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Pirmins Scarapsus : Einleitung und Edition

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Academic year: 2022

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Pirmins Scarapsus -

Einleitung und Edition

Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades des Doktors der Philosophie

(Dr. phil.)

Universität Konstanz,

Geisteswissenschaftliche Sektion, Fachbereich Geschichte und Soziologie

vorgelegt von

Eckhard Hauswald (Konstanz)

Tag der mündlichen Prüfung: 27.04.2006 1. Referent: Prof. Dr. Michael Richter 2. Referent: Prof. Dr. Helmut Maurer 3. Referent: Prof. Dr. Peter Stotz (Zürich)

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2006/2224/

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-22243

(2)

Dies ist eine um einige Tippfehler verbesserte, in Inhalt und Erscheinungsbild identische Fassung der von der Geisteswissenschaftlichen Sektion angenommenen Dissertation.

(3)

I Inhaltsverzeichnis

A. Einführung in den Scarapsus... V I. Zu den Zielsetzungen der Neuedition und zur Editionsgeschichte ... V 1. Zielsetzungen... V 2. Bisherige Ausgaben des Scarapsus... V 3. Editionsgeschichte...VI II. Autor und Werk... VIII 1. Der Autor... VIII 1.1. Herkunft...IX 1.2. Melcis castellum...IX 1.3. Reichenau... X 1.4. Murbach...XI 1.5. Hornbach... XII 1.6. Pirmins Wirkungsraum...XIII 2. Das Werk ... XIV 2.1. Zur Autorschaft...XIV 2.2. Zur historischen Bedeutung des Scarapsus... XV 2.3. Zur Datierung des Scarapsus... XV 2.4. Der Entstehungsraum...XVI III. Zu Aufbau und Inhalt des Scarapsus... XVIII IV. Die literarischen Vorlagen des Scarapsus... XXI V. Die handschriftliche Überlieferung des Scarapsus ... XXV 1. Die Handschriften des Scarapsus ... XXV 1.1. Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 1603 = A...XXV 1.2. Oxford, Bodleian Library, Bodl. 572 = B... XXVII 1.3. Albi, Bibliothèque Municipale, Ms. 40 = R... XXIX 1.4. Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 13408 = C... XXXII 1.5. Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 1008 = D...XXXIII 1.6. Chicago, Newberry Library, f1 = N...XXXV 1.7. Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 1207 = O...XXXVII 1.8. London, British Library, Ms. Harley 3072 = H... XXXVIII 1.9. Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, F. II. 20 = T... XXXIX 1.10. Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 199 (+ 281) = E...XLII 2. Textumfang und Überlieferungsumfeld ... XLVII 3. Überlieferungszweige...XLVIII 4. Der nordostfranzösische Überlieferungszweig ABR CDN O H ...XLIX 4.1. Die ältere Gruppe ABR... XLIX 4.2. Die jüngere Gruppe CDN... XLIX 4.2.1. Der Überlieferungszweig CDN...XLIX 4.2.2. Die Untergruppe CD...L 4.2.3. Zur Hs. H: CDN- oder T-nah?... LI 4.2.4. Zur Hs. O...LII 5. Der rätisch-norditalienische Überlieferungszweig TE ...LIII 6. Ergebnis: Die Überlieferungszweige des Scarapsus ... LVI

(4)

II

7. Stemma der Scarapsus-Handschriften... LVII 8. Zusammenfassung der Ergebnisse: Zum textkritischen Wert der Scarapsus-

Handschriften ... LVIII VI. Die indirekte Überlieferung und Rezeption des Scarapsus ...LX

VII. Zur Sprache des Scarapsus, insbesondere zu den sprachlichen Verhältnissen der Hs. A ...LXIII

1. Allgemeines: Sprache – Stil – Register... LXIII 2. Lautliches: Vokale...LXVI 2.1. Lautwandel im Bereich des Vokalismus...LXVI 2.2. Satzphonetisches... LXVIII 2.3. Einfache Vokale... LXVIII 2.3.1 A: e statt a; o statt a... LXVIII 2.3.2. E: i statt e; a statt e...LXIX 2.3.3. I: e statt i...LXIX 2.3.4. O: u statt o...LXIX 2.3.5. U: o statt u... LXX 2.3.6. Y: y = i... LXX 2.4. Diphthonge: ae (ę), au, oe... LXX 2.5. Ausfall eines Vokals: i vor Vokal, Doppelvokale...LXXI 2.6. E vor s-impurum: sc-, sp-, st-...LXXI 3. Lautliches: Konsonanten ...LXXII

3.1. H: Aspiration lateinischer Wörter – Griechische Wörter mit aspirierten Verschlusslauten ch, ph, th...LXXII

3.2. Sonorisierung und Spirantisierung: Tenuis zu Media und Media zu Spirans ... LXXIII 3.3. Assibilierung von ce/i > [tse/i] und ti- > [tsi-]... LXXIII 3.4. K: k statt c...LXXIV 3.5. QU: quo = co = [ko] und quu = [ku]; que/i = [k’e/i]...LXXIV 3.6. X: x statt s, s statt X... LXXV 3.7. Abfall eines Endkonsonanten... LXXV 3.8. Dittographie / Haplographie... LXXV 4. Assimilation bei Komposita und lautliche Rekomposition... LXXVI 5. Morphologisches: Nominale Kategorien ...LXXVII 5.1. Kasus... LXXVII 5.2. Genus... LXXVIII 5.3 Pronomina...LXXIX 5.3.1 Das Pronomen [ke]... LXXIX 5.3.2. Die Pronomina is / ille / ipse - omnis... LXXIX 5.4. Adjektive: Neuprägungen...LXXIX 6. Morphologisches: Verbale Kategorien... LXXIX 6.1. Genus Verbi...LXXIX 6.2. Transitivität und Intransitivität... LXXX 6.3. Tempus... LXXX 6.4. Modus... LXXX 6.5. Numerus... LXXX 7. Präpositionen: per und pro – a(b) und ad ... LXXXI 8. Syntaktisches... LXXXI VIII. Zur Textgestaltung und zu den Apparaten der Edition ...LXXXIII

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III 1. Textgliederung... LXXXIII 2. Obertext ... LXXXIII 3. Apparate ... LXXXIII 4. Textkritische Anmerkungen ... LXXXV 5. Zum Aufbau des Quellen- und des Literaturverzeichnisses... LXXXV IX. Zusammenfassung...LXXXVI Verzeichnisse ... LXXXVIII Abkürzungsverzeichnis ... LXXXVIII Quellenverzeichnis ... XCI Bibelausgaben...XCI Literarische Vorlagen und Paralleltexte des Scarapsus...XCI Literaturverzeichnis... CI Verzeichnis der Handschriften-Siglen... CXIV Scarapsus-Handschriften und Editionen... CXIV Handschriften von Martin von Braga, De correctione rusticorum... CXIV Handschriften der Doctrina cuiusdam sancti viri (= Ps.-Caesarius, Homilia 17). CXIV B. Edition des Scarapsus...1

Prolog

C. 1...3 I. Teil (Heilsgeschichte und Dogma)

C. 2-11...6 II. Teil (Taufe und ethische Unterweisung)

C. 12-27...37 III. Teil (Rekapitulation und Schluss)

C. 28a-34...125

(6)

IV

(7)

V A. Einführung in den Scarapsus

I. Zu den Zielsetzungen der Neuedition und zur Editionsgeschichte

1. Zielsetzungen

Pirmins Scarapsus wird mit der vorliegenden Neuedition zum ersten Mal auf textkritischer Grundlage unter Berücksichtigung der gesamten handschriftlichen Überlieferung heraus- gegeben.

Die Ziele der Arbeit sind:

─ Die exakte Bestimmung des Wortlautes in seiner linearen Abfolge in sprachlicher und orthographisch ungeglätteter Form.

─ Die vollständige Analyse des im Scarapsus verwendeten patristischen und nach- patristischen literarischen Vorlagenmaterials sowie die kritische Überprüfung der in den Text eingearbeiteten Bibelzitate.

─ Innerhalb der Einführung in den Scarapsus die Darstellung der Überlieferungsge- schichte und ihrer Überlieferungszweige.

─ Die Darstellung der praktischen und literarischen Benutzung (Rezeption) des Scarapsus. Dies ermöglicht die inhaltliche wie auch sprachliche Analyse der Scarapsus- Überlieferung im Kontext der einzelnen Handschriften sowie die Zusammenstellung der bisher aufgedeckten Rezeptionsspuren.

─ Gemäß der Funktion des Textes als der vertikalen Kommunikation zwischen Klerus und Laien dienender pastoraler Gebrauchstext die Aufarbeitung und Diskussion seiner sprachlichen Repräsentation bei Einsetzen der schriftlichen Überlieferung gegen Ende des 8. Jahrhunderts.

