Diskussion 379 nähren. Ferner muß man auch bei der Frage der
ländlichen Überbevölkerung die Klassenverhältnis
se in Rechnung stellen: Je größer der Teil der landwirtschaftlichen Produktion, den sich etwa Großgrundbesitzer oder Feudalherren aneignen, desto geringer ist die Zahl derjenigen, die von der Landwirtschaft leben können. Da einige der Län
der, in denen die Ausbeutung der landwirtschaft
lichen Produzenten besonders hoch ist, auch zu den relativ stark urbanisierten unter den „neuen Nationen“ gehören (z. B. die meisten Feudalstaaten des Nahen Ostens, einige der durch extrem ausge
breiteten Großgrundbesitz gekennzeichneten Staaten Lateinamerikas — vgl. FLORA , S .96), kann auch hier die hohe Urbanisierungsrate trotz relativ niedri
ger ländlicher Bevölkerungsdichte, ja ev. sogar trotz relativ hoher landwirtschaftlicher Produktion durch ländliche Überbevölkerung mitbedingt sein.
Schließlich ist daran zu erinnern, daß es in vielen
„neuen Nationen“ auch „Städte“ (Gemeinden mit mehr als 20 000 Einw.) gibt, die vorwiegend von der Landwirtschaft leben. Ländliche Überbevölke
rung drückt sich zum Teü gerade darin aus; aber in den Statistiken erscheint dies als „Urbanisie
rung“ .
Natürlich ist nicht alles „Überbevölkerung“ : Ein Teü der „Überurbanisierung“ der „neuen Natio
nen“ ist sicher auch auf Phänomene wie Zwangs
rekrutierung von Arbeitskräften für die Industrie
gebiete (z.B. in Katanga, Rhodesien, Südafrika) zurückzuführen — was FLORA nicht sieht. Sicher hat außerdem die Propaganda in den Massenme
dien die Städte in einem Glanz erscheinen lassen, der Teüe der Bevölkerung dorthin lockte. Wie aber FLORA den Faktor Massenmedien behan
Ein Exempel aus deutscher Provinz Replik auf G. Hauck
(1) Der archaische Zustand gesamtgesellschaft
licher Entwicklungsanalyse oder vom Glanz und Elend der Programmatiker1
Die Renaissance der Makrosoziologie in den west
lichen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg hat vor allem in zwei Strömungen der Theoriebüdung ihren Ausdruck gefunden: in den Modernisierungs
theorien, die eine Domäne der amerikanischen Soziologie darstellen, sowie in den rivalisieren
den Theorien, die der marxistischen Tradition
delt, ist absurd. „Die vielleicht beste Erklä
rungsmöglichkeit bietet die Interpretation der beschleunigten Urbanisierung als Folge rapide wachsender Erwartungen der Landbevölkerung, die weitgehend auf die sprunghaft zunehmende Verbreitung der Massenmedien zurückzuführen
sind“ (S. 100). Die Massen verlangen zuviel, daher die „Überurbanisierung“ mit all ihren üblen Fol
gen! Und so wird die These bewiesen: Ein Ver
gleich verschiedener Ländergruppen aus der Drit
ten Welt ergibt, daß die Urbanisierungsrate immer dort hoch ist, wo auch die Zahl der Radios pro Kopf der Bevölkerung hoch ist, und immer dort niedrig, wo auch diese Zahl niedrig ist. Der so
ziologisch nicht verbüdete Leser hätte angenom
men, daß es in den Städten (und deren Umge
bung) eben mehr Radios gibt als im Hinterland, und daß deshalb eine hohe Urbanisierungsrate Ursache für eine hohe Anzahl von Radios pro Kopf der Bevölkerung ist. FLORA aber sieht ganz selbstverständlich in der Zahl der Radios die Ur
sache, in der Urbanisierung die Folge — und be
legt dies nicht einmal.
Fazit: Die schönste und größte Datensammlung (wie die von ZAPF und FLORA) nützt nichts, wenn man nicht historisch-materialistisch unter
sucht, was die einzelnen Daten im jeweüigen so- zio-ökonomischen Kontext zu bedeuten haben.
