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Zur Vorgeschichte des Namens „Rissen".
Von Ed. König.
In den gegenwärtigen Tagen der scharfen internationalen Gegen¬
sätze wendet der Blick sich naturgemäß leicht auf die früheren
Zusammenhänge und Ausgangspunkte der Völker zurück, die sich
gegenwärtig leider so heiß befehden. Bei diesem Suchen nach alten
6 Spuren dieser Völker kommt auch die althebräische Literatur in
Betracht. Mit ihrer Hilfe meinen ja manche die früheste Geschichte
des russischen Volkes aufhellen zu können. Deshalb dürfte es zeit¬
gemäß sein , wenn dieser Frage im folgenden etwas genauer nach¬
gegangen wird.
10 Es handelt sich dabei um drei Stellen im Buche Hesekiel
(38, 2f; 39,1). In ihnen ist der Ausdruck rosch scheinbar in
einem ungewöhnlichen Sinne verwendet, und weil das Wort für
„Fürst' vorhergeht, haben seit Jahrhunderten viele gedacht, daß
mit rosch ein Volk gemeint sein müsse. So ist die Sache z. B.
15 von folgenden Übersetzern und Erklärern aufgefaßt worden : die
älteste griechische Übersetzung oder Septuaginta gab die hebräischen
Ausdrücke nesl' rosch durch „den Fürsten von Ros' wieder. Mit
ihr gingen auch Symmachus und Theodotion. Ebendieselbe Ansicht
wurde hauptsächlich von Gesenius in seinem Thesaurus (p. 1253)
80 vertreten, der nicht mit ünrecht von Wellhauset; das beste Werk
über hebräische Altertümer genannt worden ist. Ebenso übersetzten noch neuerdings Cornill, Bertholet und Rothstein *). Auf diese Seite der Ausleger stellen sich auch Brown-Driver-Briggs *) und Gesenius-
Buhl in der neuesten Auflage seines Hebr. Wörterbuchs (1915),
«6 S. 738. Diese Deutung jenes Ausdrucks rosch als einer Volks¬
bezeichnung wurde aber andererseits durch die Jahrhunderte hin¬
durch bis in unsere Tage bestritten. Welches aber wird das richtige ürteil sein?
Die Sätze des genannten Redners, in denen der fragliche Aus-
1) Cornill, Das Buch des Propheten Ezechiel: „dem Fürsten von Rosch';
Bertholet im Kurzen Handkommentar uud Rothstein in Kautzsch's Altem Testa¬
ment (.1909).
2) A Hebrew and English Lexicon (Oxford 1892—1906). p. 912.
s
König, Zur Vorgeschichte dea Namens „Russen". 93
druck rosch auftritt, lauten nach dem überlieferten hebräischen
Texte so: ,0 Menschenkind, richte dein Angesicht gegen Gog vom
Lande Magog, den nesf rosch von Meschekh und Tubal, und weissage
gegen ihn (38,2) und sprich: So hat der Allherr Jahve gesagt:
Siehe, ich werde mich gegen dich wenden, o Gog, nesi' rosch von 5
Meschekh und Tubal" (V. 3). Ganz ähnlich wird in 39, 1 gelesen :
,Und du Menschenkind, weissage usw. gegen Gog, den nesV rosch
von^eschekh und Tubal."
In diesen Sätzen bezeichnet Magog anerkanntermaßen (bei
Josephus usw.) die Skythen, die vielleicht nach einem ihrer Teile, 10
den bekannten Massageten (Herod. 1, 201. 204), den Namen Magog
bekommen haben. Nach der Ansicht mancher soll ferner auch rosch
eine Völkerschaft benennen, wie die beiden darauffolgenden Aus¬
drücke Meschekh und Tubal. Indes die letzteren beiden Wörter
treten öfter als Bezeichnungen von Völkern auf. Der erstere Name 15
Meschekh bezeichnet Volk (Gen. 10, 2 usw ) und Land (Hes. 32, 26)
der Moscher (Mööjjot , Herod. 3, 94 usw.) , nahe der südöstlichen
Küste des Schwarzen Meeres wohnend, assyrisch Muskäja, die nach
dem Fall des Cheta-Reiches über das spätere Kappadozien herrschteni).
