DAS FRÜHOSMANISCHE VILÄYET UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE
ERSCHLIESSUNG VOROSMANISCHER HERRSCHAFTSGEBIETE
Von Hans-Jürgen Kornrumpf, Mainz
Die Grundbedeutung des arabischen Wortes wiläya ist jede Art von Macht¬
befugnis. In seiner staatsrechtlichen Verwendung, die hier allein interes¬
sieren soll, bedeutet es Herrschergewalt, Souveränität; ursprünglich die dem
Kalifen von Gott verliehene Herrschergewalt, die er weiter delegieren konnte.
Man bezog sich hierbei auf Koran IV, 59, wo es heißt: "O ihr Gläubigen, ge¬
horcht Gott und Seinem Gesandten und den Oberen (üli 'I-amr) aus eurer
Mitte!" In übertragenem Sinne bedeutet wiläya dann die Ernennung und Er¬
nennungsurkunde eines Beamten, und schließlich ging es auch auf seinen Amt¬
bezirk über (1). Im Persischen und Türkischen wurde das Wort zu viläyat
bzw. viläyet.
In den Nachschlagewerken ist das türkische viläyet bisher sehr stiefmütter¬
lich behandelt worden. In der ersten Ausgabe der EI, die hier noch längere
Zeit maßgebend sein wird, wird die Bedeutung als Amtsbezirk in zwei Sätzen
abgetan. Das Wörterbuch der osmanischen Fachausdrücke von Mehmet Zeki
Pakalm hat das Wort überhaupt nicht, und der Begriff wird nur unter "Eyalet"
oberflächlich abgehandelt (2). Daß solches der tatsächlichen Bedeutung des
Wortes und vor allem seiner Rolle in der frühosmanischen Geschichte nicht
gerecht wird, soll im folgenden gezeigt werden. Zunächst gilt es jedoch, sich
von der Vorstellung freizumachen, die uns das 19. Jahrhundert vermittelt hat,
daß nämlich das Viläyet seit altersher die Einheit einer nach französischem
Muster organisierten Zentralverwaltung ist und in etwa einem Departement
entspricht; solches läßt sich erst seit 1867, dem Jahr der allgemeinen An¬
wendung der modernen Viläyetsordnung im Osmanischen Reich, sagen.
Wenn wir umgekehrt den Blick nach rückwärts richten, also auf die Sel¬
dschuken, die das Wort viläyat ebenfalls verwendeten, so müssen wir feststel¬
len, daß uns dieses nicht weiterhilft. Wie Heribert Horst in seiner Arbeit
über die Staatsverwaltung der Großsoldschuken erkennen mußte, ist nach den
vorliegenden Urkunden eine genaue Ubersicht über die Provinzeinteilung des
Seldschukenreiches nicht möglich (3). Zwar scheint die Gliederung durch die
Jahrhunderte gleichgeblieben zu sein, doch wechselten die Bezeichnungen,
wenn Provinzen (viläyat), wie es gelegentlich geschah, zusammengefaßt, ge¬
teilt oder auch nach ihren Hauptstädten benannt wurden. Dem Mangel an sel¬
dschukisehen Quellen steht auf der anderen Seite die Flut der osmanischen Re¬
gister gegenüber, die in weiten Teilen des Reiches zumindest in bestimmten
Zeiträumen eine Erfassung bis hinab zu den Dörfern und Haushaltungsvor¬
ständen hin darstellen.
In frühosmanischer Zeit wird das Wort viläyet vor allem in zwei Bedeutun¬
gen verwendet, die unbedingt zu scheiden sind. Erstens kann es die lockere
Bezeichnung für ein Gebiet verschiedener Art und Größe sein und ist dadurch
für den hier angestrebten Zweck nur bedingt ergiebig. Ein Beispiel soll dies
illustrieren. In einer Liste der Kopfsteuererträge in der europäischen Trükei
aus dem Jahre 1485 (890H. ) (4) wird z.B. sowohl vom viläyet-i Rüm eli,
also der europäischen Türkei insgesamt, als auch vom viläyet-i Hersek, der
Hercegovina, dem viläyet-e Egriboz, d.h. der Insel Ewia/Euböa, und so¬
wohl vom viläyet-i Usküb (Skopje) als auch gesondert vom viläyet-i Kalkan¬
delen (Tetovo), das ausdrücklich als Usküb unterstehend genannt wird, ge¬
sprochen. In der zweiten Bedeutung erscheint viläyet in den osmanischen
Lehnsregistern der Frühzeit als eine Art terminus technicus für ein Gebiet,
dessen Abgrenzung aus vorosmanischer Zeit stammte und das nach der Er¬
oberung zunächst mit seinen alten Grenzen in die osmanischen Register ein¬
getragen wurde.
Die erste Form der Verwendung des Begriffes viläyet wurde lange beibe¬
halten, die zweite verschwand im Zuge der Vereinheitlichung der Register
gegen Ende des 15. Jahrhunderts, gewöhnlich schon bei der zweiten oder
dritten Erhebung des betreffenden Gebietes.
Ähnliches gilt übrigens auch für die Nähiye. Das Wort kann entsprechend
seiner Grundbedeutimg in der arabischen Sprache auch im osmanischen Schrift¬
tum allgemein in der Bedeutung "Seite, Gegend" verwendet werden. Im enge¬
ren Sinn dient es in den Lehnsregistern des 15. und 16. Jahrhunderts zur Be¬
zeichnung der Untereinheit des Sandschak, und es wäre zu untersuchen, in
welchem Umfang sie sich jeweils mit der Gerichts-Nähiye, dem Amtsbezirk
eines Hilfsrichters (nä'ib), deckte. Auch die Nähiye spiegelt oft ältere histo¬
rische oder geographische Einheiten wider; so entsprach sie in südslawischen
Gebieten oft einer Zupa.
Auf die schillernde Bedeutung des Wortes viläyet hat vor allem Hazim Sa-
banovic in seinen Arbeiten über das Paschalik Bosnien (5) und das Grenz¬
land (krajiste) des ^Isä Bey Ishakovic (6) hingewiesen und nach seinen Er¬
fahrungen die Gleichung Viläyet = Kazä aufgestellt, ähnlich wie vor ihm be¬
reits Halil Inalcik in seiner Herausgabe des ältesten Lehnsregisters über Al¬
banien aus dem Jahre 1431 (7). Diese Gleichung besitzt freilich nur sehr all¬
gemeine Gültigkeit und muß, wie auch weiter unten zu sehen sein wird, ge¬
legentlich modifiziert werden. Die folgenden Beispiele für die Verwendung
des Begriffes wurden den ältesten veröffentlichten Registern entnommen; dabei
wurde chronologisch verfahren und aufgezeigt, wo sich in den verschiedenen
Einzelfällen vorosmanische Herrschaftsverhältnisse nachweisen lassen.
Das älteste erhaltene Lehnsregister datiert, wie bereits erwähnt, aus dem
Jahre 1431f (835H. ); aus verschiedenen Anmerkungen im Text geht hervor,
daß es nicht die erste Aufnahme des Gebietes war (8). Der Anlaß für die neue
Abfassung ist nicht ganz klar, könnte jedoch im Zusammenhang mit der os-
msmischen Eroberung von Saloniki 1430 und der von Yanya (loannina) 1431
stehen. Es stellt allgemein die Lage vor dem Aufstand Skanderbegs dar.
