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(1)

Diskussion 379 nähren. Ferner muß man auch bei der Frage der

ländlichen Überbevölkerung die Klassenverhältnis­

se in Rechnung stellen: Je größer der Teil der landwirtschaftlichen Produktion, den sich etwa Großgrundbesitzer oder Feudalherren aneignen, desto geringer ist die Zahl derjenigen, die von der Landwirtschaft leben können. Da einige der Län­

der, in denen die Ausbeutung der landwirtschaft­

lichen Produzenten besonders hoch ist, auch zu den relativ stark urbanisierten unter den „neuen Nationen“ gehören (z. B. die meisten Feudalstaaten des Nahen Ostens, einige der durch extrem ausge­

breiteten Großgrundbesitz gekennzeichneten Staaten Lateinamerikas — vgl. FLORA , S .96), kann auch hier die hohe Urbanisierungsrate trotz relativ niedri­

ger ländlicher Bevölkerungsdichte, ja ev. sogar trotz relativ hoher landwirtschaftlicher Produktion durch ländliche Überbevölkerung mitbedingt sein.

Schließlich ist daran zu erinnern, daß es in vielen

„neuen Nationen“ auch „Städte“ (Gemeinden mit mehr als 20 000 Einw.) gibt, die vorwiegend von der Landwirtschaft leben. Ländliche Überbevölke­

rung drückt sich zum Teü gerade darin aus; aber in den Statistiken erscheint dies als „Urbanisie­

rung“ .

Natürlich ist nicht alles „Überbevölkerung“ : Ein Teü der „Überurbanisierung“ der „neuen Natio­

nen“ ist sicher auch auf Phänomene wie Zwangs­

rekrutierung von Arbeitskräften für die Industrie­

gebiete (z.B. in Katanga, Rhodesien, Südafrika) zurückzuführen — was FLORA nicht sieht. Sicher hat außerdem die Propaganda in den Massenme­

dien die Städte in einem Glanz erscheinen lassen, der Teüe der Bevölkerung dorthin lockte. Wie aber FLORA den Faktor Massenmedien behan­

Ein Exempel aus deutscher Provinz Replik auf G. Hauck

(1) Der archaische Zustand gesamtgesellschaft­

licher Entwicklungsanalyse oder vom Glanz und Elend der Programmatiker1

Die Renaissance der Makrosoziologie in den west­

lichen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg hat vor allem in zwei Strömungen der Theoriebüdung ihren Ausdruck gefunden: in den Modernisierungs­

theorien, die eine Domäne der amerikanischen Soziologie darstellen, sowie in den rivalisieren­

den Theorien, die der marxistischen Tradition

delt, ist absurd. „Die vielleicht beste Erklä­

rungsmöglichkeit bietet die Interpretation der beschleunigten Urbanisierung als Folge rapide wachsender Erwartungen der Landbevölkerung, die weitgehend auf die sprunghaft zunehmende Verbreitung der Massenmedien zurückzuführen

sind“ (S. 100). Die Massen verlangen zuviel, daher die „Überurbanisierung“ mit all ihren üblen Fol­

gen! Und so wird die These bewiesen: Ein Ver­

gleich verschiedener Ländergruppen aus der Drit­

ten Welt ergibt, daß die Urbanisierungsrate immer dort hoch ist, wo auch die Zahl der Radios pro Kopf der Bevölkerung hoch ist, und immer dort niedrig, wo auch diese Zahl niedrig ist. Der so­

ziologisch nicht verbüdete Leser hätte angenom­

men, daß es in den Städten (und deren Umge­

bung) eben mehr Radios gibt als im Hinterland, und daß deshalb eine hohe Urbanisierungsrate Ursache für eine hohe Anzahl von Radios pro Kopf der Bevölkerung ist. FLORA aber sieht ganz selbstverständlich in der Zahl der Radios die Ur­

sache, in der Urbanisierung die Folge — und be­

legt dies nicht einmal.

Fazit: Die schönste und größte Datensammlung (wie die von ZAPF und FLORA) nützt nichts, wenn man nicht historisch-materialistisch unter­

sucht, was die einzelnen Daten im jeweüigen so- zio-ökonomischen Kontext zu bedeuten haben.