Die Bestimmung des fortlaufenden Wortlautes im Detail wie auch der Textmenge im Ganzen wird durch die nunmehr mit zehn Handschriften für einen Gebrauchstext des frü- hen Mittelalters außergewöhnlich breit fließende Überlieferung ermöglicht. Die Analyse des Textes hinsichtlich der patristischen Vorlagen und Paralleltexte wird durch die heute zur Verfügung stehenden elektronischen Hilfsmittel wie insbesondere das CLCLT stark erleichtert, Endgültigkeit in diesem Bereich kann jedoch auch diese Edition nicht für sich beanspruchen.

2. Bisherige Ausgaben des Scarapsus

MABILLON, Jean: Vetera analecta sive collectio aliquot operum [...] cum notis, T. IV, Paris 1685, Appendix p. 569-601.

MABILLON, Jean: Vetera analecta [...], Editio nova, Paris 1723, p. 65a-73b.

GALLANDI: Bibliotheca veterum Patrum, T. XIII, 1779, p. 277a-285b.

MIGNE, J. P.: PL 89, Paris 1850, Sp. 1029-1050.

CASPARI, C. P.: Kirchenhistorische Anecdota 1, Christiania 1883, S. 151-193.

JECKER, Gall: Die Heimat des hl. Pirmin, des Apostels der Alamannen, Münster in Westfa- len 1927, S. 34-73.

ENGELMANN, Ursmar: Der heilige Pirmin und sein Pastoralbüchlein, Sigmaringen 1959.

(2., neu bearbeitete Auflage, Sigmaringen 1976).

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VI

3. Editionsgeschichte

Die Erstausgabe des Scarapsus erschien unter dem Titel Libellus abbatis Pirminii de singulis libris canonicis scarapsus 1675 in den Vetera Analecta von Jean Mabillon (1632- 1707)1. Grundlage war eine, von etlichen grammatischen und orthographischen Emen- dationen einmal abgesehen, an vielen Stellen inhaltlich fehlerhafte Abschrift, die Mabillon vom Einsiedler Mönch Placidus Reding anfertigen ließ, nachdem er den Text 1683 bei einem Besuch des Klosters Einsiedeln im Einsiedler Kodex 199 (= E) entdeckt hatte. Nach einem Wiederabdruck in der zweiten Auflage der Vetera Analecta 1685 und einem um etliche Fehler vermehrten Abdruck durch Gallandi 1779 in der Bibliotheca veterum Patrum wurde dieser Redingsche Scarapsustext von Migne in den 89. Band der Patrologia Latina aufgenommen, wieder um zusätzliche Fehler und weitere unnötige Korrekturen belastet.

Dieser Ausgabe vorangestellt ist eine den späteren Verlauf der Scarapsusforschung folgen- schwer beinflussende Notiz Gallandis über einige Parallelen zu süd-französischen und iberischen Autoren und Texten, inbesondere über Speisegebote (c. 19 des Scarapsus)2.

1883 veröffentlichte Carl Paul Caspari eine mit nur wenigen Lesefehlern behaftete kriti- sche Ausgabe des Scarapsus nach E, die trotz zahlreicher patristisch-theologischer Anmer- kungen und Worterklärungen jedoch keine fortlaufende Darstellung der verwendeten lite- rarischen Vorlagen enthält3. Zuletzt legte 1927 Gall Jecker im Rahmen seiner Studien über

“die Heimat des heiligen Pirmin, des Apostels der Alamannen” eine Textedition vor, in deren Apparat zwar das bis dahin sicher identifizierbare ältere patristische Vorlagen- material - wenn auch unvollständig - eingearbeitet wurde, die jedoch durch die in die Edi- tion hineingetragenen Thesen von der westgotischen Herkunft Pirmins als vom metho- dischen Ansatz her verfehlt betrachtet werden muss4. Der lateinische Text dieser Ausgabe ist ohne Varianten bei Engelmann wieder abgedruckt und mit einer deutschen Übersetzung versehen5.

Die erste Ausgabe des Scarapsus wie auch die nachfolgenden beruhen auf dem Text der Einsiedler Hs. E, wobei offensichtliche Korruptelen in E von Jecker stillschweigend nach der inzwischen bekanntgewordenen Hs. Paris, Bibl. Nat. lat. 1603 (= A) emendiert wurden, eine unvoreingenommene Evaluierung der handschriftlichen Überlieferung jedoch unter- blieben ist. Das Desinteresse an der Handschrift A zeigt sich daran, dass im ganzen Text, vor allem aber gegen Ende zahlreiche Lesarten von A entweder falsch oder gar nicht im Apparat erscheinen6.

1 Zur Editionsgeschichte: CASPARI, Anecdota 1 S. VIII-XI; JECKER, Heimat S. 31f.; LEHMANN, Dicta Pirmi- nii S. 142-147, S. 145f. bes. mit der methodischen Kritik an der Edition Jeckers.

2 Der betreffende Abschnitt des Scarapsus stammt aus den Iudicia Theodors von Canterbury (s. c. 19, App.

patr. z. St.). - Diese Notiz dürfte die von JECKER (s. u.) eingeschlagene Forschungsrichtung beeinflusst ha- ben.

3 Mit Ausnahme des generellen Verweises CASPARI, Anecdota 1 S. XI auf die Abhängigkeit von Martin von Braga.

4 HAUSWALD, Hs. Überlieferung S. 103f.; LEHMANN, Dicta Pirminii S. 145. Die Thesen zur westgotischen Herkunft sind zuletzt zusammengefasst in JECKER, Erdenheimat S. 9-41.

5 ENGELMANN, Pastoralbüchlein S. 21-81. Die Übersetzung ist allerdings streckenweise nicht zu gebrauchen:

c. 22,7 super struncum / truncum beispielsweise ist S. 53 mit „über einen Leichnam“ (statt ‚Holzklotz’), c.

22,17 vegulas / veculas S. 55 mit „Pferde“ (veculas = Kälber(-Felle)) übersetzt.

6 Aus dem letzten Teil z. B. die Lesarten: c. 28a,11 et, 22 recipiant, 23 hic, 29 et2, 32 dedisti, 33 quia in, 37 zezeniam, 38 zezeniam, 42 et2, 28b,3 tota mente ex, 8 preficite, 42 diabolica nec, 47 tempestarius, 30,3 eccle- sia, 6 peni (Suspension), 31,10 iniqua, 32,11 continentiae, 21 preceptis, 25 caritatem, 33,11 relinquet, 18 agerit elymosinis, 34,3 cessimus, 5 Ihm (Iesum).

(9)

VII Der Text der Handschrift E enthält - wie die für die Neuedition durchgeführte Analyse der Überlieferung gezeigt hat - einen vielfach von allen übrigen Handschriften abweichen- den Wortlaut und ist zudem sprachlich und orthographisch stark von skriporieninternen Schreibkonventionen überprägt, die bereits zu fatalen Fehlinterpretationen geführt haben:

Jecker entwarf für E ein westgotisch-septimanisch beeinflusstes Entstehungsszenario7, das es ihm ermöglichte, erstens seine These von der westgotischen Herkunft des Autors, die wohl von der bei Migne mitgeteilten Notiz Gallandis angeregt wurde, zu untermauern und zweitens den Text von E auch weiterhin als alleinige Hauptüberlieferung zu betrachten.

Im Zuge der Kollation der Handschriften für die Neuedition hat sich nunmehr heraus- gestellt, dass der Text von E an vielen Stellen mit einer weiteren bisher unberücksichtigten Handschrift zusammenfällt, E also die durch individuelle Lesarten belastete Fassung eines verlorenen guten (indirekten) Vorlagentextes ist. Dies reduziert den textkritischen Wert der Einsiedler Handschrift einerseits erheblich, andererseits wirkt sich dieser Sachverhalt der guten Tradition wegen, die unter dem an der Textoberfläche vielfach schlechteren Text zu erkennen ist, positiv auf die Glaubwürdigkeit der Zuschreibung des Werkes an Pirmin aus.

7 JECKER, Heimat S. 26: „Als Ergebnis dieser Untersuchung stellen wir fest: Die Hs. des Scarapsus ist am Ende des 8. oder zu Beginn des 9. Jahrhunderts nach der Vorlage eines spanischen Kalligraphen im einstigen Wirkungskreise Pirmins und seiner Jünger, möglicherweise in Reichenau selbst, entstanden“.

(10)

VIII

II. Autor und Werk 1. Der Autor

Über Pirmins Leben gibt es nur wenige verlässliche Zeugnisse, selbst die äußeren Lebens- daten sind nur näherungsweise zu bestimmen.

Geboren wurde Pirmin wohl im letzten Drittel des 7. Jahrhunderts8, gestorben ist er “in den vierziger oder fünfziger Jahren des 8. Jahrhunderts”9, vielleicht, wie in der Literatur meist zu lesen ist, im Jahr 75310, und nach besserer Tradition der liturgischen Bücher “eher an einem 3. als an einem 2. November”11.

Seine Gebeine ruhten bis 1556 in Hornbach, seitdem in der Jesuitenkirche in Innsbruck12.