Das Register enthält die Namen von insgesamt 13 Viläyeten, die in einigen
Fällen als Unterbezirke Nähiyes in der Nebenform Nähiyet aufweisen; auch
das Viläyet Sopöt, nach einem kleinen Dorf an der albanischen Küste, er¬
scheint gewöhnlich als Nähiyet. Am wichtigsten ist das Viläyet AryürT kasri
(Gjinokaster), das auch viläyet-i Zenebis genannt wird, nach der Familie
der Zenevisi, die dort bis 1417 die Herrschaft ausgeübt hatten. Der Ange¬
hörige einer anderen albanischen Adelsfamilie gab dem Viläyet Pävlo Kürtik
den Namen; es bezeichnet ein Gebiet südlich des heutigen Tirana, und der
Kadi hatte seinen Sitz in Yenigeltal ^e (Bradashesh), einem Ort 5 km östlich
des heutigen Elbasan, das in dem Register noch nicht auftaucht. Der Sohn des
Pavlo Kürtik ist bereits als cfsä Bey zum Islam übergetreten und wird als be¬
deutendster Timär-Inhaber des Bezirks genannt. Zum Viläyet Pavlo Kürtik
gehört u.a. die Nähiyet ^öndo Miho, die ebenfalls auch als Viläyet bezeichnet
wird. Die anderen Viläyete in dieser Quelle haben ihre Namen nach Orten oder
Landschaften und sollen nur aufgeführt werden: Väyönetya (Vagonetia) im Sü¬
den, Klisüra, ^änina, Belgrad (Berat), Tomöringe (Tomorrice) östlichBerat,
Iskaräpär (Skrapar) südlich davon, Cärtalös südöstlich Elbasan, das später
nicht mehr erscheint, und Akcahisär, der türkische Name für Kruja. Erwähnt
wird schließlich noch das Viläyet Balsä, das außerhalb des Sandschaks Alba¬
nien lag und seinen Namen von der Familie der Beilsha ableitete. Angesichts
der allgemeinen Anarchie in Albanien und der häufigen Grenzveränderungen
etwa seit 1400 müßte natürlich im einzelnen geprüft werden, auf welche Zeit
sich der von dem osmanischen Register überlieferte Zustand bezieht.
Etwas sicherer wird der Boden, den wir in Bosnien und der Hercegovina betre¬
ten, und dank der Untersuchungen des so früh verstorbenen Hazim Sabanovic
läßt sich bereits ein vortrefflicher Gesamteindruck von der politischen Glie¬
derung Bosniens nicht nur in der osmanischen Frühzeit, sondern auch gerade
in den Jahren und Jahrzehnten vor der türkischen Eroberung gewinnen.
Das Register des Lehnsbesitzes des Grenzbeys cisä Bey Ishakovic aus dem
Jahre 1455 (859 H. ) (9) erfaßt eine Landbrücke zwischen Mazedonien und Bos¬
nien. Es enthält insgesamt neun Viläyete. Zwei von ihnen, Usküb (Skopje) und
Kalkandelen (Tetovo), liegen noch im Süden. Das Viläyet Niksikler (Niksici)
bezieht sich nicht auf das heute montenegrinische Niksic, sondern auf das Ge¬
biet zwischen Lim und Tara südlich Prijepolje. Izvegen (Zvecan) und Yelec
(Jelec), letzteres auch als Nähiyet bezeichnet, sind Viläyete, die ihre Namen
von den alten Burgen erhalten haben. Die Viläyete Senice (Sjenica), auch Nä¬
hiyet, und Räs sind aus älteren Quellen als Zupen bekannt. Das Viläyet Hödi
dede (Hodijed) bezieht sich auf das Zentrum Bosniens um das heutige Sarajevo
und hat seinen Namen nach der Burg nordöstlich der Stadt. Es ist bemerkens¬
wert, daß das Gebiet in der gleichen Quelle auch bereits viläyet-i Saräy ovasi
heißt, was Rückschlüsse auf die allererste Frühzeit von Sarajevo erlaubt.
Schließlich wird noch das Viläyet-i Vilk aufgeführt; Vilk ist Vuk Brankovic,
dessen Nachkomme Georg gerade seine Gebiete in Südserbien und im Kosovo
an die Osmanen eingebüßt hatte. Diese osmanischen Neuerwerbungen wurden
im gleichen Jahr 1455 in einem gesonderten Register erfaßt, das detailliert
(mufassal) ist, also selbst die Namen der Familienvorstände enthält (lO).
Das Viläyet-i Vilk ist hier in mehrere Nähiyete unterteilt; eine davon. Pri¬
stine (Pristina), wird zugleich als Viläyet bezeichnet, vielleicht weil es zeit¬
weilig Herrschersitz der Brankovici gewesen war.
1463 unterwarf Mehmed der Eroberer einen großen Teil Bosniens und ließ
den letzten König des Landes Stefan Tomasevic hinrichten. Diese Eroberungen
machten eine neue Aufnahme und zugleich Neuorganisierung erforderlich, die
14681 (872f H. ) niedergeschrieben wurde und vielleicht das beste Beispiel zu
dem hier behandelten Thema darstellt (ll).'
Der Sandschak Bosnien bestand danach aus sechs Viläyeten, die sämtlich
klare Bezüge zur vorangegangenen Epoche aufweisen können. Unter dem Vi¬
läyet und KädTlik Yelec (Jelec) werden auch die früheren Viläyete Zvecan,
Ras, Sjenica und Niksici zusammengefaßt; der Verwaltungssitz wird von der
Burg Jelec sehr bald nach dem neugegründeten Yenipäzär (Novipazar) ver-
legt. Das Viläyet und Kädilik Saray ovasi mit der alten Burg Hodidjed ent¬
spricht den frühesten türkischen Eroberungen, so wie sie bereits zuvor re¬
gistriert worden waren. Das viläyet-i kirsil ist das Gebiet des letzten bosni¬
schen Königs, soweit es sich zum Zeitpunkt der Eroberung noch unter seiner
direkten Herrschaft befunden hatte. Hier haben die Osmanen zwei Kadis ein¬
gesetzt, die auf der Burg Bobovac und in Konjic an der oberen Neretva saßen.
Zwei weitere Viläyete führen die Namen ehemaliger lokaler Feudcilherren:
Das viläyet-i Pävli oder Pävli eli umfaßte das Gebiet der früheren Pavlovici
östlich Sarajevo von Pale und Olovo bis Ein die serbische Grenze, das vilä¬
yet-i Koväc bzw. Koväc eli bezeichnete das Land der Kovacevici nördlich da¬
von. In der osmanischen Justizorganisation waren beide unter einem Kadi zu¬
sammengefaßt, der in Visegrad an der Drina saß. Das sechste Viläyet war
das viläyet-i hersek, das Gebiet des Herzogs Stjepan Kosaca, soweit es zu
diesem Zeitpunkt bereits osmanisch war. Der Titel des Herrschers, der die¬
sem Land bis heute den Namen geben sollte, ist auch in den türkischen Quel¬
len bereits zu seinen Lebzeiten verwendet worden. Hier gab es wiederum zwei
Kadis, die an der Neretva gegenüber von Konjic in Biograd sowie in der alten
Hauptstadt Blagaj ihren Sitz hatten.
Im östlichen Teil der europäischen Türkei verdanken wir den bulgarischen
Historikern seit einiger Zeit die Herausgabe und Ubersetzung frühosmanischer
Quellen aus den Sofioter Beständen, Quellen, die häufig über die Grenzen des
heutigen Bulgarien hinausreichen.