Sodann das Wort Tubal*) meint nach allgemeiner richtiger An- 20
nähme die Tibarener, die auch von Herodot (3, 94 und 7, 78) als
TißaQTjvol hinter den Mdffjfoi genannt sind und im östlichen Teile
von Kleinasien wohnten. Bei den Assyrern heißt diese Völker¬
schaft Tabal, wie z. B. Tiglathpilesei IV. (745—727) hinter einem
Berichte über einen Kriegszug gegen die nordwestlichen Syrer neben 26
Rasunnu von Damaskus auch ,Uassurme von Tabal* als einen Tribut¬
zahler aufführt*). Dagegen das Wort rosch begegnet niemals
sonst, außer Hes. 38, 2 f. und 39, 1, neben jenen beiden Völker¬
bezeichnungen und würde nirgends außerhalb dieser drei
Stellen der Name einer Völkerschaft sein. Deshalb ist so
rosch auch an diesen Stellen mit keinem Grade von Wahrschein¬
lichkeit als Benennung einer Nation gemeint.
Dazu kommt noch folgender zweite Grund.
Der von Hesekiel an den drei zitierten Stellen anzuredende
,Gog vom Lande Magog" ist als der Beherrscher dieses erwähnten ss
Landes gemeint, wie richtig schon Raschi und David Kimchi z. St.
(in den rabbinischen Bibeln) ausdrücklich erklären: Gog ist der
Name des melekh (.König") von Magog. Kann nun der darauf¬
folgende Ausdruck nesl' den einfachen Begriff .Fürst" (von Rosch usw.)
ausprägen sollen ? Nein, denn dann würde vorher dieser Ausdruck 40
vor dem Lande Magog fehlen, aber hinterher vor anderen Ländern
gesetzt sein. Darin würde eine unnatürliche Ungleichmäßigkeit
1) Ed. Meyer, Geschichte des Altertums I, 2 (1909), § 475.
2) Gen. 10, 2; Hes. 27, 13; 32, 26; 38, 2f.; 39, 1; Jos. 66, 19.
3) z. B. hei Greßmann, Altorientalische Texte (1909), 14 oder bei Rogers, Cuneiform Parallels to the Old Testament (1912), p. 316.
94 König, Zur Vorgetchichte de» Namens „Russen".
der DarstelluDgsweise liegen. Diese Ungleichmäßigkeit ist nicht
vorauszusetzen, wenn die Worte nesl' rosch einen andern Sinn be¬
sitzen können , bei dessen Annahme jene Ungleichmäßigkeit ver¬
schwindet und die Ausdrucksweise des Propheten sich als eine ganz
6 natürliche erweist. Die beiden Worte nesi' rosch können aber den
Sinn von , Ober fürst" besitzen, und dann hat der Autor ganz
naturgemäß gesagt: ,Gog, Beherrscher vom Lande Magog und
Oberfürst von Meschekh und Tubal". Er beherrschte also direkt
Magog , aber nur indirekt Meschekh und Tubal am Schwarzen
10 Meere und im östlichen Kleinasien.
Der Sinn von ,Oberfürst" kann aber nun auch wirklich durch
die Zusammenstellung nesi' rosch ausgeprägt sein. Denn rosch
„Kopf, Spitze usw." tritt als Mittel zur Ausprägung des Superlativs
öfters auf (Ex. 30, 23 a usw in meinem Hebr. Wörterbuch, S. 426).
16 Besonders zeigt sich dies in (haf)-kohen ha-rosch „der Oberpriester"
(2 Kön. 25, 18 usw.)^).
Mit vollem Recht also ist die zweite Hauptdeutung der Worte
nesi' rosch z. B. von folgenden gewählt worden: Targum zu den
Propheten, indem es rab resch „Oberhaupt" setzt ; Aquila ; Peschitta ;
80 Vulgata : principem capitis ; Luther : der oberste Fürst ; Smend ;
Gautier *).
Mit dem Worte rosch in jenen drei Stellen ist also keine
Nation gemeint, selbst wenn ein Volk dieses Namens zur
Zeit Hesekiels und seitdem existiert hat.