GERHARD HAUCK,

Institut für Soziologie und Ethnologie der Universität Heidelberg, 69 Heidelberg, Hauptstraße 126

verpflichtet sind. Während nun der Marxismus in den letzten Jahren in der BRD eine bemer­

kenswerte Wiederbelebung feiern konnte, hat die Modernisierungsforschung vergleichsweise gerin­

1 Um diese Auseinandersetzung in einen etwas weiteren K ontext zu stellen, sollen hier einige allgemeine Be­

merkungen über die gesamtgesellschaftliche Entwick­

lungsanalyse und die Rezeption der Modernisierungs­

forschung in Deutschland, sowie einige spezifischere Anmerkungen zu dem Aufsatz von G. BRANDT (1972) über dieses Thema im ersten Heft dieser Zeit­

schrift vorangestellt werden.

(2)

ges Interesse geweckt. Sieht man von den weni­

gen direkten Beiträgen (ZAPF 1967, HEINTZ 1969) einmal ab, so ist die Modernisierungsfor­

schung vorwiegend zum Gegenstand ideologie­

kritischer Analysen (SCHUHLER 1968, BÜHL

1970) gemacht worden2. Diese begrüßenswerte und vielfach berechtigte Kritik ist allerdings, wie manches hierzulande, im Grundsätzlichen steckengeblieben. Das ist um so bedauerlicher, wenn man dazu neigt, sich dem Urteil von w . L.

BÜHL in seiner Diskussion der Entwicklungstheo­

rien anzuschließen: „Wenn sich ein großer Teil der . . . Kritik gegen die amerikanische Soziolo­

gie richtet, so nur deshalb, weil allein hier kri­

tisierbare Theorien vorliegen“ (1970: 32).

Jenseits inhaltlicher Differenzen, die besonders das Vorverständnis der Entwicklungsproblematik betreffen, unterscheidet sich die Modernisierungs­

forschung von der marxistischen Theoriebildung vor allem durch ihre geringere theoretische Ge­

schlossenheit, die sie widersprüchlicher aber auch entwicklungsfähiger macht, sowie durch den Reich­

tum einer vergleichenden empirischen Forschung mit klarem zeitlich-räumlichen Bezug.

Die theoretische Inkohärenz der Modernisierungs­

forschung erleichtert mißverständliche Verallge­

meinerungen. Ein neueres Beispiel dafür bietet der anregende Artikel von G. BRANDT (1972) im ersten Heft dieser Zeitschrift. Da BRANDT wesentliche Teile der Modernisierungsforschung, insbesondere die Literatur über die politische Mo­

dernisierung3 , nicht berücksichtigt, gelangt er m .E. zu etwas irreführenden Schlüssen, unter denen zwei herausragen:

(a) er interpretiert die Modernisierungstheorien

„als Versuch, die nicht-ökonomischen Bedingungen der industriellen Entwicklung systematisch zu er­

fassen“ (S. 6);

2 Sicher sind hier einige wichtige Arbeiten übersehen worden, wofür ich mich schon im voraus entschuldigen möchte. Eine Reihe von Analysen (HABERMAS 1962, DAHRENDORF 1965, BEHRENDT 1965, HOND- RICH 1970) sind keiner dieser beiden Strömungen im engeren Sinne zuzurechnen.

3 Darunter fallen vor allem die sieben ,Studien zur po­

litischen Entwicklung’, die zwischen 1963 und 1971 von der Forschergruppe G.-A. ALMOND und L.W.

PYE herausgegeben wurden, daneben aber die gesamte, kaum noch zu überschauende Literatur über die Staaten- und Nationbildungsprozesse.

(b) er sieht in den „Antizipationen der Moder- nisierungsforschung“ einen „technokratischen Typus vollendeter Selbststeuerungs- und Anpas­

sungskapazität“ angelegt (S. 12).

Der erste Schluß stellt ein grundlegendes Miß­

verständnis der Modemisierungsforschung dar, deren zentrales Ziel gerade darin besteht, über die begrenzte Frage nach den Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen der Industria­

lisierung hinauszugehen. Indem sie von einer Mehrdimensionalität der Modernisierung und zu­

nehmend auch von einer sehr variablen, histo­

risch zu bestimmenden Interdependenz der Pro­

zesse ausgeht, ist es ihr beispielsweise möglich, auch den ^Prozeß der Demokratisierung4 systema­

tisch zu erfassen, der in einer ,Industrialisierungs­

theorie4, so ,reflektiert4 sie auch sein mag, ein theoretisches Anhängsel bleiben muß (vgl. S. 13).