Wenn schon inzwischen nicht mehr gänzlich im Dunkeln, so doch noch immer nur kombi- natorisch erschließbar und somit stets auch mit einem gewissen Maß an Spekulation behaf- tet, liegen die familiäre respektive gentile Herkunft Pirmins, seine monastische Ausbil- dung, der Werdegang bis zu seinem Auftreten als Klosterorganisator in der dritten Dekade des 8. Jahrhunderts und sein weiteres monastisches und pastorales Wirken.

“Der heilige Pirmin hat sich im Laufe der neuzeitlichen Geschichtsschreibung man- cherlei Lokation gefallen lassen müssen”13: Für die ältere Forschung war er Franke, dann Angelsachse oder Ire, zuletzt ein Flüchtling aus dem südfranzösischen, septimanischen oder spanischen Westgotenreich. Die genannten Verortungen seiner ‘Erdenheimat’ sind bald Rückschlüsse aus der von Hrabanus Maurus verfassten Hornbacher Grabinschrift14 oder der karolingischen Vita aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts15, bald Reflexe der

8 Einen frühen Termin im letzten Drittel des 7. Jh. muss man dann ansetzen, wenn man der Notiz des spätmit- telalterlichen Reichenauer Geschichtsschreibers Gallus Öhem Glauben schenken möchte, der in seiner Cro- nick des Gotzhuses Rychenowe (ed. K. BRANDI S. 8) schreibt, Pirmin habe noch zu Lebzeiten des Aleman- nen-Herzogs Gotfrid in Pfungen bei Winterthur ein Kloster gegründet (s. hierzu ANGENENDT, Monachi S.

103f.). Herzog Gotfrid ist 709 gestorben (s. GEUENICH, Geschichte S. 104).

9 Die Angaben bei SEMMLER, Pirminius S. 107.

10 Das Sterbejahr wird gewöhnlich nach der Vita mit 753, dem Jahr vor dem Martyrium des Bonifatius (s.

Vita Pirminii c. IX (12)-X (15), ed. ANTONI, Leben S. 93-105) in Zusammenhang mit der urkundlichen Über- lieferung zum Kloster Hornbach angegeben. Für das Jahr 754, 18. August ist in Hornbach mit Jakob ein anderer Abt belegt (SEMMLER, Pirminius S. 106; ANTONI, Leben S. 9), jedoch kann Pirmin diese Funktion durchaus bereits vorher abgegeben haben (ANGENENDT, Monachi S. 40).

11 SEMMLER, Pirminius S. 107; vgl. den Eintrag im Sakramentar von Gellone, ed. CCL 149 S. 508.

12 Hierzu zuletzt AMMERICH, Hl. Pirminius S. 19 mit Abbildung des Reliquienschreins.

13 ANGENENDT, Monachi S. 7. Einen Überblick über die älteren Ansichten zur Herkunft Pirmins bietet DERS., ebd. S. 13-22; vgl. HAUCK, Kirchengeschichte 1 S. 324 mit Anm. 1.

14 Hrabani Mauri carmen 68, MGH Poetae latini 2, S. 224f.; ANTONI, Leben S. 106f. (danach zitiert). Aus der Formulierung Deseruit patriam, gentem simul atque propinquos, Ac peregrina petens aethera promeruit.

Gentem hic Francorum quaesivit dogmate claro (...) kann man zweierlei herauslesen: zum einen, dass Pirmin kein Franke war, weil er sein Volk verlassen hat, um hier die Franken im Glauben zu unterweisen: das ent- spricht der älteren, geographisch aufgefassten Bedeutung von peregrinatio. Oder aber, dass er – auch als Franke - seine engere oder weitere Abstammungsgemeinschaft (seine gens) verlassen hat, um das Volk der Franken hier, d. h. in Hornbach, zu instruieren: das entspricht der späteren, spirituellen Auffassung von Pe- regrinatio. Hierzu ALBERT, Peregrinatio S. 34-37. Zum irischen Konzept der peregrinatio s. RICHTER, Ireland and her neighbours S. 41-47.

15 MGH SS 15,1, S. 21-31; ed. ANTONI, Leben S. 56-105 (danach zitiert). Zur literarischen Konstruktion und den verwendeten Topoi (Bonifatius-Exkurs, Romreise usw.) s. ANTONI, Leben S. 13, ANGENENDT, Monachi S. 44-48, zum – sehr geringen - Quellenwert DERS., ebd. S. 54.

(11)

IX in der urkundlichen Überlieferung erkannten irisch geprägten monastischen Vorstellun- gen16 und zuletzt auch unkritische Rückschlüsse aus den im Scarapsus verwendeten litera- rischen Texten, insbesondere derjenigen iberischer Herkunft17.

Nur drei Stationen in seinem mehrere Jahrzehnte währenden Itinerar als monachus per- egrinus, als Wandermönch, als das monastische Leben neuer Klöster organisierender Abt und/oder Klosterbischof sind fassbar, keineswegs klar oder gar unumstritten sind hingegen zeitliche und politische Umstände, daran beteiligte Personen und rechtliche Formalien dieser Stationen seines Wirkens18.

1.1. Herkunft

Dem Namen nach – Pirmin (Perminius / Pirminius) ist ein romanischer Name in germa- nischer Aussprache19 - war er nach neueren Überlegungen vielleicht ein Friese aus den ehemals zum römischen Reich gehörenden Teilen Frieslands an der unteren Maas oder ein Niederrheinfranke, er könnte also aus der Gegend zwischen Köln und Utrecht stammen20.

1.2. Melcis castellum

Vielerlei Interpretationen hat die dunkle Nachricht in der Vita gefunden, Pirmin sei nach einer Predigt, die er an seinem Bischofssitz - Melcis castello21 - gehalten habe, von einem begeisterten alemannischen Adeligen mit der Gründung des Klosters Reichenau betraut worden.

Da man infolgedessen in Pirmin stets einen Diözesanbischof hat sehen wollen – der Schreiber der Vita konnte sich in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts andere kirchen- rechtliche Verhältnisse nicht mehr vorstellen -, musste sich der handschriftlich überlieferte Name auf einen Bischofssitz beziehen: Gemäß den Emendationen der späteren Handschrif- ten der Vita wurden Metz und zuletzt vor allem Meaux herangezogen. Die Stadt an der Marne galt als besonders wahrscheinlich, weil hier ein mutmaßlicher Abtsnachfolger Pirmins in Murbach namens Romanus Bischof wurde. Die Identität der beiden Romanus genannten Personen mag stimmen, auch Pirmins Nachfolger auf der Reichenau, Heddo, wurde schließlich in Straßburg Bischof, einen Beleg für Pirmins Herkunft aus Meaux

16 Hierzu zusammenfassend ANGENENDT, Monachi S. 230-233.

17 BANNIARD, Europa S. 130 bezeichnet Pirmin explizit als ‚Mozaraber’, d. h. als einen aus dem islamischen Spanien kommenden Christen. Jeckers Thesen wirken insbesondere in der regionalgeschichtlichen, populä- ren Historiographie nach, vgl. AMMERICH, Hl. Pirminius S. 2. – Die im Zuge dieser Arbeit durchgeführte Analyse des verwendeten literarischen Vorlagenmaterials hat erbracht, dass die Abhängigkeit einzelner Pas- sagen des Scarapsus von ‚iberischen Werken’, namentlich den Werken Isidors von Sevilla noch weit stärker ist, als Jecker dies vermutet hat (so ist ihm beispielsweise die Fortführung des Zitates aus den Etym. zu Be- ginn von c. 13 entgangen (vgl. c. 13,1f. und JECKER, Heimat S. 44)). Das jedoch könnte – wenn auch viel- leicht etwas überspitzt - sogar als Merkmal für indirekte kontinental-irische Prägung des Scarapsus-Autors ausgelegt werden, denn gerade bei irischen Autoren war Isidor „gegen alle Wahrscheinlichkeit“ außerhalb Spaniens frühest verbreitet und zudem äußerst beliebt, s. hierzu BISCHOFF, Verbreitung der Werke Isidors S.

180ff.; RICHTER, Ireland and her neighbours S. 175.

18 Dies betrifft insbesondere die auch heute bisweilen noch positiv beantwortete Frage der Beteiligung Karl Martells an der Gründung der Reichenau; s. hierzu RICHTER, Reichenau S. 1-18, bes. 2f.

19 Vgl. zur sog. unechten r-Metathese durch Verlagerung des Akzents auf die erste Silbe (germanischer Druckakzent) das Namenspaar Roland – Orlando; s. auch METZNER, Pirminus S. 4.

20 METZNER, Pirminus S. 4-6.

21 C. I (1): (...) Pirminii gesta actaque narrandi me causa delectat, qui in presenti vita diebus Theoterici regis Francorum Melcis castello pastoralis curae episcopatum sine crimine tenebat (ed. ANTONI, Leben S. 56).

Meldis hat hier allein die Hs. Wü1 (aus Weißenburg) aus dem 2. Viertel des 11. Jh., alle anderen Hss. bringen mit Mettis / Metis Metz ins Spiel.