GERHARD HAUCK,
Institut für Soziologie und Ethnologie der Universität Heidelberg, 69 Heidelberg, Hauptstraße 126
verpflichtet sind. Während nun der Marxismus in den letzten Jahren in der BRD eine bemer
kenswerte Wiederbelebung feiern konnte, hat die Modernisierungsforschung vergleichsweise gerin
1 Um diese Auseinandersetzung in einen etwas weiteren K ontext zu stellen, sollen hier einige allgemeine Be
merkungen über die gesamtgesellschaftliche Entwick
lungsanalyse und die Rezeption der Modernisierungs
forschung in Deutschland, sowie einige spezifischere Anmerkungen zu dem Aufsatz von G. BRANDT (1972) über dieses Thema im ersten Heft dieser Zeit
schrift vorangestellt werden.
ges Interesse geweckt. Sieht man von den weni
gen direkten Beiträgen (ZAPF 1967, HEINTZ 1969) einmal ab, so ist die Modernisierungsfor
schung vorwiegend zum Gegenstand ideologie
kritischer Analysen (SCHUHLER 1968, BÜHL
1970) gemacht worden2. Diese begrüßenswerte und vielfach berechtigte Kritik ist allerdings, wie manches hierzulande, im Grundsätzlichen steckengeblieben. Das ist um so bedauerlicher, wenn man dazu neigt, sich dem Urteil von w . L.
BÜHL in seiner Diskussion der Entwicklungstheo
rien anzuschließen: „Wenn sich ein großer Teil der . . . Kritik gegen die amerikanische Soziolo
gie richtet, so nur deshalb, weil allein hier kri
tisierbare Theorien vorliegen“ (1970: 32).
Jenseits inhaltlicher Differenzen, die besonders das Vorverständnis der Entwicklungsproblematik betreffen, unterscheidet sich die Modernisierungs
forschung von der marxistischen Theoriebildung vor allem durch ihre geringere theoretische Ge
schlossenheit, die sie widersprüchlicher aber auch entwicklungsfähiger macht, sowie durch den Reich
tum einer vergleichenden empirischen Forschung mit klarem zeitlich-räumlichen Bezug.
Die theoretische Inkohärenz der Modernisierungs
forschung erleichtert mißverständliche Verallge
meinerungen. Ein neueres Beispiel dafür bietet der anregende Artikel von G. BRANDT (1972) im ersten Heft dieser Zeitschrift. Da BRANDT wesentliche Teile der Modernisierungsforschung, insbesondere die Literatur über die politische Mo
dernisierung3 , nicht berücksichtigt, gelangt er m .E. zu etwas irreführenden Schlüssen, unter denen zwei herausragen:
(a) er interpretiert die Modernisierungstheorien
„als Versuch, die nicht-ökonomischen Bedingungen der industriellen Entwicklung systematisch zu er
fassen“ (S. 6);
2 Sicher sind hier einige wichtige Arbeiten übersehen worden, wofür ich mich schon im voraus entschuldigen möchte. Eine Reihe von Analysen (HABERMAS 1962, DAHRENDORF 1965, BEHRENDT 1965, HOND- RICH 1970) sind keiner dieser beiden Strömungen im engeren Sinne zuzurechnen.
3 Darunter fallen vor allem die sieben ,Studien zur po
litischen Entwicklung’, die zwischen 1963 und 1971 von der Forschergruppe G.-A. ALMOND und L.W.
PYE herausgegeben wurden, daneben aber die gesamte, kaum noch zu überschauende Literatur über die Staaten- und Nationbildungsprozesse.
(b) er sieht in den „Antizipationen der Moder- nisierungsforschung“ einen „technokratischen Typus vollendeter Selbststeuerungs- und Anpas
sungskapazität“ angelegt (S. 12).
Der erste Schluß stellt ein grundlegendes Miß
verständnis der Modemisierungsforschung dar, deren zentrales Ziel gerade darin besteht, über die begrenzte Frage nach den Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen der Industria
lisierung hinauszugehen. Indem sie von einer Mehrdimensionalität der Modernisierung und zu
nehmend auch von einer sehr variablen, histo
risch zu bestimmenden Interdependenz der Pro
zesse ausgeht, ist es ihr beispielsweise möglich, auch den ^Prozeß der Demokratisierung4 systema
tisch zu erfassen, der in einer ,Industrialisierungs
theorie4, so ,reflektiert4 sie auch sein mag, ein theoretisches Anhängsel bleiben muß (vgl. S. 13).