Eine besondere Rolle spielte Kjustendil, und es soll hier gensinnt werden,
selbst wenn es nicht ganz in den gesteckten Rahmen paßt. Die westbulgarische
Stadt, deren älterer Name bekanntlich Velbüzd war, stand in der zweiten Hälf¬
te des 14. Jahrhunderts mit dem umliegenden Gebiet unter der Herrschaft des
Despoten Konstantin Dejan, bis sie von den Türken erobert wurde. Das Land
ging in die frühen osmanischen Register gelegentlich unter der Bezeichnung
Köstandin eli ein (l2), und auch die Stadt übernahm als Köstendil den Namen
ihres früheren Besitzers. Das Gebiet wurde zum Sandschak erhoben, bestand
mit kaum veränderten Grenzen bis in das 19. Jahrhundert hinein, und erst
die Grenzziehung des Berliner Kongresses 1878 sollte die administrative Ein¬
heit endgültig zerschlagen.
Ein Lehnsregister des Sandschak Nikopol etwa aus der Mitte des 15. Jahr¬
hunderts - die Quelle ist nicht datiert, doch wird diese Zeit vor allem auf¬
grund paläographiseher Untersuchungen angenommen, und auch inhaltlich
scheint dem nichts im Wege zu stehen (13) - enthält neben Nikopol selbst
sechs weitere Viläyete. Drei von ihnen heißen nach bekannten Städten: Sümni
(Sumen), ivräga (Vraca) und Löfca (Lovec). Das vierte ist das viläyet-i Ger-
novT, genannt nach dem heute nur noch als Burgruine und Dorf vorhandenen
Cerven, dessen Nachfolge der etwas weiter nördlich gelegene bekannte Donau¬
hafen Rustschuk (Ruse) antrat; dieses geschah allerdings nicht sofort nach
der osmanischen Eroberung, sondern allmählich in den folgenden ein- bis
zweihundert Jahren (l4). Die beiden restlichen Viläyete spielten schon bald
keine Rolle in der Verwaltungsgliederung mehr; Klve (Kleve) ist der Name
eines Gebietes und einer heute verschwundenen Burg am Malki Iskär, Marä-
mörnTge (Mramornica) lag weiter flußabwärts ebenfalls am Iskär. Beide Na¬
men erscheinen in den späteren osmanischen Quellen nicht mehr.
Das Fragment eines anderen Registers etwa aus der gleichen Zeit (l5)
nennt auf heute griechischem Gebiet neben dem viläyet-i Selänlk auch das
Viläyet CAvrethisäri, eine wörtliche Ubersetzung des Namens der Burg Ginai- kokastron nördlich von Saloniki.
Wenn bisher von den asiatischen Gebieten der osmanischen Türkei keine
Rede gewesen ist, so gibt es hierfür verschiedene Gründe. Da die zeitlich
gesetzte Grenze etwa das Ende des 15. Jahrhunderts ist, umfassen die bis
dahin infrage kommenden Regionen nicht einmal das gesamte Gebiet der heuti¬
gen Türkei in Asien. Des weiteren muß die ungünstigere Quellenlage in Be¬
tracht gezogen werden; eine detaillierte Edition früher Register über Klein¬
asien, soweit sie vorhanden und erhalten sind, ist bisher unterblieben. Schlie߬
lich muß auf den abweichenden geschichtlichen Hintergrund hingewiesen wer¬
den. Von den anatolischen Seldschuken ist kein Dokument erhalten, das die
Zahl und die Namen der damaligen Viläyete angibt. Man weiß, daß unter Kilig
Arslan II., also in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das Land unter
elf Söhne aufgeteilt wurde und daß später durch die Eroberung weiterer Ge¬
biete die Zahl auf über 30 Viläyete stieg (16). Die anatolischen Kleinfürsten
haben dieses System im wesentlichen fortgeführt. Diese Beyliks fanden die
Osmanen vor, als sie sich selbst nach Osten ausdehnten. Sie überneihmen die
Fürstentümer in vielen Fällen wenig oder gar nicht verändert in ihre Verwal¬
tungsgliederung, jedoch nicht unter der Bezeichnung viläyet, sondern, viel¬
leicht in Europa mit Kjustendil vergleichbar, als Sandschake, die ihre alten
Namen oft über die Jahrhunderte beibehielten (wie etwa MenteSe, Saru^jan,
Hamid, Karasi, Aydin usw. ). Das größte von ihnen, Karaman, wurde sogar
als Beylerbeyilik fortgeführt. Auch hier leben also vorosmanische Herrschafts¬
verhältnisse in der osmanischen Verwaltungsgliederung weiter, doch handelt
es sich hier 1. nicht um Viläyete und 2. um muslimische und sogar türkische
Vorläufer und nicht um christliche Herrschaften.
Es bleibt am Schluß die Frage nach dem späteren Schicksal dieser früh¬
osmanischen Viläyete. Soweit ich die Quellen übersehen kann, sind sie nicht
alle zur gleichen Zeit verschwunden und haben im Westen der europäischen
Türkei wohl längeren Bestand gehabt (17). Als nicht ganz typisch dürfen da¬
bei wohl die Verhältnisse in Bosnien bezeichnet werden, das stets Grenzland
gegen Venedig und Österreich war. Hier wurde der Sandschak Hersek 1470 vom
Sandschak Bosna abgetrennt und als Hauptort Foca bestimmt, das auch das
Zentrum des Kadilik Drina wurde (18). Ein neues Kädilik und Viläyet Mile-
seva nach dem gleichnamigen Kloster und der in der Nachbarschaft befind¬
lichen Burg, die bis heute den türkischen Namen Hisardzik trägt, wurde ein¬
gerichtet, der Sitz freilich bald nach Prijepolje verlegt (19). Noch um 1525
wird an der Grenze vorübergehend ein Viläyet yirvatr geschaffen, das später
im Sandschak Klis aufging und sein Zentrum in Sinj hatte (20). Im übrigen
wurden auch hier unter Süleymän dem Prächtigen die Viläyete abgeschafft und
machten der Gliederung des 16. Jahrhunderts in Sandschak und Nähiye bei der
Lehnsorganisation und in Kädilik/Kazä und Nähiye bei der Gerichtsorganisa¬
tion Platz. Die alten Burgen waren, wie wir gesehen haben, längst verlassen
worden und die Verwaltungsorgane überaill in die Städte übergesiedelt. Die Be¬
zeichnung Viläyet wird in den osmanischen Quellen nur noch im breiteren Sin¬
ne verwendet. Es wird oft zum Synonym von Eyälet oder Beylerbeyilik, zumal
sich die Bezeichnung Väli für den Chef dieser Verwaltungseinheit zunehmend
einbürgert. Institutionalisiert wird das Viläyet jedoch erst wieder durch die
Reform der osmanischen Territorialverwaltung seit 1864 bzw. 1867.
Anmerkungen 1. Vgl. Ell "Wiläya" von W. Heffening.
2. M.Z. Pakalin: Osmanli tarih deyimleri ve terimleri sözlü|ü. 3 Bde.
Istanbul 1946-55.
3. H. Horst: Die Staatsverwaltung der Großselgüqen und Hörazmsähs
(1038-1231). Wiesbaden 1964, S. 43-45.
4. M.T. Gökbilgin:XV-XVI. asirlarda Edirne ve Paga Livasi. Istanbul 1952
S. 155-158.
5. H. Sabanovic: Bosanski pasaluk. Sarajevo 1959, S. Ulf.
6. H. Sabanovic: Krajiste Isa-bega Ishakovica. Zibirni katastraski popis
iz 1455. godine. Sarajevo 1964, S. 143f.
7. H. Inalcik: Hicrl 835 tarihli süret-i defter-i sancak-i Arvanid. Ankara
1954, S. XXIII.
8. H. Inalcik: Hicri 835 tarihli süret-i defter-i sancak-i Arvanid. Ankara
1954, S. XV.
9. S.o. Anm. 6.
10. H. Hadzibegic u.a. : Oblast Brankovica. Opsirni katastraski popiz iz
1455. godine. Sarajevo 1972.