26 Um das angeblich bei Hesekiel erwähnte Volk rosch in der
Wirklichkeit aufzufinden, hat man zunächst an das assyrisch-baby¬
lonische Wort raschi gedacht, das einen Distrikt in Elam, also
östlich vom mittleren Tigris, bezeichnet*). Aber dieses Gebiet lag
doch in viel zu weiter Entfernung von Skythien , als daß es ein
JO Vasallenland desselben sein konnte.
Sodann ist an die Völkerschaft der Rhoxolani oder Roxolani
erinnert worden, die zunächst von Ptolemaeus (3, 5) erwähnt werden.
Sie waren nach ihm neben den Jazygen Anwohner der Maiotis,
also des Asowschen Meeres. Auch Plinius in seiner Naturalis
86 Historia (4, 12) nennt sie, und Tacitus berichtet von ihnen beim
1) Der Einwand von 6. Jahn, Das Bucli Ezechiel usw. (1905), S. 259, daß jener Ausdruck „keine grammatische Verbindung mit dem Folgenden zu¬
lasse", erledigt sich, wenn man die in meiner Hebr. Syntax, § 275 d erwähnten und erörterten Parallelen beachten will.
2) Smend im Kurzgefaßten exegetischen Handbuch z. St.; Lucien Gautier, La mission du prophete Ezechiel, p. 311. — Übrigens mit ünrecht ist keine der beiden Hauptdeutungen anerkannt, sondern das Heil in der Änderung des Textes gesucht worden. Man hat das nesV „Fürst" gestrichen (Jahn , a. a. O.
und H. Schmidt im Auswahls-A. T., letzte Lieferung 1915, S. 447) Aber die Freunde dieser Textänderung haben es versäumt, sich die GrUnde klar zu machen, die gemäß der obigen Darlegung fUr die Richtigkeit, ja Notwendigkeit des Uberlieferten und auch von der Septuaginta geschützten Wortes nesV sprechen.
3) Friedr. Delitzsch, Wo lag das Paradies?, S. 322.
König, Zur Vorgeschichte de» Namens „Russen". 95
Jahre 823 der Stadt Eom^). Den Namen Khoxolanen haben näm¬
lich Bochart und Gesenius als eine Zusammensetzung von Rhos und
Alani angesehen*), und dies wird auch noch in neueren Kommen¬
taren ohne Einwand zitiert. Aber diese Annahme besitzt keinerlei
Sicherheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit. Denn warum hätte s
man nicht den Namen Rhosalani gelassen?
Trotzdem muß es ein altes Volk Ros im Südosten des
heutigen Rußland gegeben haben. Denn die Rhos werden im
zehnten Jahrhundert zunächst von byzantinischen Schriftstellern er¬
wähnt. Damals beschrieb Georg der Mönch, ein Geschichtsschreiber 10
des zehnten Jahrhunderts, die Rhos als eine skythische Völkerschaft
von wildem und bäuerlichem Wesen. Ebendasselbe tun Zonaras,
Tzetzes und andere, deren Worte im Original bei Gesenius im
Thesaurus a. a. 0. abgedruckt sind. Mit diesen Nachrichten stimmen
die Angaben mehrerer arabischer Schriftsteller ebenderselben Zeit it
zusammen. Denn zunächst hat Ibn Foszlän (um das Jahr 921 n. Chr.)
ein Volk namens Rüs«) genannt, das am Ufer der Wolga wohne
und zahlreich und kriegerisch sei*). Andere arabische Autoren, wie
z. B. Abulfedä, zählen dieses Volk zu den Bulgaren, Slawen oder
Türken und sagen, daß es mit den Alanen und Georgiern (also im 20
Kaukasus) verwandt sei. Der Umstand, daß eine solche Völker¬
schaft gerade seit dem zehnten Jahrhundert von verschiedenen Ge--
Schichtsschreibern erwähnt wird, muß daher rühren, daß diese
Völkerschaft damals in den Bewegungen der Nationen stark hervor¬
getreten ist und dadurch die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Der 25
erneuerte Hinweis auf diese alte Völkerschaft Ros ist das erste
Moment, mit dem ich in die bisherige Diskussion eingreifen möchte.