Der zweite Schluß oder besser Vorwurf ist zwar für einen Teü der Modernisierungstheorien durch
aus berechtigt, es wird dabei jedoch übersehen, daß das Wachstum der Kapazitäten keineswegs ausschließlich die Beziehungen des sozialen Sy
stems zu seiner Umwelt, das adaptive Subsystem in der Sprache PARSONS, betrifft, sondern auch den politischen Willensbildungsprozeß im Ver
hältnis der drei anderen Subsysteme und damit auch die »Demokratisierung4, wie schon die Ka
tegorie einer »responsive capacity4 andeutet; dar
über hinaus wird übersehen, daß eine ganze »Schu
le4 der Modernisierungsforschung von einer prin
zipiellen Mehrdeutigkeit und Unabschließbarkeit des Modernisierungsprozesses ausgeht, den sie durch ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Wachstum der Kapazitäten, dem Prozeß sozialer Differenzierung und den Imperativen der Gleich
heit gekennzeichnet sieht ( BINDER u.a. 1971).
Abgesehen von diesen prinzipiellen Mißverständ
nissen weist BRANDT jedoch auf offensichtliche Schwächen eines großen TeÜs der Modernisierungs
theorien hin, die vor allem die Analyse der natio
nalen und internationalen Herrschaftsstrukturen betreffen. Hier ist sein Vorschlag eines Integra
tionsversuches überzeugend; er setzt allerdings eine eingehendere Rezeption und Diskussion der Mo- demisierungstheorien voraus.
Vielleicht noch wichtiger als diese theoretische Diskussion ist — pardon! - eine Auseinanderset
zung mit der empirischen Modernisierungsfor
schung. Seit Beginn der 60er Jahre sind die Be
mühungen, der Makrosoziologie eine empirische Grundlage zu schaffen (vgl. z. B. European Poli
Diskussion 381 tical Data: Newsletter 197 lf.), sowie ihre metho
dologischen Probleme zu lösen (vgl. z.B. DOGAN/
ROKKAN 1969, NOWOTNY 1969, LAZARSFELD 1970), enorm gewachsen. Diese Anstrengungen bedeuten zwar nicht den ,großen Sprung vor
wärts4, sie werden jedoch den archaischen Zu
stand der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungs
analyse beenden, deren wissenschaftliche Dürftig
keit bisher nur durch den Glanz einzelner »Heroen
gestalten4 überstrahlt wurde.
Eine breit angelegte empirische Entwicklungsana
lyse erfordert zweifellos ein großes Maß an wis
senschaftlicher Arbeitsteüung und schrittweiser Akkumulation, wodurch die »großen Fragen4 not
wendig etwas in den Hintergrund der alltäglichen Arbeit gedrängt werden. Es ist daher verständlich, daß gerade dort der Widerstand gegen diese Be
mühungen am größten ist, wo sich synthetische Intentionen der Theoriebildung mit dezidierten po
litischen Absichten verbinden. Da jedoch die poli
tisch motivierten »Gegenentwürfe4 die theoreti
sche Geschlossenheit über die empirische Beweis
barkeit stellen, gelangen sie selten über program
matische Versprechen hinaus. Nun sollten Program
matiker sicher eine Schutzfrist genießen, aber kei
nen Denkmalsschutz. Diese Regel wird hierzulan
de allerdings dadurch außer Kraft gesetzt, daß ge
rade die Teilnahme an den ritualisierten Grund
satzdiskussionen, diesen permanenten Firstfeiern gegensätzlicher Standpunkte, akademischen Lor
beer garantiert.
Soviel zum Kontext meines Aufsatzes als auch der Kritik von G. HAUCK. Aus der Fülle von Vorwür
fen sollen hier drei herausgegriffen werden, die mir zentral erscheinen: das Problem des Kontex
tes quantitativer Daten; das Problem des Kolonia
lismus und schließlich das Problem des Konserva
tismus.