V ^ V
11. H. Sabanovic: Bosanski pasaluk. Sarajevo 1959, vor allem S. 109-143.
12. Z.B. im Fragment eines Lehnsregisters von Sofia und Samokov aus dem
dritten Viertel des 15. Jahrhunderts: N. Todorov u. B. Nedkov: Turski
izvori za bälgarskata istorija, serija XV-XVI, Band II. Sofia 1966, S.
64f.
13. N. Todorov^u. B. Nedkov: Turski izvori II. Sofia 1966, S. 160-297.
14. 1579 hatte Cerven neben der muslimischen Burgbesatzung (44 Mann mit
Kommandant, Imam, Gebetsrufer usw. ) noch 272 nichtmuslimische
Häuser (häne) und 216 Personen ohne eigenen Haushalt (mügerred);
Bagbakanlik Argivi, Tapu 42, Bl. 29 b.
15. N. Todorov u. B. Nedkov: Turski izvori II. Sofia 1966, S. 388-429.
16. i.H. Uzungargili: Osmanli devleti tegkilätina medhal. Ankara ^ 1970,
S. 118-121.
17. In den Registern der Falkner (dogangi) in Rumeli aus dem letzten Viertel
des 15. Jahrhunderts wird die Bezeichnung viläyet bereits nicht mehr ver¬
wendet, und die Gliederung erfolgt nach Nähiyes: B.A. Cvetkova u. V.P.
Mutafcieva: Turski izvori za bälgarskata istorija, serija XV-XVI, Band I.
Sofia 1964, S. 21-224.
, v
18. H. Sabanovic: Bosanski pasaluk. Sarajevo 1959, S. 156-162.
19. H. Sabanovic: Bosanski pasaluk. Sarajevo 1959, S. 163-166.
20. H. Sabanovic: Bosanski pasaluk. Sarajevo 1959, S. 144 u. 175f.
ASPEKTE ZUM STILWANDEL IN DER TÜRKISCHEN POESIE
UM DIE MITTE DES XX. JAHRHUNDERTS
(dargestellt an Tiergedichten aus dem Werk des türkischen Dichters
FaziI Hüsnü Daglarca)
Von Gisela Kraft, Berlin
Von den umfassenden Veränderungen in der türkischen Poesie des XX. Jahr¬
hunderts seien eingangs einige Vorgänge ins Gedächtnis gerufen, ehe der spe¬
zielle Beitrag des 1914 geborenen Dichters FaziI Hüsnü Daglarca innerhalb
dieser Entwicklung angedeutet werden kann.
Umgestaltend wirkten unter einderem:
I. die seit einem halben Jahrhundert durchgehaltenen Bemühungen der Türki¬
schen Sprachkommission, den Gebrauch von Fremdwörtern abzulösen,
sei es durch Verweis auf vorhandene türkische synonyma, sei
es durch Neubildungen, wie die Neusuffigierung türkischer Wur¬
zeln und Stammsilben;
II. die Aufwertung der poetischen Formen der Volksliteratur, und zwar in
dem Sinne, daß sie nicht nur als Ergebnisse einer abgeschlossenen Tradition
zu pflegen sondern weiterhin entwicklungsfähig sind, d.h. daß sie zeitge¬
nössische dichterische Intentionen aufzunehmen vermögen.
Hierher gehört die Rückbesinnung auf das SilbenmaJJ als die dem
türkischen Sprachmaterial adäquate Ordnung. Doch ehe noch -
von Einzelversuchen abgesehen - sich hieraus wiederum ein Fbstu-
lat mit Ausschließlichkeitsanspruch ableiten ließ, wurde Dichtung
erneut aus ihren Bindungen freigesetzt durch
III. die Uberwindung der Versordnungen des aruz und der Silbe; repräsentativ
bewältigt durch Nazim Hikmet Ran (1902- 1963).
Überwindung hieß nicht Abschaffung der poetischen Ordnungen über¬
haupt. Sie verstand sich als deren Rückführung auf eine Funktion
als Instrument, d.h. auf den ihnen jeweils eigenen Ausdruckswert.
Wird dieser thematisch verlangt, so steht er stilistisch zur Ver¬
fügung.
Weitere stilwandelnde Konzepte betrafen die Handhabung der frei¬
gesetzten Sprache in Beziehung zu dem durch sie auszudrückenden
Inhalt. - Die 'Garipler' und als Wortführer unter ihnen Orhan Veli
Kanik (1914-1950) propagierten 1941 (l) unter anderem
IV. den Verzicht des Einzelworts auf seine metaphorische Funktion; den Ver¬
zicht von Wortsequenzen auf ihre schmückenden Funktionen.
Ein Wort bedeutet "nichts anderes als sich selbst" (2). Einfach¬
heit der Wortfolge erzeugt eine dem 'Gebildeten' und dem 'Volk'
gemeinsame Ebene der Rezeption (3).
- Eine solche Forderung zog Konsequenzen nach sich, die ins Ge-
genteil des Geforderten umzuschlagen scheinen. Einerseits sind
Sätze dinglich-anschaubaren Inhaltes unübertragen, im Bereich der
alltäglichen Wirklichkeit, zu interpretieren. ' Der Baum ist grün' -
und nichts weiter. Andererseits will ein Satz, der physikalisch Un¬
mögliches aussagt, jetzt ebenfalls unübertragen erfaßt sein, er¬
hält somit dingliche Relevanz. Eine Kombination wie: 'die Zweige
bluten' wurde bisher als dichterische Ubersteigerung des Sach¬
verhalts 'die Blätter der Zweige sind rot' (oder: 'die Rinde ist
rot' ) eingeordnet. Jetzt, nach Ausschaltung von Synekdoche und
Metapher als Rezeptionsstufe, bluten die Zweige wirklich. Der
Dichter wird zum Magier, das Gedicht zum Ort der Konfrontation
mit einer erweiterten Wirklichkeit. - (4)
Wird nun das Gedicht "ontologisch auf sich selbst reduziert", wie
Pazarkaya es beschreibt (5), so doch erst mittelbar auf die Nach¬
richt, die es transportiert. Seine unmittelbar erfahrbare Existenz
ist die sprachmaterielle. Nur deren Elemente und Eigenschaften
lassen sich exakt, wenn auch nicht erschöpfend, bestimmen, nicht
nur von selten des Empfängers, sondern auch des Sprechenden
selbst. Denn kaum die Sichtweise eines Dichters noch sein impon-
derabiles Anliegen zu dichten, wohl aber seine "Intention auf die
Sprache" (6) kann mit Hilfe von Konzepten und Erfahrungen einen
Reifeprozeß durchmachen. Das verbale Produkt erweist sich in
dem Maße als Poesie, in dem es einen Inhalt nicht nur meint, son¬
dern spricht .
An diesem Punkte münden verschiedene divergierende Konzepte
ineinander. Der viel geschmähte Ahmet Hagim (1885-1933), der
äußerte, das Silbenmaß sei das einzige dem türkischen Gemüt adä¬
quate Versmaß (7), und der doch im eigenen Werk die Aruz-Dich-
tung zur Spätblüte trieb; der die Poesie (unter dem Einfluß des
französischen Symbolismus) in der Musiknähe ansiedelte und seine
Symbole tausenddeutig erst in der individuell gearteten Seele eines
jeden Empfängers entschlüsselt wissen wollte, - er schrieb 1926
(fünfzehn Jahre vor Orhan Veli' s Postulat) den Satz: "In der Fbesie
ist es nicht der Sinn eines Wortes, der vor allem wichtig ist, son¬
dern
V. der in der Gesamtheit befindliche Betonungswert." ("teläffuz kiymeti") (8).
Mit dieser Diagnose, die sich letztlich mit den Therapievorschlä¬
gen seines Antipoden vereinigen ließ, hat Ahmet Hagim seinerzeit
zur Formulierung des Weges beigetragen, den die türkische Dich¬
tung gegenwärtig und noch auf absehbare Zeit beschreitet.