Der zweite Schluß oder besser Vorwurf ist zwar für einen Teü der Modernisierungstheorien durch­

aus berechtigt, es wird dabei jedoch übersehen, daß das Wachstum der Kapazitäten keineswegs ausschließlich die Beziehungen des sozialen Sy­

stems zu seiner Umwelt, das adaptive Subsystem in der Sprache PARSONS, betrifft, sondern auch den politischen Willensbildungsprozeß im Ver­

hältnis der drei anderen Subsysteme und damit auch die »Demokratisierung4, wie schon die Ka­

tegorie einer »responsive capacity4 andeutet; dar­

über hinaus wird übersehen, daß eine ganze »Schu­

le4 der Modernisierungsforschung von einer prin­

zipiellen Mehrdeutigkeit und Unabschließbarkeit des Modernisierungsprozesses ausgeht, den sie durch ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Wachstum der Kapazitäten, dem Prozeß sozialer Differenzierung und den Imperativen der Gleich­

heit gekennzeichnet sieht ( BINDER u.a. 1971).

Abgesehen von diesen prinzipiellen Mißverständ­

nissen weist BRANDT jedoch auf offensichtliche Schwächen eines großen TeÜs der Modernisierungs­

theorien hin, die vor allem die Analyse der natio­

nalen und internationalen Herrschaftsstrukturen betreffen. Hier ist sein Vorschlag eines Integra­

tionsversuches überzeugend; er setzt allerdings eine eingehendere Rezeption und Diskussion der Mo- demisierungstheorien voraus.

Vielleicht noch wichtiger als diese theoretische Diskussion ist — pardon! - eine Auseinanderset­

zung mit der empirischen Modernisierungsfor­

schung. Seit Beginn der 60er Jahre sind die Be­

mühungen, der Makrosoziologie eine empirische Grundlage zu schaffen (vgl. z. B. European Poli­

(3)

Diskussion 381 tical Data: Newsletter 197 lf.), sowie ihre metho­

dologischen Probleme zu lösen (vgl. z.B. DOGAN/

ROKKAN 1969, NOWOTNY 1969, LAZARSFELD 1970), enorm gewachsen. Diese Anstrengungen bedeuten zwar nicht den ,großen Sprung vor­

wärts4, sie werden jedoch den archaischen Zu­

stand der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungs­

analyse beenden, deren wissenschaftliche Dürftig­

keit bisher nur durch den Glanz einzelner »Heroen­

gestalten4 überstrahlt wurde.

Eine breit angelegte empirische Entwicklungsana­

lyse erfordert zweifellos ein großes Maß an wis­

senschaftlicher Arbeitsteüung und schrittweiser Akkumulation, wodurch die »großen Fragen4 not­

wendig etwas in den Hintergrund der alltäglichen Arbeit gedrängt werden. Es ist daher verständlich, daß gerade dort der Widerstand gegen diese Be­

mühungen am größten ist, wo sich synthetische Intentionen der Theoriebildung mit dezidierten po­

litischen Absichten verbinden. Da jedoch die poli­

tisch motivierten »Gegenentwürfe4 die theoreti­

sche Geschlossenheit über die empirische Beweis­

barkeit stellen, gelangen sie selten über program­

matische Versprechen hinaus. Nun sollten Program­

matiker sicher eine Schutzfrist genießen, aber kei­

nen Denkmalsschutz. Diese Regel wird hierzulan­

de allerdings dadurch außer Kraft gesetzt, daß ge­

rade die Teilnahme an den ritualisierten Grund­

satzdiskussionen, diesen permanenten Firstfeiern gegensätzlicher Standpunkte, akademischen Lor­

beer garantiert.

Soviel zum Kontext meines Aufsatzes als auch der Kritik von G. HAUCK. Aus der Fülle von Vorwür­

fen sollen hier drei herausgegriffen werden, die mir zentral erscheinen: das Problem des Kontex­

tes quantitativer Daten; das Problem des Kolonia­

lismus und schließlich das Problem des Konserva­

tismus.