(2) Daten und Kontexte
Mein Aufsatz im zweiten Heft dieser Zeitschrift stellt den bescheidenen Versuch dar, quantitati
ve Daten über die Urbanisierung und Alphabeti
sierung zwischen 1850 und 1965 zu sammeln, um einen Eindruck über die Größenordnung und Zu
sammenhänge dieser beiden elementaren Prozesse zu gewinnen. Ein zentrales Problem solcher Ver
suche wird von G. HAUCK klar erkannt:
Da werden . . . naiv Daten aus den unterschiedlichsten historischen und sozio-ökonomischen Epochen statistisch
aggregiert, ohne daß man sich auch nur die Frage vor
legt, ob sie in verschiedenem historischen K ontext nicht durchaus verschiedene Bedeutung haben könnten (S. 377).
Dieses Problem konnte in dem Aufsatz keines
wegs befriedigend gelöst werden, die Frage wurde allerdings vorgelegt:
. . . bei den meisten makrosoziologischen Indikatoren liegt . . . das hauptsächlichste Interpretationsproblem in ihrer Mehrdeutigkeit, die auf die Vielfalt ihrer em
pirischen Korrelate zurückzuführen ist. Jede Analyse, die vorwiegend quantitative Daten für Prozesse in sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten verwendet, muß daher von Annahmen über diese Korrelate ausgehen, die oft nicht mehr als eine vage Plausibilität beanspru
chen können (S. 89).
Dieses Problem ist so alt wie die empirische So
zialforschung und bei komparativen historischen Analysen natürlich besonders akut. Nicht zufäl
lig hat die »Kontextanalyse4 in den letzten Jahren in der methodologischen Diskussion stark an Be
deutung gewonnen (vgl. z.B. BOUDON 1 9 7 1 ).
P. BOURDIEU (1967) unterscheidet in der Behand
lung dieser Problematik zwei Extrempositionen:
einen »comparatisme abstrait4, der auf die Akku
mulation und statistische Analyse von »chiffres decontextualises4 gerichtet ist, und eine »ideogra
phic intuitionniste4, für die praktisch jeder Ver
gleich einer Zerstörung des Vergleichsgegenstan
des in seiner kulturellen Bedeutung und sozialen Besonderheit gleichkommt.
Die Lösung dieser Problematik ist in der Typi
sierung von historisch und regional begrenzten Kontexten zu suchen, in denen quantitative Da
ten eine spezifischere und doch vergleichbare »Be
deutung4 erhalten. Dies wurde, wenn auch auf sehr einfache Weise, in der Diskussion des Mo
dells von K. DEUTSCH .(S. 101 f.) versucht. Die Typisierung von Kontexten bedeutet jedoch kei
neswegs einen Verzicht auf quantitative Daten, sondern vielmehr die Notwendigkeit, auch über diese Kontexte systematisch Informationen zu sammeln und zu standardisieren.
Neben der bloßen Beschreibung der beiden Pro
zesse wurden auch, soweit es die Daten zuließen,
„Vermutungen über einige mögliche Ursachen und Konsequenzen44 (S. 97) angestellt, an denen sich dann, so HAUCK, der „vorkritische Positivismus
. . . in all seiner Naivität und Gefährlichkeit“
(S. 378) zeigte. G. HAUCK verweist mit Recht dar
auf, daß die vorgeschlagenen Erklärungen äußerst
unvollständig sind, die vermuteten Ursachen nicht weiter hinterfragt werden, daß die Erklärungen vielfach nicht einmal für alle Länder belegt wer
den können und zumindest regional spezifiziert werden mußten, und daß es sich schließlich oft nur um Korrelationsbeziehungen handelt. Zwei
fellos muß versucht werden, diese Schwächen in der weiteren empirischen Forschung Schritt für Schritt zu beheben, nur: sie können nicht durch frisch-fröhliche Gegenbehauptungen aus der Welt geschaffen werden, die auf jegliche empirischen Belege verzichten. Unter den vielen unbewiese
nen Behauptungen soll hier eine herausgegriffen werden, die in der neo-marxistischen Literatur, in verschiedenen Varianten, eine prominente Stellung einnimmt: die Behauptung nämlich,
„daß die Kolonialmächte die schulische Ausbil
dung breiterer Bevölkerungsschichten in den heu
te ,neuen* Nationen bewußt verhinderten, um ihre politische Herrschaft und die ökonomische Ausbeutung der Kolonien nicht zu gefährden“
(S. 378).