Die Leistung FaziI Hüsnü Daglarca' s innerhalb dieser Veränderungen sei
nun anhand von vier Gedichten veranschaulicht. Sie stammen aus verschiede¬
nen Schaffensperioden des Dichters und haben jeweils ein Tier zum Thema.
Hatirlama Gedenken
Siz mandalar, sabirla kuvvetle
Agirin yavagi.
Sicak gecelerin pariltisinda Käinata karji.
Ihr Büffel, mit Geduld mit Kraft
Der Schwere Langsamkeit.
In der warmen Nächte Glanz
Dem Weltall entgegen.
Siz mandalar, beni muhabbetle kabul ettiniz,
Beraberce gömüldük sulara
Binlerce sene evvel, Binlerce sene sonra.
Ihr Büffel, mich habt ihr freundschaft¬
lich angenommen.
Gemeinsam ließen wir uns im Wasser
nieder
Vor tausenden Jahren,
Nach tausenden Jahren.
Das Gedicht ist dem Band 'DAHA' des Dichters, erschienen 1943, entnom¬
men. Es besteht aus zwei 4-zeiligen Strophen. Da die 120 Gedichte der Samm
lung 'DAHA' bis auf zwei Ausnahmen 4-zeiIig aufgebaut sind, ist diese Stro¬
phenform hier ohne individuelle Funktion.
Die Aufmerksamkeit fällt zunächst auf die direkte Anrede 'ihr Büffel' je¬
weils am Strophenbeginn. Sie ist in der ersten Strophe von attributiven Zu¬
sätzen gefolgt, in der zweiten von zwei hyperbolischen Aussagen. Die zweite:
'gemeinsam ließen wir uns im Wasser nieder' spannt die Hyperbel weiter als
die erste: 'mich habt ihr freundschaftlich aufgenommen' .
In ähnlicher innerer Parallelität stehen die zweiten Hälften der Strophen
zueinander. In der ersten Strophe ist von Raum , in der zweiten von Zeit die
Rede. Beide werden ausgedehnt. 'Der warmen Nächte Glanz' enthält als vor¬
gestelltes Bild noch den Horizont, der nun - ' mit Geduld mit Kraft' - aus¬
einandergeschoben wird: ' dem Weltall entgegen' . Die 'Jahre' ihrerseits wer
den durch das Attribut ' tausende ' nach Vergangenheit und Zukunft hin in die
Dauer gedehnt.
Zur Sprachform: Der Text verwendet osmanisch-türkisches, noch nicht
neutürkisches Vokabular. Ohrenfällig sind die anaphorischen Strophenan¬
fänge, die die Anrede 'ihr Büffel' tragen. Das Element der Anapher ist zu
dichter Sequenz zusammengezogen wiederholt am Schluß des Gedichts: 'bin¬
lerce sene evvel / binlerce sene sonra' .
Klanglich ergibt sich eine Aufhellung von der ersten zur zweiten Strophe,
indem in der ersten die Velaren, in der zweiten die Palatalen vorherrschen.
Der Konsonantenbestand zeigt eine Häufung von S M K B in markanten Posi¬
tionen am Anfang oder im Innern von Wörtern. Die Verteilung von K und B
sieht dabei folgendermaßen aus:
1. Strophe 2. Strophe
K: 3 1
B: 1 6
Dieses Verhältnis bildet eine gewisse Dämpfung, besser: einen Wandel von
Stoßkraft etwa zu Standkraft , nach. Hier ließe sich eine leise Andeutung auf
den Vorgang des Domestizierens herauslesen, unterstrichen noch dadurch,
daß der Mensch, hier das redende Ich, sich inhaltlich erst in der zweiten
Strophe einführt und seine vollzogene Annäherung kundgibt.
Als weitere Beobachtung sei angemerkt, daß eine schwache Paronomasie
die Wörter 'evvel' an 'kuvvet' und 'sonra' an 'sabir' heranbindet, also
'Kraft' an 'Vergangenheit' und 'Geduld' an 'Zukunft'. Hiermit sind Gedicht¬
schluß und Gedichtanfang klanglich zueinander hingebogen. -
Das zweite Beispiel ist ebenfalls ein Büffel-Gedicht, erschienen 1972 in
'KINALI KUZU AÖIDI' (9).
Manda
Ben gatal tirnakli, ben kocami§, ben
camiz,
Tam ayam üzre gelir,
Ayifigi tam ayam üzre.
Sevmek büyümek, gayir gimen,
Tam ayam üzre
Ayam altmdakiler.
Parlar, deger degmez karanliga
killarim,
Tam ayam üzre gelir
Karanligin apligi, parlar pari am az.
Qimmek, göloturmak, gamurlanmak,
Tam ayam üzre
Ufsuz bucaksiz tarlalarin upsuz bu-
caJcsiz susuzlugu.
Ben sabanlara kagnilara ulu can
upurmug,
Tam ayam üzre gelir
Bagaklarin agirligi binlerce yildan.
Büyür her gece boynum boynuzlarim
acidan, acil,
Tam ayam üzre
Gün dedigin.
(ayam = ayagi m)
Die Gliederung in sechs 3-zeilige Strophen ist Teil der individuellen Sprach¬
form dieses Gedichts.
Der Mensch ist nicht genannt, erscheint auch nicht mittelbar als Anredender.
Stattdessen handelt der Büffel von sich selbst in der 1. Person; das ben = ich
steht in mehrfacher Wiederholung. Es entsteht eine Art der Identifizierung,
die sich inhaltlich verschweigt, d.h. sie wird unwahr, wenn man sie in die
Definition rückt.
Der Text bietet einige Ubersetzungsschwierigkeiten und erschließt sich auch
dem Türken nicht beim ersten Anlauf in jeder Einzelheit. Ehe man die Fußnote
findet und das achtfach wiederholte 'ayam' als ayagim = mein Fuß / mein Huf
aufgelöst erhält, hat sich in der Rezeption fast jeden Lesers (jedenfalls des
älteren) der Plural von arabisch al-yaum: ayyäm festgesetzt. Zumindest ist
das arabische Wort in Assoziation angezogen worden und damit sein Vorstel¬
lungsinhalt Zeit/Zeitalter in der Rezeptionslandschaft anwesend. Wie leicht
hätte sich dieses Mißverständnis vermeiden lassen; es ist also Absicht. Die
Achsenzeile aller sechs Strophen ' tam ayam üzre ... ' wird so zum Träger
zweier übereinander gelagerter Inhalte: des beschriebenen, der Hyperbel 'um
Büffel
Ich paarhufig, ich alt geworden, ich
Büffel,
Wahrlich um meines Hufes willen kommt
Das Mondlicht, wahrlich um meines
Hufes willen.
Lieben, wachsen, Weide, Wiese,
Wahrlich um meines Hufes willen
Was unter meinem Huf ist.
Sie glänzt, sobald sie an die Dunkelheit
rührt, meine Haut,
Wahrlich um meines Hufes willen kommt
Der Hunger der Dunkelheit, mit dem
Glänzen.
Plantschen, seesitzen, sich schlämmen.
Wahrlich um meines Hufes willen
Der endelosen Felder endelose Wasser-
losigkeit.
Ich der den Pflügen, den Karren Leben
verlieh.
Wahrlich um meines Hufes willen kommt
Die Schwere der Ähren seit tausenden
Jahren.