(2) Daten und Kontexte

Mein Aufsatz im zweiten Heft dieser Zeitschrift stellt den bescheidenen Versuch dar, quantitati­

ve Daten über die Urbanisierung und Alphabeti­

sierung zwischen 1850 und 1965 zu sammeln, um einen Eindruck über die Größenordnung und Zu­

sammenhänge dieser beiden elementaren Prozesse zu gewinnen. Ein zentrales Problem solcher Ver­

suche wird von G. HAUCK klar erkannt:

Da werden . . . naiv Daten aus den unterschiedlichsten historischen und sozio-ökonomischen Epochen statistisch

aggregiert, ohne daß man sich auch nur die Frage vor­

legt, ob sie in verschiedenem historischen K ontext nicht durchaus verschiedene Bedeutung haben könnten (S. 377).

Dieses Problem konnte in dem Aufsatz keines­

wegs befriedigend gelöst werden, die Frage wurde allerdings vorgelegt:

. . . bei den meisten makrosoziologischen Indikatoren liegt . . . das hauptsächlichste Interpretationsproblem in ihrer Mehrdeutigkeit, die auf die Vielfalt ihrer em­

pirischen Korrelate zurückzuführen ist. Jede Analyse, die vorwiegend quantitative Daten für Prozesse in sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten verwendet, muß daher von Annahmen über diese Korrelate ausgehen, die oft nicht mehr als eine vage Plausibilität beanspru­

chen können (S. 89).

Dieses Problem ist so alt wie die empirische So­

zialforschung und bei komparativen historischen Analysen natürlich besonders akut. Nicht zufäl­

lig hat die »Kontextanalyse4 in den letzten Jahren in der methodologischen Diskussion stark an Be­

deutung gewonnen (vgl. z.B. BOUDON 1 9 7 1 ).

P. BOURDIEU (1967) unterscheidet in der Behand­

lung dieser Problematik zwei Extrempositionen:

einen »comparatisme abstrait4, der auf die Akku­

mulation und statistische Analyse von »chiffres decontextualises4 gerichtet ist, und eine »ideogra­

phic intuitionniste4, für die praktisch jeder Ver­

gleich einer Zerstörung des Vergleichsgegenstan­

des in seiner kulturellen Bedeutung und sozialen Besonderheit gleichkommt.

Die Lösung dieser Problematik ist in der Typi­

sierung von historisch und regional begrenzten Kontexten zu suchen, in denen quantitative Da­

ten eine spezifischere und doch vergleichbare »Be­

deutung4 erhalten. Dies wurde, wenn auch auf sehr einfache Weise, in der Diskussion des Mo­

dells von K. DEUTSCH .(S. 101 f.) versucht. Die Typisierung von Kontexten bedeutet jedoch kei­

neswegs einen Verzicht auf quantitative Daten, sondern vielmehr die Notwendigkeit, auch über diese Kontexte systematisch Informationen zu sammeln und zu standardisieren.

Neben der bloßen Beschreibung der beiden Pro­

zesse wurden auch, soweit es die Daten zuließen,

„Vermutungen über einige mögliche Ursachen und Konsequenzen44 (S. 97) angestellt, an denen sich dann, so HAUCK, der „vorkritische Positivismus

. . . in all seiner Naivität und Gefährlichkeit“

(S. 378) zeigte. G. HAUCK verweist mit Recht dar­

auf, daß die vorgeschlagenen Erklärungen äußerst

(4)

unvollständig sind, die vermuteten Ursachen nicht weiter hinterfragt werden, daß die Erklärungen vielfach nicht einmal für alle Länder belegt wer­

den können und zumindest regional spezifiziert werden mußten, und daß es sich schließlich oft nur um Korrelationsbeziehungen handelt. Zwei­

fellos muß versucht werden, diese Schwächen in der weiteren empirischen Forschung Schritt für Schritt zu beheben, nur: sie können nicht durch frisch-fröhliche Gegenbehauptungen aus der Welt geschaffen werden, die auf jegliche empirischen Belege verzichten. Unter den vielen unbewiese­

nen Behauptungen soll hier eine herausgegriffen werden, die in der neo-marxistischen Literatur, in verschiedenen Varianten, eine prominente Stellung einnimmt: die Behauptung nämlich,

„daß die Kolonialmächte die schulische Ausbil­

dung breiterer Bevölkerungsschichten in den heu­

te ,neuen* Nationen bewußt verhinderten, um ihre politische Herrschaft und die ökonomische Ausbeutung der Kolonien nicht zu gefährden“

(S. 378).