(3) Über den Mythos des Kolonialismus Die Überprüfung dieser Behauptung muß von zwei Tatsachen ausgehen: zum einen davon, daß eine breitere Alphabetisierung nur in Europa mehrere Jahrhunderte zurückzuverfolgen ist. So schätzt C. CIPOLLA (1969), daß zu Ende des 17.
Jahrhunderts im protestantischen Europa unge
fähr 35 bis 45% der Erwachsenen wenigstens le
sen konnten und im katholischen Europa unge
fähr 20 bis 30%; gleichzeitig vermutet er, daß diese Prozentsätze um 1600 nicht wesentlich niedriger lagen. Den zweiten Ausgangspunkt bil
det die begründete Annahme, daß kein Kolonial
land zur Zeit seiner Unterwerfung eine Alpha
betisierungsrate von mehr als 1 0% hatte.
Die Frage, ob die europäischen Kolonialmächte eine raschere Bildungsentwicklung in den Kolo
nien verhinderten, läßt sich nur spekulativ be
antworten, da die Kolonialreiche im Laufe der Entwicklung 85% der Erdoberfläche (FIELDHOUSE
1965) unfaßten und damit eine größere Kontroll- gruppe fehlt. P. BARAN hat allerdings die dahin
ter stehende, allgemeinere Frage in einem etwas simplen Vergleich der indischen und japanischen Entwicklung (1965: 240—262) entschieden be
jaht und das ist nicht ohne Nachwirkungen ge
blieben. Er hat dabei übersehen, daß Japan als einziges Land seit ca. 1600 eine den europäischen
Ländern vergleichbare Entwicklung nahm, insbe
sondere im Bereich der Bildung (vgl. DORE 1 9 65).
Sehr vereinfacht läßt sich vielleicht behaupten, daß Japan sich nicht deshalb schneller entwickel
te, weil es von kolonialer Herrschaft frei blieb, sondern vielmehr, daß es seine Unabhängigkeit behaupten konnte, weil es bereits stärker ent
wickelt war. Im übrigen haben die anderen nicht
europäischen Länder, die als Pufferzonen der Kolonialreiche oder aus anderen Gründen eine relative Unabhängigkeit wahrten (Thailand, Afgha
nistan, Persien, Türkei, Äthiopien), keineswegs eine raschere Entwicklung gezeigt.
Die erste Kolonisierungsphase bis zur Amerika
nischen Revolution bzw. zu den Befreiungskrie
gen in Südamerika bietet wenig Anhaltspunkte für die hier untersuchte Behauptung. In Nord
amerika verlief die Alphabetisierung viel schnel
ler als in den Mutterländern*, und der Analpha
betismus in Spanien und Portugal war kaum ge
ringer als in ihren lateinamerikanischen Kolonien.
Die unterschiedlichen Entwicklungen in Latein
amerika nach 1850 dürften sich vor allem aus dem unterschiedlichen Ursprung und Ausmaß der Einwanderung erklären, wie die überraschend enge Korrespondenz mit der südeuropäischen Al
phabetisierung nahelegt4.
In der zweiten Kolonisierungsphase, die mit der Eroberung des indischen Kontinents nach 1750 einsetzte, sind die Zusammenhänge komplizierter und widersprüchlicher. Hier spielen unter ande
rem die Unterschiede in der Größe der Länder, im Zeitpunkt der Unterwerfung und in der Kolo
nialpolitik eine Rolle. Während beispielsweise die Analphabetenrate in Indien zwischen 1901 und
1951 trotz relativ großer Anstrengungen seit 1848 - um 1892 gab es ungefähr 2.8 Millionen Primärschüler in ca. 100.000 staatlich subventio
nierten Schulen (LEVASSEUR 1897) — nur von 93.5% auf 80.7% gesenkt werden konnte, war die Entwicklung der Primärbildung in einigen kleine
ren Ländern bis zum Zeitpunkt ihrer politischen Unabhängigkeit sehr bemerkenswert: die Anal
phabetismusrate betrug in Ceylon 1946 42.2%,
#uf den Philippinen 1948 40.0%, im Burma 1950 40—45% und in Malaysia 1957 52.5%. Dies ent
spricht ungefähr den Raten von England, Frank
reich und Belgien um 1850. Es ist zu vermuten, wenn auch kaum zu beweisen, daß im Vergleich 4 Vgl. hier und im folgenden die Zeichnungen und Ta
bellen meines Aufsatzes.