Es wachsen jede Nacht mein Nacken,
meine Hörner, aus Harm, harmvoll.
Wahrlich um meines Hufes willen
Was du Tag nennst.
meines Hufes willen ' - (aber es gibt vielleicht jetzt keine Hyperbel
mehr - die Aussage setzte dann eine magische Wirklichkeit) - und gleich¬
zeitig des assoziierten: das 'binlerce sene evvel, binlerce sene sonra' , hier
nicht mit anderen Worten, sondern wiederum in einer Art von Verschweigung.
Die Länge ' ayam' ordnet überdies die Silben seines Umkreises zur proso¬
dischen Formel, in deren Schwerezentrum sie steht. Dies ist kein nostalgi¬
scher Rückgriff auf das aruz. Durch Verfremdung des üblichen türkischen
Silbenflusses bewegt sich die Sprache, weg von Normen menschlicher Rede,
einem Grenzbereich ihrer selbst zu, um etwas von der Psychognomie des
Büffels aufzunehmen. Das Metrum verdankt seine plastische Gestalt den Hell-
Dunkel-Werten der Vokale: nach doppeltem breitem A ein Absprung zum U.
Im Medium der Vokeilfolge bildet sich ein Vorgang des Abfederns nach, an
anderer Stelle des Eintauchens:
tam ayam
ben. ben> ben ,
fatal tirnakli kocamig camiz
( abfedern )
( eintauchen )
Im ganzen Text überwiegt Dunkel. Velare und palatale Wörter stehen im Ver¬
hältnis 2:1. Nacht und Tag sind in den Strophen antithetisch gegenübergestellt:
das 'Mondlicht' in der 1. Strophe dem 'Tag' in der 6. Strophe. Raumquali¬
täten ergänzen sich ebenfalls antithetisch bzw. spiegeln sich auf eine imagi¬
näre Mittelachse des Textes hin:
Strophe : 1
' Mond¬
licht' von oben
außen
oben ^
unten
außen unten
6 'Tag'
von oben unten
Dsiß die in den Bildern aufgerichteten Räume in architektonischer Ordnung
einander abstützen, ist Ausdrucksmittel für Stabilität , in deren Dienst auch
das Element der Aufzählung und das Konsonantennetz stehen und die Teil der
Psychognomie ist. Das Komplement dazu bilden 'Hunger' und 'Durst' , letz¬
teres metonymisch umschrieben als ' Wasserlosigkeit' , ersteres genannt im
'Hunger der Dunkelheit' . Das Paar zieht die Innenstrophen in der Aussage
zusammen, einer Aussage, die - drittes Phänomen der Verschweigung -
über den Büffel hinaus seinen Lebensraum Anatolien miteinbezieht. Darüber¬
hinaus weist die Fügung der Bilder in der dritten Strophe dem Büffel seine
Rolle im Weltganzen zu:
' Sie glänzt, sobald sie an die Dunkelheit rührt, meine Haut,
Wahrlich um meines Hufes willen kommt
Der Hunger der Dunkelheit, mit dem Glänzen'
Die beschriebene Kausalkette mit den Stationen: Dunkelheit —> Haut —>
Glanz — ^ Hunger der Dunkelheit ... erläutert die in der Achsenzeile gege¬
bene Hyperbel, indem sie ihre Umkehrung bildet: 'Wahrlich um meines Hufes
willen' - das Tier, im Angelpunkt der Schöpfung (um der Schöpfung willen),
bringt in den kosmisch gegebenen Zustand die Empfindung ein. Es repräsen-
tiert sie nicht nur, es gibt sie ab, sie wird kosmische Qualität: 'Hunger der
Dunkelheit' . Spätestens von hier ab erweist sich die Formel ' meines Hufes
wegen' als auch in gegenlaufender Richtung gültig. Zu dem 'zu mir kommt'
hinzu gibt sich das 'aus mir kommt' zu erkennen, insofern beide Aktions¬
richtungen dem Begriff 'üzre' immanent sind. Der poetische Kontext schöpft
das Wort in seiner Totalität aus. Mittels ihrer stellt sich der Büffel in die Mitte
nicht nur des mondlicht- oder taglichterhellten Raumes, sondern der Erden¬
zeit insgesamt. -
Zwischen den Veröffentlichungen der beiden Büffel-Gedichte liegen fast drei
Jahrzehnte; wahrscheinlich liegt auch ihre Entstehungszeit ähnlich weit aus¬
einander, da Fazil Hüsnü kontinuierlich die Möglichkeit suchte und fand zu
veröffentlichen. Der offensichtliche stilistische Fortschritt zwischen dem
ersten und dem zweiten Text vollzog sich jedoch nicht in stetigen Schritten
während dieses Zeitraumes. Er wurde im Wesentlichen schon in dem der Ver¬
öffentlichung von 'DAHA' folgenden Jahrsiebt, also bis 1950, bewältigt.
Im Rahmen dieser kurzen Untersuchung läßt sich nicht darstellen, welche
biographischen Umstände eine solche Intensivierung des dichterischen Ver¬
mögens Fazil Hüsnü' s vorantrieben. Sie sei wiederum nur im Ergebnis il¬
lustriert anhand von zwei Gedichten über die Kuh, deren Erscheinungsjahre
das genannte Jahr siebt eingrenzen.
Inek
inek diyordu ki kadinin elleri ne
güzel,
Sütüm kadar beyaz.
Sicak bir rüyadan uyanir
memelerim, Tutuyor mu anlagilmaz,
Kirk pipeklerinden, dag
havasindan Eve do|ru yürüdükpe Afk ugruna bereketle
yagadim, Bütün gece.
Kap dolar, poluk pocuk
sevinir
Ba^ucumda, hayretten;
San gözlerimi yumuyorum
Verdigim saadetten.
Die Kuh
Die Kuh sagte: wie schön sind die Hände
der Frau,
So weiß wie meine Milch.
Von einem heißen Traum erwachen
meine Euter,
Ob er eintrifft, weiß man nicht.
Wie ich von den vierzig Blumen aus der
Bergluft
Geradewegs nach Haus lief.
Verbrachte ich um Liebe, in Frucht¬
barkeit Die ganze Nacht.
Das Gefäß füllt sich, das Kindsvolk freut sich
Mir zu Häupten, vor Staunen;
Ich schließe meine gelben Augen
Vor Glück, das ich gab.
Der Text gibt sich ein wenig rührselig, fließt in kreuzreimigen und (für
die Sammlung 'DAHA' typischen) vierzeiligen Strophen vorüber. Die Kuh, die
'nach Hause läuft' und ihre 'gelben Augen' , das sind etwas fragwürdige Bil¬
der, zumindest wenig geeignet, in eine reale Situation einzuführen. Im üb¬
rigen bauen die Angaben der jeweils ersten Zeilen den textinternen Vorgang
auf: Frau - Kinder - Gemolkenwerden inmitten Berglandschaft. Das Bild der
Berglandschaft jedoch wird, ehe es sich der Vorstellung als konkreter Ort
mitteilen könnte, durch die mythisierende amplificatio 'vierzig Blumen' zu-
rückgehalten und verblaßt zur atmosphärischen Kulisse. Was textlich noch
bleibt, umschreibt als Reflexionen der Kuh den uralten Zusammenhang Weib -
Rind - Fruchtbarkeit, und zwar nicht als Reihe sondern als Dreieck schema¬
tisierbar, so daß von jedem der drei zu jedem anderen die Beziehungslinien
laufen.