(3) Über den Mythos des Kolonialismus Die Überprüfung dieser Behauptung muß von zwei Tatsachen ausgehen: zum einen davon, daß eine breitere Alphabetisierung nur in Europa mehrere Jahrhunderte zurückzuverfolgen ist. So schätzt C. CIPOLLA (1969), daß zu Ende des 17.

Jahrhunderts im protestantischen Europa unge­

fähr 35 bis 45% der Erwachsenen wenigstens le­

sen konnten und im katholischen Europa unge­

fähr 20 bis 30%; gleichzeitig vermutet er, daß diese Prozentsätze um 1600 nicht wesentlich niedriger lagen. Den zweiten Ausgangspunkt bil­

det die begründete Annahme, daß kein Kolonial­

land zur Zeit seiner Unterwerfung eine Alpha­

betisierungsrate von mehr als 1 0% hatte.

Die Frage, ob die europäischen Kolonialmächte eine raschere Bildungsentwicklung in den Kolo­

nien verhinderten, läßt sich nur spekulativ be­

antworten, da die Kolonialreiche im Laufe der Entwicklung 85% der Erdoberfläche (FIELDHOUSE

1965) unfaßten und damit eine größere Kontroll- gruppe fehlt. P. BARAN hat allerdings die dahin­

ter stehende, allgemeinere Frage in einem etwas simplen Vergleich der indischen und japanischen Entwicklung (1965: 240—262) entschieden be­

jaht und das ist nicht ohne Nachwirkungen ge­

blieben. Er hat dabei übersehen, daß Japan als einziges Land seit ca. 1600 eine den europäischen

Ländern vergleichbare Entwicklung nahm, insbe­

sondere im Bereich der Bildung (vgl. DORE 1 9 65).

Sehr vereinfacht läßt sich vielleicht behaupten, daß Japan sich nicht deshalb schneller entwickel­

te, weil es von kolonialer Herrschaft frei blieb, sondern vielmehr, daß es seine Unabhängigkeit behaupten konnte, weil es bereits stärker ent­

wickelt war. Im übrigen haben die anderen nicht­

europäischen Länder, die als Pufferzonen der Kolonialreiche oder aus anderen Gründen eine relative Unabhängigkeit wahrten (Thailand, Afgha­

nistan, Persien, Türkei, Äthiopien), keineswegs eine raschere Entwicklung gezeigt.

Die erste Kolonisierungsphase bis zur Amerika­

nischen Revolution bzw. zu den Befreiungskrie­

gen in Südamerika bietet wenig Anhaltspunkte für die hier untersuchte Behauptung. In Nord­

amerika verlief die Alphabetisierung viel schnel­

ler als in den Mutterländern*, und der Analpha­

betismus in Spanien und Portugal war kaum ge­

ringer als in ihren lateinamerikanischen Kolonien.

Die unterschiedlichen Entwicklungen in Latein­

amerika nach 1850 dürften sich vor allem aus dem unterschiedlichen Ursprung und Ausmaß der Einwanderung erklären, wie die überraschend enge Korrespondenz mit der südeuropäischen Al­

phabetisierung nahelegt4.

In der zweiten Kolonisierungsphase, die mit der Eroberung des indischen Kontinents nach 1750 einsetzte, sind die Zusammenhänge komplizierter und widersprüchlicher. Hier spielen unter ande­

rem die Unterschiede in der Größe der Länder, im Zeitpunkt der Unterwerfung und in der Kolo­

nialpolitik eine Rolle. Während beispielsweise die Analphabetenrate in Indien zwischen 1901 und

1951 trotz relativ großer Anstrengungen seit 1848 - um 1892 gab es ungefähr 2.8 Millionen Primärschüler in ca. 100.000 staatlich subventio­

nierten Schulen (LEVASSEUR 1897) — nur von 93.5% auf 80.7% gesenkt werden konnte, war die Entwicklung der Primärbildung in einigen kleine­

ren Ländern bis zum Zeitpunkt ihrer politischen Unabhängigkeit sehr bemerkenswert: die Anal­

phabetismusrate betrug in Ceylon 1946 42.2%,

#uf den Philippinen 1948 40.0%, im Burma 1950 40—45% und in Malaysia 1957 52.5%. Dies ent­

spricht ungefähr den Raten von England, Frank­

reich und Belgien um 1850. Es ist zu vermuten, wenn auch kaum zu beweisen, daß im Vergleich 4 Vgl. hier und im folgenden die Zeichnungen und Ta­

bellen meines Aufsatzes.