Diskussion 383 dazu die wirtschaftliche Entwicklung in den drei
Ländern viel weiter fortgeschritten war. Der er
staunlichen Alphabetisierung in einzelnen Kolo
nien steht die Stagnation in anderen asiatischen Ländern gegenüber, insbesondere in Indochina, das am ehesten ein Beispiel für die bewußte Ver
hinderung einer stärkeren Bildungsentwicklung bieten dürfte. Die afrikanischen Länder schließ
lich, die viel später einer kolonialen Herrschaft unterworfen wurden und noch heute Analpha
betismusraten von 75 und mehr Prozent haben, bieten wenig Ansatzpunkte für die Vermutung, daß sie sich in politischer Unabhängigkeit schnel
ler entwickelt hätten. Eine Sonderstellung nehmen hier allerdings die Länder mit einer starken wei
ßen Minorität wie in Algerien und Südafrika ein.
Um nicht vollkommen mißverstanden zu werden:
es geht hier nicht um ein Loblied auf den Kolo
nialismus, sondern allein um die Frage, ob man es akzeptabel findet, daß moralische Pauschalur- teüe, die den Kolonialismus zu einem alles erklä
renden Mythos stüisieren, an die Stelle sozialwis
senschaftlicher Forschung treten.
(4) Mobüisierung, Institutionalisierung und Konservatismus
Die Beschleunigung der Urbanisierung und der BÜdungsexpansion auf der sekundären Stufe in den ,neuen4 Nationen hat die Probleme der Mo
büisierung, der Institutionalisierung politischer Beteüigung und der politischen Stabilität in den Vordergrund des Interesses gedrängt. Schon Le
nin hat sich in seiner Theorie vom Supremat der Partei eingehend mit diesen Problemen be
schäftigt. „Leninism is a theory of political de
velopment. It deals with bases of political mobi
lization, the methods of political institutionali
zation, the foundations of public order44(HUNT
INGTON 1968: 342). Der Vorwurf des Konser
vatismus, den HAUCK erhebt, kann sich sinnvol
lerweise nicht auf die Behandlung der allgemei
nen Problematik, sondern allenfalls auf spezifi
sche ,Lösungen4 beziehen. Die Analyse der po
litischen Stabüität ist von zentraler Bedeutung, unter anderem deshalb, weü diese eine notwen
dige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für „Werte wie Büdung und Demokratisierung der Gesellschaft“ ist; sie ist legitim, soweit sie nicht ausschließlich und losgelöst vom struktu
rellen Kontext und historischen Entwicklungszu
sammenhang diskutiert wird.
(5) Die Sprache des Staatsanwalts
Eine kleine Nachbemerkung zum Ton und Stü der Auseinandersetzung: sicher stellt es einen großen Fortschritt dar, wenn heute die Aggres
sivität in wissenschaftlichen Diskussionen nicht mehr formelhaft verkleidet wird; nicht ohne Iro
nie ist es jedoch, wenn in zunehmenden Maße von neo-marxistischen Autoren in staatsanwält- licher Attitüde die ,Gemeingefährlichkeit4 von
,feindlichen4 wissenschaftlichen Arbeiten ange
prangert wird. Etwas ärgerlicher ist es, daß sich diese Attitüde auch auf die Art der Beweisführung überträgt, in der die Worte vielleicht4, »möglich4,
»wahrscheinlich4 keinen Platz mehr haben, und in der ,ein Blick ins Kommunistische Manifest4
eine weitere Argumentation überflüssig macht.
Die Exegeten der HeÜigen Schriften sind sicher um eines zu beneiden: von Zweifeln scheinen sie nicht geplagt zu sein. Man könnte allerdings der altmodischen Ansicht sein, daß skeptische Fra
gen der Wissenschaft einen Anfang setzen und fixe Antworten ihr ein Ende bereiten.