Dabei bewältigt die Klanggestalt ein gutes Teil der intendierten Aussage
auf ihre Weise. Wer ihr die gleiche Aufmerksamkeit zuwendet wie den Bil¬
dern, findet diese gleichsam aus ihrer Verschleierung wieder freigelegt. Al¬
lerdings erscheinen sie auf dieser Textebene nicht im Begriffs- sondern im
Sprachmaterial incorporiert. Das bedeutet für den Empfänger: ein Verlust
an Begriffserfahrung wird durch einen Zugewinn an Sinneserlebnis aufgewo¬
gen.
Ich zitiere dazu Hans-Magnus Enzensberger: '1.. Zweitens haben diese
Techniken (gemeint sind Alliterationen und Assonanzen - d.V. ) mimetischen
Sinn. Sie werfen dem Text eine Knüpf struktur über, die das thematisch gege¬
bene Netz sprachlich wiederholt." (lO)
Während die Vokalabfolge des Textes die Indifferenz seiner Bilder,noch
nicht auflöst, eher nachbildet, baut sich aus den Konsonanten ein dinglich de¬
tailliertes Milieu auf. Eins dieser Details ist die Häufung des Lautes Ya, wo¬
rin sich, in einer Art onomatopoetischer Nachahmung, das Melkgeräusch hör¬
bar macht, - und zwar nicht das gröbere, mit welchem die Milch in den Ei¬
mer prasselt, sondern das feinere zwischen den Händen der Frau und dem
Euter der Kuh, den sie ausstreift. Die Berührung spricht sich aus.
Die Wörter inek und kadin selbst stehen klanglich in einem solchen Zusam¬
menhang, daß die Frau aus der Kuh hervorgeht; die Kuh ist "schon vorher
da", aber es steckt noch ein "Stück Kuh in der Frau": eben das K ist das bei¬
den gemeinsame Element. Mit einem der härtesten Konsonanten sind beide
seinsmäßig aneinander geschlossen. Mit einem der weichsten Konsonanten voll¬
zieht sich, nach getrennten Entwicklungswegen, die Wiederberührung. -
Soviel zu Fazil Hüsnü' s Verarbeitung des Themas zu Beginn der vierziger
Jahre. In der Sammlung 'TOPRAK ANA', erschienen 1950, legt er es in neuer
Variante vor:
Ana inege gider
Aldi sabah havasmi inek
Anam a südünü verdi.
Eksilmezdi hig, Agaran geceler degildi
agil da, Düsüncelerdi.
Soguktu dokunu^u vaktin, ellerin,
Sankt mermerdi.
Eksilmezdi hig,
Ya§li parmaklar, ses ses,
Geng memeleri emerdi.
Qayir payir, yaprak yaprak, dag dag,
Aradigi bilinmez bir yerdi.
Die Mutter geht zur Kuh
Die Kuh schöpfte Morgenluft.
Gab meiner Mutter Milch.
Nichts ging verloren.
Nicht die bleichende Nacht war in der
Hürde,
Die Gedanken waren dort.
Ksdt war die Berührung der Zeit, der
Hände,
Gleichsam Marmor.
Nichts ging verloren.
Die alten Finger - -
Molken die jungen Euter.
Weide Weide, Blatt Blatt, Berg Berg,
Was sie suchte, war eine unbekannte
Stätte.
Nichts ging verloren,
In meiner Mutter in meiner Mutter
Der Schmerz der Kuh.
Die Mutter geht zur Kuh
die kuh roch den morgen
gab meiner mutter milch
und nichts das vorbeiging
nicht bleichende nacht war im stall
sondern die sorgen
berührung von bänden und zeit
wie marmor so kalt
und nichts das vorbeiging
hin-her molken an jungen eutern
die finger alt
berg berge blatt blätter ihr grün
zum suchen und finden zu weit
und nichts das vorbeiging
in meiner mutter in ihr
die kuh und ihr leid
(freie Übertragung)
Der Text ist in drei 5-zeilige Strophen gegliedert, die Zeilen sind kurz, die
Silbenzahl unregelmäßig. Wie im zweiten Büffel-Gedicht ist auch hier die mitt¬
lere (Achsen- ) Zeile der ersten Strophe in den beiden weiteren Strophen wie¬
derholt. Der Reim ist nicht aufgegeben. Es reimen die jeweils zweite und fünf¬
te Zeile nicht nur strophenweise sondern aller Strophen miteinander. Dieser
6-fach auftretende reine Reim '-erdi' zusammen mit dem identischen Reim
'his;' hebt klanglich die Strophentrennung auf und zieht den Text zu einer
einzigen Phrase zusammen.
Zur Bilderfolge: keine 'vierzig Blumen' mehr - derlei Dinge sind für die
Kuh eine 'unbekannte Stätte' . Es fehlen überhaupt metaphorisch verbrämte
Feststellungen. Die Bilder erregen und bedeuten nicht mehr als sich selbst.
Sie sind parataktisch aneinandergefügt, d.h. sie bewegen sich nicht in hier¬
archischer Ordnung, in Haupt-, Neben-, Unter- oder Seitenfunktionen auf den
Empfänger zu, sondern in Gleichheit. Die einzige Form der Anordnung, die
ihnen das Medium Text auferlegt, ist das Nacheinander des Aussprechens.
Die Zeit, die verfließt, wenn die Phrase gesprochen wird, ist etwa die glei¬
che, in welcher der textinterne Vorgang sich abspielt: ein "verlängerter Au¬
genblick". Da allerdings weder Tag noch Ort mit Zahl und Namen benannt wer¬
den, multipliziert sich dieser Augenblick mit der Zahl aller Morgen und aller
Dörfer: dem Alltag des anatolischen Hinterlandes.
Zur Klanggestalt: Es interessiert, die dem Wortpaar des früheren Gedichtes
inek - kadin entsprechende Wortbeziehung aufzusuchen. Hier stehen die Wörter
'inek' und 'ana' . Die Identifikation der Sphären spricht sich nicht als Hervor¬
gehen des Einen aus dem Anderen aus, sondern durch paronomastische Ver-
WEindtschaft, als Ähnlichkeit. 'Ana' , ' Mutter' , entbehrt des harten K der
'kadin' ; im übrigen verbleibt als Wesensunterschied zur Kuh, daß jene sich
Eksilmezdi hip,
Anamda anamda
inegin derdi.
im palatalen, die Mutter im velaren Bereich vokalisiert. Mit dieser schon
im Titel gegebenen Polarität formieren Hell und Dunkel sich zu deutlich ge¬
schiedenen Klangfeldern, die zueinander in einem dialektischen Verhältnis
stehen. In ihnen bilden 'inek' und 'ana', jeweils als Themenwort, das se¬
mantische Zentrum, dem sich die Mehrzahl der restlichen Wörter gleicher
Färbung zuordnen. Das Vorhandensein von Zentren und Zuordnungen hebt die
Parataxe im Klangbereich auf.
Zum E/I-Feld gehören erstens die auf die Kuh direkt bezogenen Wortgrup¬
pen:
(inek) - eksilmezdi hip - genp memeleri - inegin derdi.
Zum A/l-Feld gehören erstens die auf die Mutter direkt bezogenen Wort¬
gruppen :
(ana) - anamda - yagli parmaklar.
Zweitens tragen Wörter und Wortgruppen des A/l-KompIexes Eigenschaften
des Umhüllens oder des Erwünschtseins in semsintischer Nähe zu ' Mutter' :
sabah havasi - agil - payir yaprak dag aradigi,
während sich im E/i-Komplex das Eingeschlossene, die "bittere" Realität ausspricht:
bilinmez bir yerdi - inegin derdi.
E/i und A/I stehen zueinander in einem Verhältnis, das dem von Erdkugel
zu umgebenden Weltraum vergleichbar ist.