(12)

X

liefert dies sicher nicht. Nachdem unumstritten ist, dass Pirmins monastisches Wirken darauf abzielte, ‘seine’ Klöster dem Einfluss der örtlich zuständigen Diözesane rechtlich weitestgehend zu entziehen - wichtigste Quelle hierzu ist das Privileg des Straßburger Bischofs Widegern für das Pirmin-Kloster Murbach -, fällt es schwer, in ihm einen ehe- maligen Diözesanbischof22 zu sehen. Problematisch ist auch die Gleichsetzung von Melcis castellum mit Meaux textkritisch gesehen schon deswegen, weil der gebildete Verfasser der Pirmins-Vita den weithin bekannten Bischofssitz eben nicht adäquat benannt hat, vor- ausgesetzt die ansonsten verlässliche Leithandschrift hat nicht ausgerechnet hier eine Korruptele23.

Das Melcis castellum der Vita könnte im Anschluss an eine ältere Meinung24 wohl eher ein kleiner, im Frühmittelalter noch Melsburch, später Melsbroek genannter Ort in Brabant südlich von Brüssel sein, eine nicht weiter bedeutende Station in seinem Leben als Monachus peregrinus, ein Name, mit dem schon der Hornbacher Vitenschreiber nichts mehr verbinden konnte, denn auch er ließ Pirmin ja ausdrücklich Diözesan sein und dachte dabei wohl selbst bereits an Meaux.

1.3. Reichenau

724 kam Pirmin an den Bodensee und organisierte hier das im Untersee gelegene, neu- erbaute Inselkloster Reichenau25. Der Verfasser der Vita vermischte die schütteren Nach- richten unbekannter Provenienz über Pirmins letzten Aufenthaltsort vor seiner Ankunft in der Alamannia – melcis castellum - mit der Anekdote über ein Zusammentreffen an eben diesem Ort mit dem mutmaßlichen weltlichen Stifter und Namensgeber des neuen Klosters26.

Frühmittelalterliche Klostergründungen wie diejenigen, an denen Pirmin als Organisator des geistlichen Lebens mitwirkte, vollzogen sich in einem formalen Rahmen, zu dem ins- besondere die Beurkundung der Gründung und der Grundausstattung mit den notwendigen (Land-)Gütern27 gehörten sowie die Garantie der Rechte durch ein Königsdiplom. Dieser Rahmen ist auch für die Reichenau gerade noch erkennbar, trotz der späteren, Ende des 8.

Jahrhunderts einsetzenden Bemühungen, die Geschichte des Klosters an die Geschichte der nunmehr herrschenden Dynastie der Karolinger bestmöglich anzubinden28. Zur urkund- lichen Grundausstattung des Klosters Sintleozesavia, das erst nach 815 in Augia dives

22 Leise Zweifel sprechen auch aus SEMMLER, Pirminius S. 97, der vermutet, Pirmin habe sich als Bischof in Meaux „nicht eigentlich eingelebt“. Grundlegend hierzu: ANGENENDT, Pirmin und Bonifatius, bes. S. 300f.

23 Zur ältesten, noch dem 9. Jh. zugehörenden Hs. G (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 577) s. ANTONI, Leben S.

16ff.

24 MORIN, Saint Pirmin en Brabant S. 8-18, bes. 12-14; ANGENENDT, Monachi S. 41. Melcis castellum wäre dann eine halbgelehrte Lehnübersetzung des germanischen Ortsnamens.

25 Zum folgenden RICHTER, Reichenau S. 1-18, bes. 10.

26 Hierzu RICHTER, Reichenau S. 4ff.

27 RICHTER, Reichenau S. 3. Die zu postulierenden Urkunden, die SEMMLER, Pirminius S. 99 im Anschluss an HEIDRICH, Grundausstattung S. 53f. im Rechtsgehalt (Vergabe von Fiskalgut durch den Herzog) in den

‚Reichenauer Gründungsurkunden’ sieht, sind verloren. Dass die sogenannten ‚Gründungsurkunden der Rei- chenau’ Fälschungen des 12 Jh. sind, wird zwar allgemein anerkannt, an ihrem kolportierten Inhalt, insbe- sondere der Zuschreibung der Gründungsinitiative an Karl Martell per ‚Einweisungsbefehl’, jedoch ebenso beharrlich festgehalten (vgl. ZETTLER, Politische Geschichte Alemanniens S. 310); zu den Urkunden: CLAS- SEN (Hg.), Die Gründungsurkunden der Reichenau. Den einzig glaubwürdigen ‚wahren Kern’ darf man wohl in der in ihnen tradierten Monachi peregrini-Terminologie für Pirmin erkennen.

28 RICHTER, Reichenau S. 15-18.

(13)

XI

‘Reichenau’ umbenannt worden ist, gehörte ein solches königliches Immunitätsdiplom des Merowingers Theuderich IV.29.

Von einer Exemption des Klosters seitens des Konstanzer Bischofs ist nichts bekannt.

Die enge Verbindung von alemannischem Herzogtum, das formal trotz der quasi souverän agierenden Herzöge noch immer ein fränkisches Amtsherzogtum gewesen ist, und Diözese respektive Bischof belegt aber die im bewussten Zeitraum (vielleicht sogar bereits im neu eingerichteten Reichenauer Skriptorium) angefertigte Lex Alamannorum30. So ist es am wahrscheinlichsten, dass der Konstanzer Bischof vielleicht nicht aktiv mitgewirkt hat, aber auch kaum gegen den regionalen Machthaber Herzog Lantfrid (ca. 712-730) zu handeln in der Lage gewesen sein dürfte31.

Nach drei Jahren verließ Pirmin die Reichenau, nachdem er in Heddo noch selbst seinen Nachfolger bestimmt hatte, und übernahm eine gleiche Aufgabe im Elsass32.

1.4. Murbach

Um 727 ließ der erbenlose Graf Eberhard, Angehöriger der elsässischen Herzogsfamilie der Etichonen, auf seinem Murbach genannten, am Ende eines engen Vogesentals gele- genen Eigengut ein Kloster errichten und übertrug Pirmin die Aufgabe der Organisation des monastischen Lebens. Das Kloster erhielt den Namen Vivarius peregrinorum ‘Fisch- teich der ortsfremden (Wander-)Mönche’, eine deutliche Anlehnung an Vivarium, das berühmte süditalienische Kloster Cassiodors (ca. 485-ca. 580), einen Hort spätantiker Bildung33. Vom zuständigen Straßburger Diözesanbischof Widegern erwirkten Stifter und Organisator die rechtliche Eigenständigkeit des Klosters, seine Entlasssung aus der Juris- diktion des Diözesans34. Widegern garantierte vor allem die freie Abtswahl, weiterhin, dass der (jeweilige) Straßburger Diözesan für bestimmte Sach- und Personenweihen nur auf besondere Einladung das Kloster betreten dürfe, und dass ansonsten für alle anderen Weihehandlungen der Konvent einen Bischof nach freier Wahl bestimmen könne, wenn denn dem Kloster kein eigener Klosterbischof zur Verfügung stehen sollte35.

Die übliche formale verfassungsrechtliche Vorgehensweise wurde durch die Ausstel- lung eines Königsdiploms, das die gewährten Freiheiten bestätigen und schützen sollte,

29 RICHTER, Reichenau S. 5-8; HEIDRICH, Grundausstattung S. 49f.

30 Vgl. insbes. Lex Alamannorum c. 10 (11), ed. SCHOTT, Gesetz der Alemannen S. 90, Z. 10-16. Zur Entste- hung vgl. HARTMANN, Fragen zur Lex Alamannorum S. 318.

31 Das Bistum Konstanz befand sich zweifelsohne in einer schwierigen Aufbauphase, hinsichtlich der Vertie- fung des Christentums geht von den Bischöfen im frühen 8. Jh. insgesamt wenig Aktivität aus (s. hierzu MAURER, Bistum Konstanz, bes. S 149f.; vgl. SEMMLER, Pirminius S. 99).

32 Die spätere auf der Reichenau entstandene Chronistik vermerkt, Pirmin sei ob odium Caroli (aus Hass gegen Karl Martell) vom nunmehr amtierenden Herzog Theudebald vertrieben worden (Hermannus contrac- tus, Chronicon ad a. 727 (Text in: Quellen zur Geschichte der Alamannen 4 S. 61; ed. MGH SS 5 S. 98)).

Dass er sich dann gerade mit den elsässischen Etichonen einlässt, die nach Analyse der urkundlichen Über- lieferung HEIDRICHs, Grundausstattung S. 41 in „verhaltene(r) Rivalität“ zu Karl Martell standen, macht diese Stelle unglaubwürdig.

33 BRUCKNER, Regesta 1 Nr. 113, S. 53; KÖLZER, Merowingerstudien II S. 60; ALONSO-NÚÑEZ, J.

M./GRUBER, J.: Cassiodor(us), in: LexMA 2, Sp. 1551-1554.

