht entsteht dadurch ein stärkeres Interesse an Ihnen?

← Die Vorstellung, dass durch so etwas ein engerer Kontakt entstehen müsste, ist eine Idealisierung des Miteinander-Lebens. Ich selbst lebe in einem Hochhaus des ehemaligen sozialen Wohnungsbaus. Das funktioniert und ist angenehm, weil man sich auf eine zivilisierte Weise in Ruhe lässt. Die Voraussetzung für das gute Zusammenleben ist, dass man sich in einer bestimmten Weise ignoriert. Dass man diese Höflichkeit gegenüber den Nachbarn hat und nicht zu viel Interesse zeigt. Es ist eine viel-leicht vollkommen falsche Projektion, dass wir alle best friends werden und Interesse aneinan-der haben sollten.

genügend erschwinglichen Wohnraum gibt. Spezifisch ist hier außerdem, dass man seine Sozialwohnung auch kaufen kann. Aber auch von solchen Besonderheiten abgesehen denke ich, dass selbst diese eher generische Architek-tur heute anders bewertet wird.

→ Weil sie im Kunstkontext auftaucht?

← Ja, das spielt auch eine Rolle; die Kunst hat Teil an dieser Umwertung. Die Arbeit Towering

Inferno zum Beispiel kam auf das Cover von The Streets, Original Pirate Material, und dadurch

hat sie ganz schnell ein größeres, breiteres Publikum gefunden. Diese urbane Ästhetik fand einen Nachhall bei einer jüngeren Genera-tion.

→ Noch mal zurück zum sozialen Wohnungs-bau: Wundert es Sie manchmal, dass diese Arbeiten nach 20 Jahren wieder ein Thema sind?

← Das zeigt, dass das relevante Arbeiten sind, die immer noch pulsieren. Aber ich habe damals nicht nur fotografiert. Befreundete Künstler und ich hatten eine Galerie namens Plummet in einer Wohnung im 16 Stock in einem dieser Gebäude. Wir haben es also auch von innen als Kunst-Raum genutzt. Und damit auch dieses beschränkte und einengende Verständnis von dem, was diese Gebäude sind und sein können, ignoriert.

Galerie Plummet: Eine großformatige Arbeit wird in die

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→ Sie fotografieren nach wie vor oft Stadt und Architektur. Sehen Sie Themen, die eine ähnliche Wirkung entfalten könnten? Wo Künstler mit ihrem Künstlerblick eine ästheti-sche Umwertung wahrnehmen, die, anders als beim sozialen Wohnungsbau der 60er-Jahre, noch nicht bei den Architekten angekommen ist?

Meine neue Arbeit London Dust beschäf-tigt sich mit den neuen Wolkenkratzern in der City of London, den Symbolen der global city mit klangvollen Namen wie Walkie Talkie, oder The Pinnacle. Mir ging es dabei besonders um eines dieser Gebäude, The Pinnacle. Auf Deutsch heißt das so viel wie der höchste Gip-fel. Der Bau von The Pinnacle, das über dreißig Stockwerke hoch werden sollte, wurde nach dem siebten Stockwerk eingestellt, einerseits weil das Geld gefehlt hat, aber vielleicht auch, weil das Gebäude technisch zu kompliziert war. Mich interessiert dabei weniger die Ruine, als die Visualisierung des geplanten Gebäudes durch das CGI „computer generated image“ – und damit die Art, wie Fotografie von Archi-tekten und Projektentwicklern genutzt wird, um das zukünftige Bild der Stadt zu verkau-fen, und wie sie damit versuchen, ihre Ideen zu vermarkten. Diese CGIs werden überall in der Stadt platziert, das kann man sehr gut hier in meiner Nachbarschaft feststellen. Wenn man die City Road entlang läuft, sieht man, wie diese CGI Bilder die zukünftige Stadt

her-aufbeschwören. Meine Arbeiten hinterfragen diese computergenerierte Repräsentation der Stadt. Und mein Interesse gilt dem Schmutz und dem Staub, der sich auf der glatten Ober-fläche des CGI über mit der Zeit ansammelt. Darin wird die Realität der Stadt, ihr Alltag, ihr Schmutz und auch ihre Vergänglichkeit am meisten sichtbar.

→ Ihre Bilder vom sozialen Wohnungsbau sind, obwohl sie so abstrakt sind, in gewisser Weise emphatisch, weil sie Qualitäten zeigen wollen. London Dust ist dem Objekt gegenüber viel kritischer.

← Aber das Objekt gibt es noch nicht. Im Fall von The Pinnacle wird das auch nie der Fall sein. Es existiert nur als CGI, als computerge-nerierte Vision. Meine Empathie richtet sich in diesem Fall auf den Staub – auf diese hartnä-ckigen Zeichen der Zeit. Durch den Staub wird die Zukunftsvision des CGI in die Gegenwart gezogen.

→ Kommen in diesen neuen Arbeiten Men-schen vor?

← Nein. Aber ich habe jetzt einen stand-in für den Menschen, das ist der plumpe Sandsack, den man wegen der vielen Baustellen seit Neustem überall in London sieht. Obwohl diese Sandsäcke überall präsent sind, sind sie doch noch fast unsichtbar.

Die Arbeiten Caliban Towers I und II unter der Old

(41)

Jörg

Stollmann

Akademie

einer neuen

Gropiusstadt

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