Der Laut U erscheint eingestreut in der ersten Strophe: 'süt' und 'dü§ünce'
= 'Milch' und 'Gedanke'; flüchtige Substanzen in Klangkorrespondenz. Die
dunkelste Lautfärbung aber, O/U, wird nur einmal, zu Beginn der zweiten
Strophe gesetzt: 'soguktu dokunugu' = 'kalt war die Berührung' , nämlich die
konkrete Berührung beider Sphären . Die engste Verdichtung überträgt sich
im dunkelsten Ton der Vokalskala.
Konsonantenhäufungen treten weniger ohrenfällig auf als in den vorangehen¬
den Beispielen. Bei näherem Hinhören finden sich mehrfach M und D in pro¬
sodisoh betonten Positionen. Von den Vokalen überwiegt das A. Alle drei Laute
sind Bestandteil des Wortes ' anamda' , das damit, auch jenseits seiner Wort¬
grenze "anwesend", fermentartig die Lautstruktur des Gesamttextes mitbe¬
stimmt.
Der Wortinhalt ' ana' erhält durch seine sprachliche Manifestation ein sol¬
ches Gewicht, wie sie ihm eine Metapher schwerlich hätte verleihen können.
Jedenfalls wird hier ein anderer und neuer Weg beschritten, die Mittel des
'telaffuz kiymeti' im türkischen Sprachmaterial immer konsequenter anzu¬
wenden. Es wird auch erwartet, daß das Ohr sich ändert, das Dichtung hört.
Fazil Hüsnü Daglarca, oft als der große Einzelgänger bezeichnet, geht die¬
sen Weg zwar auf sehr persönliche Weise, aber sein Einzelgängertum ist im
Grunde nicht mehr als eine Art kreativer Distanz und in dem, was lyrisch
"zu sagen ist", im Einverständnis mit den übrigen hervorragenden türkischen
Dichtern der Gegenwart. -
Anmerkungen
1. s. Orhan Veli Kamk in seinem Vorwort zu dem Gedichtband 'Garip' von
O.V. Kanik, Oktay Rifat, Melih Cevdet Anday, erschienen 1941.
2. Yüksel Pazarkaya (Hrsg. ), Moderne Türkische Lyrik. Eine Anthologie.
Erdmann-Verlag, Tübingen u. Basel, 1971. 'Einführung' S. 26ff.
3. ebd.
4. Vgl . dazu Otto Knörrichs Formulierung - auf der Suche nach einem Ly¬
rikbegriff, der den deutschsprachigen lyrischen Produktionen der Gegen¬
wart angemessen sein könnte - : " ... Das lyrische Sprechen ist ein Wahr¬
heit produzierendes - und nicht nur reproduzierendes Sprechen " (Otto
Knörrich, Die deutsche Lyrik der Gegenwart. Alfred Kröner Verlag, Stutt¬
gart, 1971. Kap. 'Zum Lyrik-Begriff, S. 10).
5. s. Anm. 2.
6. Formulierung von Walter Benjamin, zitiert und verwendet nach: Peter
Scondi, Celan-Studien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1972, S. 18,
Anm. 5.
7. Ahmet Hagim, Les tendences actuelles de la Litterature turque. Aufsatz
in der Zeitschrift ' Mercure de France', ersch. 1. VIII. 1924. (s. Herbert
W. Duda in dem Aufsatz 'Ahmet Hagim, ein türkischer Dichter der Ge¬
genwart' . 'Die Welt des Islams' , Bd. 11, 1928, Heft 3/4).
8. Ahmet Hagim, Piyale. Gedichte. 1926. Vorwort: 'Einige Betrachtungen
über die Poesie' . Von Herbert W. Duda übersetzt und abgedruckt in sei¬
nem Aufsatz: 'Ahmet Hagim ... ' (s. Anm. 7).
9. In: Daglarca, Werke Bd. 5. Cem Yayinevi, Istanbul, 1972.
10. Hans-Magnus Enzensberger, Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts.
Suhrkamp Texte 10, 1972. S. 50.
LESERBRIEFE AN EINE POPULÄRE TÜRKISCHE GESCHICHTSZEITSCHRIFT
Von Klaus Kreiser, München
Der in der Türkei reisende Historiker tut gut daran, sein Metier für sich zu
behalten. Lange bevor mir diese Einsicht zuteil wurde, verwickelte man mich
in einer mittelanatolischen Stadt in ein Gespräch: "Sie befassen sich also mit
Geschichte? Mit türkischer? Gut. Wissen Sie, ich habe die Mittelschule be¬
sucht und verstehe mich ein wenig darauf. Ich hätte gern Geschichte studiert;
das wichtigste ist mir natürlich noch geläufig, daß es eine Steinzeit, eine Bron¬
zezeit und eine Tulpenzeit gibt ". Nun war die Situation nicht geeignet, eine
Theorie der historischen Formationen im allgemeinen und der Periodisierungs-
möglichkeiten der türkischen Geschichte im besonderen zu entwickeln, und
auch hier steht mir nicht der Sinn danach, mich ironisch über das Geschichts¬
verständnis des türkischen Volkes zu verbreiten. Daran hindert mich die Über¬
zeugung, daß das Geschichtsbild des durchschnittlichen Mitteleuropäers nicht
ausgestalteter ist als das des Türken. Die angeführte Episode eignet sich aber
vielleicht als Einleitung zu einer Betrachtung über das Interesse der Türken
an ihrer Geschichte, wobei wir uns nicht dem Problem zuwenden können, was
denn unter "ihrer Geschichte" zu verstehen sei: "Allgemeine türkische Ge¬
schichte" ( Umuml Türk Tarihi ). "Seldschukisch-Osmanisch-Republikanische
Geschichte" ( Türkiye Tarihi ) oder gar die Geschichte Anatoliens (und Ost¬
thrakiens) von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Auf keinen Fall kann
vom Schreibtisch aus der Frage nachgegangen werden, welche Elemente das
Geschichtswissen der heutigen Türken konstituieren. Eine hierfür erforderli¬
che repräsentative Befragung - deren Durchführbarkeit gar nicht erst er¬
wogen werden muß - setzte jedenfalls präzis formulierte Hypothesen über die¬
ses Geschichtswissen voraus. Wichtigste Quellengrundlage wären all jene Mas¬
senmedien, die historische Stoffe verwerten, aber auch Schulbücher, weniger
die Ergebnisse der Geschichtsforschung im engeren Sinn. In Ansätzen wird
man von einem offiziellen Geschichtsbild in der republikanischen Türkei spre¬
chen dürfen, doch lastet ein ungleich geringerer normierender Druck auf den
Bildungs- und Unterhaltungsmedien als in anderen Teilen der Welt. Gerade
letztere - Film, Roman, comic usw. - vermarkten historische Themen und ver¬
schaffen uns so Einblicke in die Erwartungshaltung des Publikums.
Mit dem "Leserbriefkasten" einer populären türkischen Geschichtszeitschrift
verfügen wir über eine Fundgrube, um unserer Frage nach dem Interesse der
Türken an ihrer Geschichte nachzugehen, zumal sich die Tarih Postasi . so
heißen die Leserbriefseiten der von uns ausgewerteten Hayat Tarih Mecmuasi
(htm) mehr oder weniger selbständig nach dem Brief-Eingang ordnen, d.h.
so gut wie jeder Schreiber auf die Veröffentlichung seines Briefs und die Be¬
antwortung wenigstens eines Teils seiner Fragen rechnen darf.
Zunächst aber ist die Hayat Tarih Mecmuasi vorzustellen: Sie ist das Re¬
nommierstück des Istanbuler Hayat -Verlages und erscheint seit Februar 1965