34 Das auf den 13. Mai 728 datierte, echte Widegern-Privileg ist ed. bei BRUCKNER, Regesta 1 Nr. 113, S. 53- 57; s. ATSMA/VEZIN/MARICHAL, Chartae latinae 19, S. [5]ff. Nr. 671.

35 SEMMLER, Pirminius S. 102.

(14)

XII

seitens des gleichen fränkischen Königs, des Merowingers Theuderich IV., vervoll- ständigt36.

Pirmin gab sein Amt als Abt wiederum – spätestens – nach drei Jahren an seinen Nach- folger Romanus ab37.

Über die folgenden Jahre, den Zeitraum zwischen etwa 730 und 740, gibt es keinerlei Informationen38. Möglicherweise hat Pirmin in dieser Zeit Kontakte geknüpft und gepflegt, die seine dritte verbürgte Klosterorganisation zur Folge hatten.

1.5. Hornbach

Spätestens zu Beginn der vierziger Jahre, vermutlich „kurz vor 742“ 39, wiederholte sich das bereits bekannte Verfahren in Hornbach40: Graf Warnharius, ein Angehöriger der frän- kischen Adelsfamilie der Widonen, beauftragte Pirmin mit der Organisation des Klosters Hornbach (heutige südwestliche Pfalz) auf seinem Land, am Zusammenfluss (= Gamundi- um) zweier Bäche. Die Mitbeteiligung des zuständigen Bischofs von Metz gilt als gesi- chert, von einer wie auch immer gearteten Mitbeteiligung der Arnulfinger/Karolinger, in deren Kernlanden sich Pirmin nun bewegte, ist nichts bekannt. Anders als in Murbach behält sich hier allerdings die Stifterfamilie formal die Einsetzung des vom Konvent gewählten Abtes vor. Wenigstens zu Beginn als regionaladeliges Eigenkloster gedacht, bedurfte es vielleicht deshalb vorerst keiner königlichen Immunitätsurkunde.

Anlässlich dieser Klosterorganisation ist Pirmin zum letzten Mal als lebend bezeugt.

Seine Abtsfunktion kann er jedoch wie zuvor auf der Reichenau und in Murbach schon bald (also etwa 745?) an einen Nachfolger abgegeben haben. Tatsächlich urkundete am 18.

August 754 mit Jakob ein anderer Abt41. Vergleicht man die nur ungefähr zu ermittelnden Daten für Hornbach mit den Gründungsgeschichten der zwei anderen Pirmin-Klöster, so könnte Pirmin nach der Abgabe seines Amtes noch einige Jahre gelebt haben. In dieser Zeit könnte er als einfaches Mitglied des Konvents oder als Eremit in der Umgebung von Hornbach für weltliche wie geistliche Förderer des monastischen Lebens als Mentor zu allen organisatorischen und spirituellen Fragen fungiert haben. Späte Reflexe dieser Zeit könnten die zum Teil nachweislich ahistorischen Zuschreibungen weiterer Klosteror- ganisationen an ihn sein, von denen die Pirmin-Vita berichtet42. Gleiches gilt geradezu exemplarisch für die dort mitgeteilten beratenden Kontakte zum Kloster Weißenburg43.

36 Datiert: (727) Juli 12; ed.: MGH DD Merov. 1 Nr. 188, S. 468-471; BRUCKNER, Regesta 1 Nr. 114, S. 57- 59. Das Diplom liegt in einer noch im 8. Jh. verunechteten Fassung vor, s. hierzu KÖLZER, Merowingerstu- dien II S. 60-76.

37 BRUCKNER, Regesta 1 Nr. 117, S. 59f. Romanus urkundet als Abt in Murbach am 21. April 730.

38 Zum historischen Faktum erstarrt ist bei AMMERICH, Hl. Pirminius S. 46 das „Reformwerk des Pirminius in den Klöstern der Ortenau“ in den Jahren von 730-442.

39 HERRMANN, Hornbach, in: LexMA 5 Sp. 126.

40 SEMMLER, Pirminius S. 104f., 107; die verunechtete Gründungsurkunde ed. bei DOLL, Hornbach S. 141f.

Der Stifter starb bereits vor 740.

41 SEMMLER, Pirminius S. 109; ANTONI, Leben S. 9.

42 Vita Pirminii c. V (8) (ANTONI, Leben S. 76ff). Der Autor schreibt Pirmin außer Reichenau und Hornbach insgesamt zehn weitere Klostergründungen zu und erfüllt somit die apostolische Zwölf-Zahl, nennt aber abzüglich Murbach nur sechs: Niederaltaich, Schuttern, Gengenbach, Schwarzach, Maursmünster und Neu- weiler. Einige Hss. fügen noch Pfäfers hinzu. Vgl. SEMMLER, Pirminius S. 101 zu Heddos Engagement für Niederaltaich, ebenfalls auf Heddo geht Arnulfsau-Schwarzach zurück (SEMMLER, ebd. S. 104). S. hierzu und zu den anderen Klöstern ANGENENDT, Monachi S. 104-121.

43 Vita Pirminii c. VIII (11) (ANTONI, Leben S. 90).

(15)

XIII 1.6. Pirmins Wirkungsraum

Pirmins Wirkungsraum umfasste die formal bereits christianisierten Gebiete der Alaman- nia links von Hoch- und Oberrhein (hier insbesondere das Elsass) sowie das angrenzende fränkische Gebiet in der heutigen Südwestpfalz, den Bliesgau44. Dies sind Regionen, in denen sich bereits spätantikes Christentum nachweisen läßt und, was die in dieser Hinsicht besonders dunklen Verhältnisse an Hochrhein und Bodensee betrifft, auch über die Völ- kerwanderungszeit hinaus örtlich - so namentlich südlich des Hochrheins, in und um die alten Kastelle - erhalten hat45.

Die rechtsrheinischen Gebiete der Alamannia, insbesondere die zentralalemannischen, waren indes noch “nicht disponiert für die Aufnahme des Mönchtums”46.

Innerhalb dieses größeren regionalen Rahmens ist das tatsächliche Wirken eher kleinräumig, von den jeweiligen Klöstern aus, zu denken: Die angestrebte Verchristlichung der Gesellschaft ergibt sich allmählich47 durch das vorgelebte Beispiel der Mönche und natürlich auch durch Instruktion in Form von Predigten beim Gottesdienst für die zur Familia der Klöster gehörende Laienbevölkerung: Dem entspricht der doppelte Funktions- charakter des Scarapsus, der sich sowohl an den monastischen wie auch weltlichen Klerus richtet und zugleich auch an die Laienbevölkerung direkt wendet48.

Die Vita rückt Pirmin symbolhaft in die Nähe der angelsächsischen Mission. Dies zeigt sich in Pirmins Romreise und dem dort beim Papst eingeholten Missionsauftrag49 und im Treffen mit Bonifatius, sodann im langen in die Vita eingefügten Exkurs über das Marty- rium des Bonifatius50. Zweifelsohne sind hier zeitgenössische Vorstellungen des späteren 9. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht, sie könnten jedoch ebensogut noch, wenn auch indirekt und bruchstückhaft, das mehrschichtige Beziehungsgeflecht des Mönch-Autors Pirmin reflektieren: die Verbindung von altgallisch und irisch geprägtem fränkischem (sogenanntem irofränkischem) und angelsächsischem Einfluss im monastischen Wirken und im pastoral-literarischen Werk.

Wenn Pirmin nach den oben mitgeteilten neueren Überlegungen Ernst Metzners viel- leicht aus dem Friesischen, dem Missionsgebiet Willibrords (658-739), stammte, so liegt es nahe anzunehmen, dass er in Verbindung mit diesem seinem auch räumlich nächstgele- genen monastischen Nachbarn, dem Gründer des Klosters Echternach (Luxemburg), stand.

44 Anzuschließen sind hier mögliche Kontakte zum burgundischen Kloster Flavigny, dessen Profess-Formu- lar demjenigen der Pirmin-Klöster weitgehend entspricht; vgl. hierzu ANGENENDT, Monachi S. 203-206.

45 Zu den religiösen Verhältnissen im Wirkungsraum Pirmins s. jetzt: BERSCHIN /GEUENICH /STEUER (Hg.), Mission und Christianisierung am Hoch- und Oberrhein; LORENZ /SCHOLKMANN (Hg.), Die Alemannen und das Christentum. NUBER/STEUER/ZOTZ (Hg.), Der Südwesten im 8. Jahrhundert. - Als archäologischen Nie- derschlag dieser Verhältnisse ungleicher Prägung, Intensität und Ausrichtung von Christentum im alemanni- schen Siedlungsraum sieht man heute die Tatsache, dass in der Zentralalamannia am Neckar und auf der Schwäbischen Alb der norditalienisch-langobardische Bestattungsbrauch der den Toten beigegebenen Gold- blattkreuze reichlich belegt ist, nicht jedoch in der linksrheinischen Region dazwischen, d. h. in der Nord- schweiz, und auch nicht (bis auf eine Ausnahme) im Elsass (vgl.hierzu: KNAUT, Goldblattkreuze S. 56f., Abb.1 und 2 (Verbreitungskarten).