Daran reiht sich aber sogleich ein zweites Moment, näm¬
lich daß dieses allerdings existierende Volk Ros nichts mit dem
Namen und dem Volke der „Russen' zu tun haben kann. Die so
NichtZusammengehörigkeit jener alten Völkerschaft Ros mit „Russen"
ist nach meiner Ansicht aber folgendermaßen begründet.
Der Name Rus ist nach allem, was man bis jetzt erforscht
hat*), den Schweden oder Normannen von den Finnen beigelegt
worden und eignete infolgedessen auch den Warägern Rurik und ss
und seinen Genossen, die im neunten Jahrhundert von den Slawen
aus dem Norden herbeigerufen wurden, damit sie eine Dynastie
1) Tacitus. Historiae, 1, 79: „Um so küliner liatten die Rliozolanen, eine sarmatisclie Völkerschaft, im vorhergehenden Winter zwei Kohorten nieder¬
gemacht und waren dann mit großen Hoffnungen in Mösien (Bulgarien) ein¬
gedrungen."
2) Die hei Gesenius im Thesaurus, p. 1253 stehende Form Rozalani, also mit a hinter dem x, ist unrichtig.
3) Senkung oder Verdumpfung eines ö zu ü ist ein häufigerer Vorgang (mein Lehrgebäude II, S. 484).
4) Vgl. Hammer, Origines Kusses (St. Petersbourg) 1827.
5) Die beste Quelle ist immer noch W. Thomsen, Der Ursprung des
russischen Staates, aus dem Englischen übersetzt von Bomemann (Gotha 1879).
9 «
96 König, Zur Vorgetchichte des Namens „Russen".
unter ihnen gründeten. Von den normannischen WarUgern ging die
Bezeichnung Btis auf den Staat über, der sich in der zweiten Hälfte
des neunten Jahrhunderts von dem Zentrum Kiew aus entwickelte,
und auf dessen Bevölkerung. Im elften Jahrhundert verbreitete
6 sich der Name auch nach Wolhynien und anderen Distrikten. Dieser
Ausdruck Rus kann also aus mehr als einem Grunde nicht mit
dem Namen Rhos (Ros usw.) identisch sein, der gemäß den obigen
Darlegungen im zehnten Jahrhundert als die Bezeichnung einer
Völkerschaft mehrfach erwähnt wird. Denn diese Völkerschaft hatte
10 ihre Wohnsitze weiter im Osten und sie war mit den Skythen ver¬
wandt, und ihre Bezeichnung Rhos oder Ros oder Rus (bei den
erwähnten arabischen Autoren) ging von dem betreffenden Volke
selbst aus. Dagegen der Ausdruck Rus, von dem der durch Rurik
gegründete russische Staat und dessen Bevölkerung ihre Bezeich-
15 nung bekommen haben, stammt, um es noch einmal zu betonen,
vom Norden her und ist erst allmählich auf Teile der Slawen über¬
tragen worden.
Möge dieser Beitrag zur Lösung schwieriger Fragen auch andere zur Mitarbeit anregen !
9 *
97
Die Scholien des Barhebraeus zu Exodus.
Von Siegbert Pincng.
(Schluß.) Kapitel XXVIII.
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2) > SPs; pgs: iLji. J,Q=1.
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*) > pgs; S: „^1Q2»0, b:
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») > BH ; ebenso Sept und F : xal xi-T&va Koaofißaröv, bei b da¬
gegen steht - A ^-\vtrsnrtin n % hinter jNSuyDO.
«) > BHu; 11': ^0=5^.
Zeitichrift der D. H. a. Bd. 70 (1916).
') > BHau; bei 11 steht ^äop vor ^aüjJD.
*) ^ S Ps ; pgs haben noch :
hinter ^OC^J.
*) > S; pgs: fcXö»j, b:
jLLdS^ ; Sept und F haben hier :
avvixövaca heQa vrjv stegav, die letzten drei Worte fehlen nach F in einigen Codices entsprechend der Sh, die dafür nach b P folgende Rand¬
note hat: jLv««/ ^ Jl-V-/ \*^)?'
") > S; pg: j^.^jjy, s:
Jjs^j^XJODJ, b: Jj^^JQQojy, Sept und F : Ofia^dyöov.
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