(5)

Diskussion 383 dazu die wirtschaftliche Entwicklung in den drei

Ländern viel weiter fortgeschritten war. Der er­

staunlichen Alphabetisierung in einzelnen Kolo­

nien steht die Stagnation in anderen asiatischen Ländern gegenüber, insbesondere in Indochina, das am ehesten ein Beispiel für die bewußte Ver­

hinderung einer stärkeren Bildungsentwicklung bieten dürfte. Die afrikanischen Länder schließ­

lich, die viel später einer kolonialen Herrschaft unterworfen wurden und noch heute Analpha­

betismusraten von 75 und mehr Prozent haben, bieten wenig Ansatzpunkte für die Vermutung, daß sie sich in politischer Unabhängigkeit schnel­

ler entwickelt hätten. Eine Sonderstellung nehmen hier allerdings die Länder mit einer starken wei­

ßen Minorität wie in Algerien und Südafrika ein.

Um nicht vollkommen mißverstanden zu werden:

es geht hier nicht um ein Loblied auf den Kolo­

nialismus, sondern allein um die Frage, ob man es akzeptabel findet, daß moralische Pauschalur- teüe, die den Kolonialismus zu einem alles erklä­

renden Mythos stüisieren, an die Stelle sozialwis­

senschaftlicher Forschung treten.

(4) Mobüisierung, Institutionalisierung und Konservatismus

Die Beschleunigung der Urbanisierung und der BÜdungsexpansion auf der sekundären Stufe in den ,neuen4 Nationen hat die Probleme der Mo­

büisierung, der Institutionalisierung politischer Beteüigung und der politischen Stabilität in den Vordergrund des Interesses gedrängt. Schon Le­

nin hat sich in seiner Theorie vom Supremat der Partei eingehend mit diesen Problemen be­

schäftigt. „Leninism is a theory of political de­

velopment. It deals with bases of political mobi­

lization, the methods of political institutionali­

zation, the foundations of public order44(HUNT­

INGTON 1968: 342). Der Vorwurf des Konser­

vatismus, den HAUCK erhebt, kann sich sinnvol­

lerweise nicht auf die Behandlung der allgemei­

nen Problematik, sondern allenfalls auf spezifi­

sche ,Lösungen4 beziehen. Die Analyse der po­

litischen Stabüität ist von zentraler Bedeutung, unter anderem deshalb, weü diese eine notwen­

dige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für „Werte wie Büdung und Demokratisierung der Gesellschaft“ ist; sie ist legitim, soweit sie nicht ausschließlich und losgelöst vom struktu­

rellen Kontext und historischen Entwicklungszu­

sammenhang diskutiert wird.

(5) Die Sprache des Staatsanwalts

Eine kleine Nachbemerkung zum Ton und Stü der Auseinandersetzung: sicher stellt es einen großen Fortschritt dar, wenn heute die Aggres­

sivität in wissenschaftlichen Diskussionen nicht mehr formelhaft verkleidet wird; nicht ohne Iro­

nie ist es jedoch, wenn in zunehmenden Maße von neo-marxistischen Autoren in staatsanwält- licher Attitüde die ,Gemeingefährlichkeit4 von

,feindlichen4 wissenschaftlichen Arbeiten ange­

prangert wird. Etwas ärgerlicher ist es, daß sich diese Attitüde auch auf die Art der Beweisführung überträgt, in der die Worte vielleicht4, »möglich4,

»wahrscheinlich4 keinen Platz mehr haben, und in der ,ein Blick ins Kommunistische Manifest4

eine weitere Argumentation überflüssig macht.

Die Exegeten der HeÜigen Schriften sind sicher um eines zu beneiden: von Zweifeln scheinen sie nicht geplagt zu sein. Man könnte allerdings der altmodischen Ansicht sein, daß skeptische Fra­

gen der Wissenschaft einen Anfang setzen und fixe Antworten ihr ein Ende bereiten.

LITERATUR

BARAN, P.A., 1966: Politische Ökonomie des wirtschaft­

lichen Wachstums. Neuwied und Berlin: Luchterhand.

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LEVASSEUR, E., 1897: L’Enseignement Primaire dans les Pays Civilises. Paris: Berger-Lerraut.