46 ZETTLER, Mission S. 242.

47 Vgl. c. 32,4ff.

48 Vgl. den Wechsel der Rezipientengruppe c. 1,7 sowie c. 11,13.

49 Vita Pirminii c. IVf. (4-6) (ANTONI, Leben S. 62-69). Bezeichnend für den symbolhaften, topischen Cha- rakter der Passage ist das geringe Bemühen des Verfassers um einen historischen Rahmen für die angebli- chen Ereignisse: er nennt (kennt?) den Namen des Papstes nicht.

50 Vita Pirminii c. IX (12)-X (15) (ANTONI, Leben S. 92-103).

(16)

XIV

Unter den Beglaubigern des Widegern-Privilegs für Murbach findet man nun tatsächlich:

Ego in dei nomine Uuillibrordus subscripsi 51.

Pirmins klösterliche Erziehung könnte zum Teil noch in die Lebensspannen und Wirkungszentren einiger der wichtigsten von Columban geprägten Persönlichkeiten des 7.

Jahrhunderts oder ihrer direkten Nachfolger und jüngeren Mitarbeiter fallen: Eligius von Noyon (ca. 590-660), Bischof von Noyon-Tournai – dessen faktisches Engagement im belgischen beziehungsweise friesischen Raum jedoch noch unklar ist - und dessen Freund und Biographen Audoenus von Rouen (gest. 684) sowie auch Amandus (ca. 600-ca. 676 / 679 / 684) und seinen Kreis, gefördert wiederum durch Eligius, der im Zentrum eines dichten Netzes aus persönlichen und arbeitsbezogenen Verbindungen steht52.

Auch die bekannte populäre Pirminverehrung im luxemburgischen Raum – insbesondere in den Wiltzer Ardennen - ist vielleicht ein Reflex dieser nordostfranzösisch- belgisch-friesischen Verbindung53.

Während Pirmins Tätigkeit als Klosterorganisator jeweils episodischen Charakter hat, so ist die Peregrinatio propter nomen Domini sein eigentlicher Lebensinhalt. Dazu gehört auch die Verkündigung des Glaubens, nach den Erfahrungen seines Lebens als monachus peregrinus in Form katechetischer Unterweisung, wie sie der Scarapsus bietet54.

2. Das Werk 2.1. Zur Autorschaft

Das Wissen um die Autorschaft Pirmins am Scarapsus, wie der Text heute allgemein genannt wird, verdanken wir der mündlichen Tradition innerhalb des rätischen Skripto- riums, in dem die Handschrift E angefertigt wurde. Dort betitelte man den Text (in leicht normalisierter Orthographie) Dicta abbatis Priminii, Abhandlung des Abtes Pirmin. Der Zusatz im Incipit De singulis libris canonicis scarapsus (= *excarpsus) verweist auf die kirchlichenrechtliche, dogmatische Zuverlässigkeit des in den Dicta vermittelten Inhalts.

Er reflektiert zudem den Sprachgebrauch kanonistisch interessierter Gebrauchstextproduk- tion55.

Der Scarapsus war am Anfang seiner Überlieferung titellos und enthielt keine Nennung des Autors.

Zeitliche, räumliche oder inhaltliche Gründe, an der Autorschaft Pirmins zu zweifeln, gibt es nicht. Vielmehr stützen die nun noch deutlicher erkennbaren Bezüge sowohl zu altgallischem als auch zu kontinental-irisch-fränkischem und durch die angelsächsische Mission verbreitetem Gebrauchsschrifttum des frühen 8. Jahrhunderts im Gesamtbild die Autorschaft Pirmins.

51 BRUCKNER, Regesta 1 S. 56. LÖWE, Pirmin, Willibrord und Bonifatius S. 226.

52 Die Vernetzung ist aufschlussreich dargestellt in: FRITZE, Universalis gentium confessio S. 87.

53 SCHREIBER, Volksfrömmigkeit S. 73.

54 S. hierzu BEYERLE, Bischof Perminius, bes. S. 148; ALBERT, Peregrinatio S. 37.

55 Vgl. den überlieferten Gesamt-Titel der Coll. Vet. Gall.: Incipit capitulacio excarpsum de canonis (ed.

MORDEK S. 343); vgl. den Titel der Coll. Vet. Gall. in der rätischen Hs. S1: Item incipiunt cannones scarap- sae ex multis conciliis adunatae (...) (ed. MORDEK S. 356); vgl. auch MORDEK, Kirchenrecht S. 22 Anm. 12;

JECKER, Heimat S. 82 Anm. 26.

(17)

XV 2.2. Zur historischen Bedeutung des Scarapsus

Der Scarapsus ist ein katechetischer, dogmatisch wie auch ethisch instruierender Traktat, der im Zeitkontext des frühen 8. Jahrhunderts inhaltlich für alle Regionen der westlichen Christenheit gleichermaßen allgemeine Gültigkeit beanspruchen durfte56.

Der Autor vermittelt Allgemeingültiges nach verlässlichen patristischen Quellen und der Bibel in Auswahl (vgl. c. 1,15f.: pauca vobis de plurebus conmendamus), in einfacher Sprache und verständlicher Form. Er bündelt jeweils einzelne bald schwächer, bald stärker fließende Traditions-Linien von biblisch-kirchlichen Vorschriften und Ansichten der älte- ren und jüngeren Patristik zu einem für die späte Merowingerzeit und die gesamte Karolin- gerzeit maßgeblichen Hauptstrom.

Die dabei gewählte supragentile Perspektive wird im programmatischen Prolog c. 1,6f.

bereits durch den Missionsaufruf nach dem Markus-Evangelium (Marc. 16,15) zum Aus- druck gebracht: Euntes in mundum universum, predicate evangelium57. Diese Perspektive ist der Garant für die frühmittelalterliche Verbreitung und auch die bisherigen Rezeptions- spuren des Scarapsus, gerade für diejenigen im Umfeld der Kanonistik. Letztlich darf man auch die Nähe, die der Scarapsus sprachlich–terminologisch (s. c. 22,12 ), inhaltlich (s. be- sonders c. 32,1f.) und auch über die direkte Vergesellschaftung in seiner frühesten Hand- schrift ideen- und literaturgeschichtlich mit der (sehr wahrscheinlich) von Alkuin formu- lierten Admonitio generalis Karls des Großen58 aufweist, auf diesen konzeptionellen Ansatz des Autors zurückführen59. Dass der Scarapsus in diesen kirchlichen Reformkreisen der zweiten Hälfte des 8. Jahrhundert bekannt war, kann man wegen seiner engen überlieferungsgeschichtlichen Verbindung zur Collectio Vetus Gallica voraussetzen.

Manifest wird dies nicht zuletzt durch seine Aufnahme in das kirchenrechtlich und pastoral-praktische (bischöfliche?) Handbuch hofnaher Entstehung, die Handschrift Paris, Bibl. Nat., lat. 1603: die Scarapsus-Handschrift A.

Der Scarapsus ist dem Inhalt, seiner Vergesellschaftung und seiner Verbreitung nach eine kirchliche Grundschrift des frühen Mittelalters.

2.3. Zur Datierung des Scarapsus

Datierungsansätze zum Terminus post quem bieten die jüngsten im Scarapsus verwendeten Quellen. Mit Sicherheit benutzt wurden im c. 19 die Iudicia Theodori (in der Rezension G), die ab ca. 700 auf dem Kontinent verbreitet wurden60. Eine Präzisierung des Terminus

56 Zum literarischen Genre s. SIMONI, I testi catechistico-omiletici, zum Scarapsus bes. S. 56f., zum Umfeld S. 93f. mit Anm. 96.

57 Dies impliziert jedoch keine Beschränkung auf germanische Bevölkerungsgruppen wie ENGELMANN, Pas- toralbüchlein S. 13 meint. Entscheidend ist, dass vor allem die angelsächsisch geprägte Mission, eine Missi- on von außen - die ethnisch/gentil reinterpretierte Version des Aufrufs nach der Stelle Matth. 28,19 (Euntes ergo docete omnes gentes baptizantes eos ...) bevorzugt, vgl. dazu die grundlegende Studie von FRITZE, Uni- versalis gentium confessio, bes. S. 88 sowie S. 110 zur Umdeutung sogar der Markus-Stelle (omnis creatura) durch Gregor I in omnis natio gentium.

58 Hierzu BUCK, Admonitio und Praedicatio S. 101f.

59 Zum Scarapsus im Umfeld der Kapitularien und kapitulariennahen Texte einstweilen: BUCK, Admonitio und Praedicatio S. 379 Anm. 729, 384 Anm. 751; die Verschränkung von weltlichem und kirchlichem Recht zeigt sich beispielhaft auch in der Anlage der Hs. der Homilia sacra (s. u. Kapitel VI, Text Nr.4), die die Scarapsus-Bearbeitung vermischt mit anderen Rechtstexten „nach dem beliebten Leges-Trio Salica, Ribuaria, Alamannorum“ (MORDEK, Bibliotheca S. 192) bringt.