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E in P lä d o y er gegen „F orm alisieru n g“
In seinem Aufsatz „Zur Problematik der Ableitung in sozialwissenschaftlichen Aussagensystemen. Ein Plädoyer für Formalisierung“ in der Zeitschrift für Soziologie, Heft 1, 1 9 7 2 schlägt HUMMEL vor, die den Schlüssen mit bestimmten sozialwissen
schaftlichen Hypothesen „zugrundeliegende Logik (zu) erweitern, so daß es möglich wird, die ge
meinten empirischen Zusammenhänge in einer Weise auszudrücken, die bei Anwendung bestimm
ter Deduktionsregeln nicht zu Widersprüchen führt“ . (S. 38; meine Hervorhebung)
1. Im ersten Teü seines Beitrags versucht HUMMELL zu zeigen, wie ein solcher Widerspruch bei „deter
ministischen Je-Desto-Aussagen“ entsteht. Da für die Ableitbarkeit von Widersprüchen nur die Syn
tax der Prämissen, nicht aber ihre Interpretation entscheidend ist, brauchen wir auf die Deutung der im folgenden zitierten Aussagen nicht einzu
gehen.
1.1. Aus den Aussagen (die Variablen sind durch Allquantoren gebunden, die HUMMELL der Ein
fachheit halber nicht mitführt)
1) z(x) < z(y) -* r(x) < r(y) und
2) r(x) < r(y) -* k(x) < k(y)
wird korrekt nach dem Gesetz der Transitivität der Subjunktion
3) z(x) < z(y) k(x) < k(y)
abgeleitet. Daran schließt sich folgende Argumen
tation an, für die sich, wenn man sie nur auf solch einfache Beispiele bezieht, eine Interpretation finden läßt, nach der sie korrekt ist: ,Allgemein ist es im Falle der Zusammenhänge von kompara
tiven Begriffen in Form von Ketten möglich, die
NOWOTNY, H.M., 1969: Procedures o f Macro sociologi
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versity.
SCHUHLER, C., 1968: Politische Ökonomie der armen Welt. München: Trikont.
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schrift. Konstanz.
PETER FLORA, M.A.
Universität Frankfurt, Fachbereich Gesellschafts
wissenschaften, 6 Frankfurt/M.
Vorzeichenregel zu rechtfertigen: man nenne eine monotone ordnungserhaltende Funktion (gleichsinnige Verknüpfung von relationalen Eigen
schaften) positiv und ordne ihr als Vorzeichen (Signum) +1 (abgekürzt: +) zu; man nenne eine ordnungsinvertierende Funktion (gegensinnige Verknüpfung) negativ und ordne ihr als Signum - 1 (abgekürzt: - ) zu. Wenn aus zwei Je-Desto- Aussagen nach Reformulierung gemäß der Tran- sitivitätsregel für Wenn-Dann-Aussagen eine dritte Je-Desto-Aussage deduzierbar ist, gilt: das Signum der deduzierten Aussage ist gleich dem Produkt der Signa der beiden vorausgesetzten Aussagen.
Da die ProduktbÜdung assoziativ ist, ist damit das Signum einer deduzierten Aussage bei einer beliebigen Menge von postulierten Aussagen defi
niert, sofern letztere eine Kette bilden“ (S. 37).
Die Einführung zweier weiterer Prämissen 4) und 5), wovon eine (4) einen „negativen Zusammen
hang“ zwischen der Wenn- und der Dann-Kompo- nente der Subjunktion behauptet, soll dann die Ableitung eines Widerspruchs ermöglichen.
4) z(x) < z(y) -* i(x) > i(y)
5) i(x) < i(y) -*■ k(x) < k(y)
„Wenden wir die Schlußregel der Aussagenlogik (Transitivität der Subjunktion, H.K.) und insbe
sondere die daraus folgende Vorzeichenregel auf (4) und (5) an, so erhalten wir:
6) z(x) < z(y) -» k(x) > k(y)“ (S. 37).
Wenn nun z(x) < z(y) nicht für alle Paare (x, y) falsch ist, läßt sich die Kontradiktion k(x) < k(x)
. k(x) > k (y ) ableiten.
1.2. Die Ableitung dieser Kontradiktion muß aber entgegen HUMMELLS Darstellung nicht durch ir-