E in P lä d o y er gegen „F orm alisieru n g“

In seinem Aufsatz „Zur Problematik der Ableitung in sozialwissenschaftlichen Aussagensystemen. Ein Plädoyer für Formalisierung“ in der Zeitschrift für Soziologie, Heft 1, 1 9 7 2 schlägt HUMMEL vor, die den Schlüssen mit bestimmten sozialwissen­

schaftlichen Hypothesen „zugrundeliegende Logik (zu) erweitern, so daß es möglich wird, die ge­

meinten empirischen Zusammenhänge in einer Weise auszudrücken, die bei Anwendung bestimm­

ter Deduktionsregeln nicht zu Widersprüchen führt“ . (S. 38; meine Hervorhebung)

1. Im ersten Teü seines Beitrags versucht HUMMELL zu zeigen, wie ein solcher Widerspruch bei „deter­

ministischen Je-Desto-Aussagen“ entsteht. Da für die Ableitbarkeit von Widersprüchen nur die Syn­

tax der Prämissen, nicht aber ihre Interpretation entscheidend ist, brauchen wir auf die Deutung der im folgenden zitierten Aussagen nicht einzu­

gehen.

1.1. Aus den Aussagen (die Variablen sind durch Allquantoren gebunden, die HUMMELL der Ein­

fachheit halber nicht mitführt)

1) z(x) < z(y) -* r(x) < r(y) und

2) r(x) < r(y) -* k(x) < k(y)

wird korrekt nach dem Gesetz der Transitivität der Subjunktion

3) z(x) < z(y) k(x) < k(y)

abgeleitet. Daran schließt sich folgende Argumen­

tation an, für die sich, wenn man sie nur auf solch einfache Beispiele bezieht, eine Interpretation finden läßt, nach der sie korrekt ist: ,Allgemein ist es im Falle der Zusammenhänge von kompara­

tiven Begriffen in Form von Ketten möglich, die

NOWOTNY, H.M., 1969: Procedures o f Macro sociologi­

cal Research. Unveröff. Dissertation. Columbia Uni­

versity.

SCHUHLER, C., 1968: Politische Ökonomie der armen Welt. München: Trikont.

ZAPF, W., 1967: Materialien zur Theorie des sozialen Wandels. Als Manuskript vervielfältigte Habilitations­

schrift. Konstanz.

PETER FLORA, M.A.

Universität Frankfurt, Fachbereich Gesellschafts­

wissenschaften, 6 Frankfurt/M.

Vorzeichenregel zu rechtfertigen: man nenne eine monotone ordnungserhaltende Funktion (gleichsinnige Verknüpfung von relationalen Eigen­

schaften) positiv und ordne ihr als Vorzeichen (Signum) +1 (abgekürzt: +) zu; man nenne eine ordnungsinvertierende Funktion (gegensinnige Verknüpfung) negativ und ordne ihr als Signum - 1 (abgekürzt: - ) zu. Wenn aus zwei Je-Desto- Aussagen nach Reformulierung gemäß der Tran- sitivitätsregel für Wenn-Dann-Aussagen eine dritte Je-Desto-Aussage deduzierbar ist, gilt: das Signum der deduzierten Aussage ist gleich dem Produkt der Signa der beiden vorausgesetzten Aussagen.

Da die ProduktbÜdung assoziativ ist, ist damit das Signum einer deduzierten Aussage bei einer beliebigen Menge von postulierten Aussagen defi­

niert, sofern letztere eine Kette bilden“ (S. 37).

Die Einführung zweier weiterer Prämissen 4) und 5), wovon eine (4) einen „negativen Zusammen­

hang“ zwischen der Wenn- und der Dann-Kompo- nente der Subjunktion behauptet, soll dann die Ableitung eines Widerspruchs ermöglichen.

4) z(x) < z(y) -* i(x) > i(y)

5) i(x) < i(y) -*■ k(x) < k(y)

„Wenden wir die Schlußregel der Aussagenlogik (Transitivität der Subjunktion, H.K.) und insbe­

sondere die daraus folgende Vorzeichenregel auf (4) und (5) an, so erhalten wir:

6) z(x) < z(y) -» k(x) > k(y)“ (S. 37).

Wenn nun z(x) < z(y) nicht für alle Paare (x, y) falsch ist, läßt sich die Kontradiktion k(x) < k(x)

. k(x) > k (y ) ableiten.

1.2. Die Ableitung dieser Kontradiktion muß aber entgegen HUMMELLS Darstellung nicht durch ir-

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