60 ANGENENDT, Monachi S. 64f.

(18)

XVI

post bietet möglicherweise die Passage c. 7,51ff. propterea contra haec aripiamus arma Christi et vincamus inimicum (...). Zwar weist dieser Abschnitt auch eine Parallele zu einem Brief Columbans auf 61, wesentlich näher ist der Scarapsus-Text hier jedoch dem Sermo 144, 9 des Petrus Chrysologus, der einzigen patristischen Stelle, die das prägnante arripiamus arma Christi enthält62. Der betreffende Sermo wurde erst ab 724 aus dem Nachlass des Ravennater Metropoliten (ca. 380-ca. 451) herausgegeben63.

Zum Terminus ad quem: Der Scarapsus war nach Mordek64 wohl bereits in der Hs. des Archetypus’ der Corbie-Redaktion der Collectio Vetus Gallica enthalten und muss folglich im dortigen Skriptorium zur Abschrift vorgelegen haben. Die Redaktion dieser Sammlung wird ins 2. Viertel des 8. Jahrhunderts datiert.

Somit bleibt als wahrscheinlichster engerer Zeitraum für die Abfassung des Scarapsus das zweite Viertel des 8. Jahrhunderts. Er ist frühestens, wenn man den Sermo des Petrus Chrysologus als Quelle gelten lassen möchte, 724/25, spätestens um 750 entstanden.

2.4. Der Entstehungsraum

Die in vielem unklare Biographie des Autors lässt keine abschließenden Aussagen über den Entstehungsort des Scarapsus zu. Wahrscheinlich ist er zum Teil wenigstens aus Material zusammengestellt, das der Autor im Verlauf seines Lebens gesammelt hat. Auf andere, umfangreichere Texte, wie die verschiedenen benutzten größeren Werke Isidors, wird er am ehesten direkt über die Bestände von Klosterbibliotheken Zugriff gehabt haben65. Nach den oben mitgeteilten Datierungskriterien ist der Scarapsus vielleicht während Pirmins Hornbacher Zeit im dortigen Skriptorium entstanden und von dort aus in Form eines titellosen Libellus verbreitet worden, der den verlorenen Ausgangspunkt der Überlieferung definiert.

Hornbach kommt dem Schwerpunkt der handschriftlichen Überlieferung, der im nord- östlichen Frankreich liegt, geographisch relativ nahe. Dies allein ist noch kein sicheres Kriterium für den weiter gefassten literaturgeschichtlichen Entstehungsraum, d. h. für den Raum, aus dem der Autor sein schriftliches Material bezogen hat. Die Rezension G der Iudicia Theodori war beispielsweise hier wie auch im Bodenseeraum gleichermaßen ver- breitet, ähnliches gilt für die Hauptquellen des Scarapsus66.

Ein internes Kriterium für den Entstehungsraum liefern die folgenden Überlegungen:

Die kompositorische Regel, Allgemeingültiges und -verständliches zu vermitteln, wird

61 Epist. 4, ed. WALKER S. 26, Z. 18f.

62 Serm. 144,9: Ergo si delectat militia, si uolumus semper militare, arripiamus arma Christi, uigilemus, sobrii simus, uincamus diabolum, prosternamus uitia, ut possumus accipere praemia pariter et coronas (CCL 24B S. 885, Z. 109-112). – Wie schon bei der pauca de plurebus-Stelle c. 1,14ff. aus Martin von Bra- ga, einer bei irischen Autoren bekanntermaßen beliebten Formulierung, so ist es auch hier unmöglich zu entscheiden, ob der Autor sich vielleicht für ein Petrus-Chrysologus-Zitat entschlossen hat, weil er den Aus- druck durch die Lektüre der Columban-Epistel schon kannte und schätzte.

63 A. OLIVAR, CCL 24 S. XVIIf.. Als frühester Benutzer des fränkischen Überlieferungszweiges der Samm- lung gilt Alkuin (a. a. O. S. XXIII).

64 MORDEK, Kirchenrecht S. 86ff., 229 Anm. 65, 331f., 335, bes. 359.

65 Pirmins Text von Isidors De eccl. off. entspricht z. B. in vielem den Hss. der gallofränkischen ZSX-Gruppe des ursprünglich italienischen ‚Delta’-Zweiges der hs. Überlieferung dieses Werkes (s. LAWSON, CCL 113 S.

130*f., 149*), er ist anders herum ausgedrückt: nicht-spanisch, nicht-irisch und nicht mehr norditalienisch- bobbiesisch.

66 S. ANGENENDT, Monachi S. 62, 65; Zur hs. Verbreitung des Werkes Martins von Braga s. LOPEZ, Martini Bracarensis Pro castigatione rusticorum S. 27-51.

(19)

XVII durch nur zwei - wenigstens für spätere, mittelalterliche wie auch neuzeitliche Leser - nicht unbedingt spontan verständliche Formulierungen im 22. Kapitel durchbrochen, die jedoch gerade dadurch zu einer ungefähren Lokalisierung des verwendeten Vorlagentextes herangezogen werden können.

Im Aberglaubenskapitel 22, Zeile 13 ergeben sich über den literarisch vermittelten Pseudo-Terminus maones - eine entstellte Wiedergabe von daemones wie auch im Excarpsum de diversis auctoribus67 - engere Beziehungen zum Kloster Centula-Saint Riquier, dem Entstehungsort der älteren Fassung der Vita Richarii. Hinzu kommt der nur im Scarapsus, dem anonymen Excarpsum und in der Ps.-Eligius-Predigt belegte Terminus

*inpuria “Feuerschauerin”68.

Der Scarapsus hat zwar einen engen literarischen Kontakt mit diesem eigentümlichen nordostfranzösischen (hier picardischen) Material, zu dem das von Audoenus von Rouen oder seinem Kreis zu oder über Eligius von Noyon-Tournai gesammelte Material noch hin- zuzurechnen ist. Gerade die Verwendung des Pseudo-Begriffs maones weist aber eher darauf hin, dass Pirmin - wie auch der wohl irische Autor der Vita Richarii - keine fun- dierten Kenntnisse über die tatsächlichen religiösen Vorstellungen und Verhältnisse gerade dieses engeren Raumes hatte.

Somit ist der Herkunftsraum dieses gebrauchsliterarischen Materials des Scarapsus mit dem monastischen Wirkungsraum - geschweige denn dem gentilen Herkunftsraum - seines Autors nicht völlig deckungsgleich. Von der Großregion Nordostfrankreich-Belgien ist hierbei die westliche Picardie abzuziehen.

67 S. die Ed. zu c. 22,13 und (demnächst) HAUSWALD, Sprachliche Dynamik. Zum Excarpsum s. LEVISON, England S. 305ff.; ANGENENDT, Monachi S. 71. Die Angabe von LEVISON, das Excarpsum sei „connected with an Irish circle“, gründet auf der festgestellten Parallele zur Vita Richarii. Die einzige Hs. (London, Cot- ton Nero A. II , saec. VIII/IX), die diesen Textabschnitt überliefert, stammt nach BISCHOFF, Katalog 2 S. 107 wahrscheinlich aus Norditalien.

68 S. die Ed. zu c. 22,14, nach CASPARI, Anecdota 1 S. 174 aus griechisch μ υρος / μπύριος ‚Brandop- fer’.

(20)

XVIII

III. Zu Aufbau und Inhalt des Scarapsus

Der Scarapsus ist keine Missionspredigt im eigentlichen Sinne. Er ist ein pastoralprak- tischer Kurzkatechismus in Form einer langen Predigt69 zum Gebrauch in der inneren Mission, für eine bereits getaufte Bevölkerung.

Der Text gliedert sich in einen programmatischen Prolog und drei inhaltliche Haupt- teile.

Der Prolog wendet sich an zwei Rezipientengruppen gleichermaßen, an den Klerus und an die Laien. Er verknüpft die Verpflichtung der Priester und Kirchenlehrer zur Verkündi- gung des Glaubens mit derjenigen der Laien zum Anhören dessen, was zu ihrem Heil gesagt wird (c. 1,13). Der monastische Entstehungshintergrund zeigt sich durch die Hereinnahme zweier Psalmenstellen (Ps. 33,12 und 94,8), die an eben derselben pro- minenten Stelle und mit der gleichen Funktion auch im Prolog der Benediktsregel stehen70.

Der Autor rezipiert in seinem Werk bereits Erfahrungen der Erstmission im fränkischen Raum - und auch in England -, indem er den aus Sicht der frühmittelalterlichen Autoren überzeugenden Aspekt der "lebenspraktischen Effizienz" des Christentums in Form seines

"segenstiftenden Ritus" mit weiteren didaktischen Schritten in Richtung des "weltbild- klärenden Dogma(s)"71 ergänzt. Diese Ergänzungen werden wiederum in ge-schickter Stückelung (Dekalog c. 5, Vaterunser c. 7, Glaubensbekenntnis c. 10) blockartig in den heilsgeschichtlichen Erzählteil eingebettet, der von der Erschaffung der Welt und der Engel, den Dämonen und dem Teufel berichtet, den Gang der Menschheit von Adam und Eva an mit all ihren Verstößen gegen die Gebote Gottes und deren unausweichlichen Folgen (c. 4 Sintflut) behandelt, bis – endlich72 - hin zur erlösenden Sendung des Gottes- sohnes (c. 2-10). Das Ziel des Autors ist es, die Bereitschaft der Menschen zu gewinnen, den Erlöser Christus über den praktisch-eingängigen Aspekt des wunderwirksamen Heilands (hierzu ausführlich c. 7,24-30) zu akzeptieren73.

69 MILLEMANN, Caesarius S. 21; Inhaltsrekapitulationen des Scarapsus finden sich bei: HAUCK, Kirchenge- schichte Deutschlands 1 S. 328-332; JECKER, Heimat S. 74-78, 90f.; ENGELMANN, Pastoralbüchlein S. 13-16;

SIMONETTI, Longus per divinas scriputras S. 322-327; MANSELLI, Resistenze S. 87f. mit Betonung des in der Narratio vermittelten Gottesbildes, das im wesentlichen einen mächtigen, stets vorschreibend herrschenden (und strafenden) Vater-Gott zeigt. Es ist mit BOUHOT, Alcuin S. 183 darauf hinzuweisen, dass Augustinus’

Musterkatechesen (Aug., De catechizandis rudibus) im Scarapsus nur indirekt, über Martin von Braga, rezi- piert werden. - Im folgenden werden nur bisher wenig beachtete oder unbeachtet gebliebene markante Ab- schnitte des Inhalts thematisiert, die dazu geeignet sind, Struktur und Zweck des Scarapsus zu verdeutlichen.

70 Reg. Bened., Prolog. v. 10 u.12. Dieses Faktum wird bei ANGENENDT, Monachi S. 73 wohl unter dem Eindruck der älteren Forschung, die Pirmin gerne zum Benediktiner gemacht hat, heruntergespielt (s. JE-

CKER, Heimat, S. 180ff., nachwirkend bei AMMERICH, Hl. Pirminius S. 5). Vgl. SEMMLER, Pirminius S. 110;

SEMMLER, Regula mixta, in: LexMA 7 Sp. 606f.; ENGELBERT, Regeltext S. 47.

71VON PADBERG, Odin S. 276. Einen Überblick zur Typologie der Missionspredigt bietet DERS., Topos und Realität S. 46-53.

72 Die entscheidende Wende bringt c. 7,2: misit filium suum (...), wobei fast alle Hss., insbes. die älteren, hier durch den Wechsel der Schriftart beim m von misit die teleologische Bedeutung der Passage zum Ausdruck bringen (s. App. crit. z. St.). Die in Auszeichnungsschrift gehaltenen Wortanfänge sind paläographische Re- flexe der verlorenen Vorlagenebene saec. VIII2/2, wenn nicht gar des Archetypus’.

73 Zur Rolle der heilsgeschichtlichen Erzählung in der Missionspredigt als der eines christlichen Gegenent- wurfs zur traditionellen Mythologie generell s. SULLIVAN, The Carolingian missionary S. 715f., speziell zur nachbereitenden Rolle in der inneren Mission: KOLB, Himmlisches und irdisches Gericht, bes. S. 284f.: Auch der Scarapsus bringt in der narratio (vgl. die Formulierungen der Kapitelanfänge c. 5,1 und c. 6,1 und c. 6,5f.

und 6,8f.) statt Modifikation die stete „Wiederholung des Elementaren“.

(21)

XIX Im Verlauf der narratio wird auch in die christliche Woche und in den kirchlichen Jahreslauf (namentlich die Zeiten und Feste des Osterfestkreises, c. 8-10) eingeführt.

Einen bemerkenswerten Akzent zum Schluss des ersten Teils setzt der Autor mit c. 11, das eine aus den zeitgenössischen Verhältnissen wie auch aus dem monastischen Entste- hungshintergrund des Textes heraus zu verstehende Kritik am weltlichen Klerus, insbe- sondere dem Episcopat74, bringt, indem es die Gläubigen auffordert, unabhängig vom mög- licherweise schlechten Vorbild (c. 11,8-16) derer, “die den katholischen Kirchen vorste- hen” (c. 11,17), stets das Richtige und Gute zu tun75. Die persönliche Entscheidungs- grundlage dafür sollte der biblisch-heilsgeschichtliche Teil (z. B. durch den Dekalog in c.

5) soweit bereits liefern (s. Prolog (c. 1),12-16), und auch im folgenden dienen die den gesetzten ethischen Normen zur Begründung beigeordneten Bibelzitate genau diesem Zweck.

Die Eröffnung des zweiten Teils bringt eine mit der liturgischen Lesung von Ezech.

36,25f. beginnende76, minutiöse Rekapitulation des Taufritus (c. 12). Die Taufe ist ein Vertrag mit Gott (pactus c. 12, 8) und als solcher verpflichtend. Eine kontrollierende (?) Hilfestellung gibt ein ad custodiendum jedem Christen zugeordneter (Schutz-)Engel (c.

12,33).

Die Taufe verpflichtet zur Imitatio Christi in allem (c. 13,2). Aus den hohen Anforde- rungen an die Gläubigen (c. 13, 2ff.) spricht der Asket Pirmin. Auch die nun folgende Darlegung der acht Hauptsünden (c. 13, 12f.) ist monastischen Ursprungs und beruht, wie die Kontextualisierung zeigt, auf irofränkischer Vermittlung. Die nächste Parallele hierzu ist Columbans (?) Instructio 1777. Das Cassiansche Schema wird im Scarapsus leicht abgewandelt, indem die Begierde (cupiditas) an die Spitze gestellt wird. Dies geschieht ganz offensichtlich in konsequenter Umsetzung des Paulus-Spruchs 1. Tim. 6,10 Radix enim omnium malorum est cupiditas (c. 14, 3f.)78. Was die Anforderungen, Christus in allem zu folgen, nun konkret bedeuten, wird hier c. 13,9ff. wie auch nochmals c. 27,89f.

prägnant formuliert: Devertere a malo et facere bonum (Ps. 33,15), d. h. den Teufel und alle seine Werke völlig zurücklassen (diabulum ... derelinquere).

Eine gewisse Zäsur zeigt sich nach c. 14, das die Acht-Lasterlehre noch einmal vertieft.

Mit c. 15 (nicht töten) und den nächsten Kapiteln folgt Pirmin jetzt dem üblichen Schema und inhaltlichen Arrangement vieler Bußbücher79. Die Fortführung des Inhaltes folgt hier

74 Zum literarischen Topos des episcopus neglegens vgl. BREEN, De XII abusiuis S. 79 (mit der älteren Lite- ratur); zum Text s. Ps.-Cyprian, De XII abusiuis saeculi, Abusio VII (CSEL 3/3 S.153-173, S. 168ff.). Zum durchaus realen Hintergrund der Klerus-Kritik vgl. EWIG, Milo et eiusmodi similes S. 190.

75 Belegt wird dies mit Stellen höchster Autorität, einem (adaptierten) Wort Jesu (Matth. 23,3) und einem Hieronymus-Zitat (s. App. bibl., App. patr. zu c. 11,13-16).

76 ANGENENDT, Religiosität S. 464. Letztlich aus der Taufkatechese stammen auch die Psalmenverse und das Zitat Matth. 11,28 im Prolog (DE VOGÜÉ, Regula Benedicti – Kommentar S. 11, 17).

77 Die direkte Autorschaft Columbans an diesem kurzen Sermo ist unsicher, jedoch nicht unwahrscheinlich;

er ist sicherlich im columbanisch geprägten monastischen Kontext entstanden und zusammen mit den echten Werken überliefert (STANCLIFFE, The thirteen sermons S. 97, 102f. mit Anm. 43; WALKER, Sancti Columba- ni Opera S. LXII).

78 Pirmin folgt somit der älteren östlichen asketischen Tradition, die die „’Begierlichkeit’ als Grundhaltung der von Gott abgewendeten Seele“ sieht (FICHTENAU, Askese S. 37).

79 Vgl. die kleineren fränkischen Bußbücher vornehmlich des 8.-9. Jahrhunderts: Paenitentialia minora, ed.

CCL 156, Synopsis S. 10ff.; Pirmins Tötungsverbot ist absolut, das der Bußbücher hier auf Kleriker be- schränkt. Zum Tötungsverbot als Teil der Lex Dei s. JECKER, Heimat S. 108f. Die Acht-Lasterlehre findet sich auch im Vorspann des Paen. Merseburgense a (WASSERSCHLEBEN, Bußbücher S. 387f.), somit könnte

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