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Generation Social Media

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Academic year: 2022

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Vandenhoeck & Ruprecht Philippe Wampfler

Generation »Social Media«

Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert

Mit 5 Abbildungen

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Inhalt

Statt eines Vorworts: Selfies at Funerals . . . 7

1. Einleitung . . . 11

1.1 Medienwandel in der historischen Perspektive . . . 13

1.2 Digitale Kommunikation und Social Media . . . 18

1.3 Generation »Social Media« . . . 20

1.4 Stolpersteine der Medienkritik . . . 28

1.5 Digitale Kluft . . . 35

1.6 Die Absicht dieses Buches . . . 37

Intermezzo I: Eine Liebeserklärung an die Däumlinge . . . 39

2. Körper und Geist . . . 43

2.1 Wie Medien auf den Menschen einwirken . . . 45

2.2 Wohlbefinden und Social Media . . . 47

2.3 Aufmerksamkeit und Ablenkung . . . 49

2.4 Das Versprechen der Hirnforschung . . . 51

2.5 Gedächtnis . . . 54

2.6 Beeinflussung der Schlafqualität . . . 60

2.7 Sexualität . . . 61

2.8 Körperkontakt . . . 65

2.9 Social-Media-Sucht . . . 66

2.10 Körperliche Gesundheit . . . 68

2.11 Essstörungen . . . 70

2.12 Schulische Leistungsfähigkeit . . . 74

Intermezzo II: Wie neue Praktiken entstehen . . . 75

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Inhalt

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3. Beziehungen . . . 78

3.1 Digitale Nachbarschaft . . . 80

3.2 Beziehungen Jugendlicher untersuchen . . . 83

3.3 Wie Jugendliche Social Media zur Beziehungspflege nutzen . . . 85

3.4 Social Media medialisieren Beziehungen . . . 87

3.5 Machen Social Media einsam? . . . 89

3.6 Liebesbeziehungen . . . 93

3.7 Freundschaft . . . 95

3.8 Privatsphäre und Datenschutz . . . 103

3.9 Oberflächlichkeit und Narzissmus . . . 107

3.10 Parasoziale Interaktion . . . 109

3.11 Die Angst, etwas zu verpassen – Fear of Missing Out . . . 111

3.12 Die Konsensillusion . . . 113

3.13 Geschlechterrollen und Social Media . . . 115

Intermezzo III: Japan als Beispiel . . . 119

4. Wie aus Neuen Medien ein neues Lernen entsteht . . . 121

4.1 Veränderte Arbeitsplätze und Lebenswelten . . . 124

4.2 Social Media als professionelles Hilfsmittel in der Schule . . . 126

4.3 Kompetenzen und Herausforderungen . . . 129

4.4 Das Ende der Didaktik . . . 133

4.5 Bedingungen für kollaboratives und individuelles Lernen . . . 136

Intermezzo IV: Überwachung als Bedrohung und Versuchung . . . 141

5. Was tun? . . . 144

6. Materialien . . . 147

6.1 Smartphone-Etikette für Jugendliche . . . 147

6.2 Leistungsbeurteilung für Arbeiten mit Social Media . . . 149

6.3 Aufbau eines Persönlichen Lernnetzwerks . . . 150

6.4 Sichere Passwörter wählen . . . 150

6.5 Fake-Profile erkennen auf Social Media . . . 151

6.6 Fear of Missing Out – Diagnose . . . 153

7. Literatur . . . 154

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Statt eines Vorworts: Selfies at Funerals

Eine junge Frau hat ihr eigenes Porträt aufgenommen. »Love my hair today. Hate why I’m dressed up #funeral«, schreibt sie dazu; sie möge also ihre Frisur, sei aber unglücklich darüber, weshalb sie sich aufbrezeln musste: Für eine Bestattung näm- lich. Auf der Seite selfiesatfunerals.tumblr.com hat der Journalist Jason Feifer im Herbst 2013 eine ganze Serie solcher Selfies gesammelt. Damit sind digitale Selbst- porträts gemeint, welche auf bildbasierten sozialen Netzwerken wie Instagram oder Snapchat zum Alltag Jugendlicher gehören, offenbar selbst auf Beerdigungen.

Wie Erwachsene darauf reagieren würden, dass Jugendliche sich auf Trauer- feiern selbst inszenieren, war absehbar: Empört wurde das Verhalten von Kom- mentierenden als zutiefst narzisstisch und pietätlos eingeschätzt. Die Verfüg- barkeit von Smartphones habe dazu geführt, dass nicht einmal mehr Trauer zu einer tröstenden Verbindung von Menschen führe, sondern Jugendliche selbst in diesem Zustand in ihrer Selbstbespiegelung isoliere.

Diese vorschnelle Verurteilung der Mediennutzung Jugendlicher ist sympto- matisch für das medienpädagogische Nachdenken unter Erwachsenen. Weil die digitalen Informationsströme eine vertraute Welt der Verarbeitung von Nach- richten in wenigen Jahren auf den Kopf gestellt haben, wird oft vorschnell ange- nommen, die Auswirkungen müssten verheerend sein. Die Unsicherheit über die Bedeutung der Veränderungen wird bei Jugendlichen besonders deutlich, weil sie einerseits gern provozieren, andererseits aber neue Chancen rascher und radikaler wahrnehmen, als Erwachsene das können und wollen.

Dieses Buch versucht eine gewisse Distanz einzunehmen, aus welcher es leich- ter fällt, Zusammenhänge zwischen Sachverhalten zu erkennen. Wer sich ein Urteil über Jugendliche anmaßt, sollte etablierte und akzeptierte Verhaltenswei- sen ebenso prüfen, die Praxis junger Menschen wirklich verstehen und auf solide wissenschaftliche Daten zurückgreifen. Dann ergeben sich aufschlussreiche Erkenntnisse, die wertvoller sind als die Beobachtungen und Urteile des Alltags.

Betrachtet man die Beerdigungsselfies aus dieser Perspektive, kann man zunächst einfach festhalten, dass Menschen einen individuellen Zugang zum

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Statt eines Vorworts: Selfies at Funerals

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Trauern haben. Es gibt zwar gesellschaftliche Normen dafür, die jedoch oft gerade in Trauerphasen wenig Rückhalt bieten. Zudem sind diese Normen ebenso fragwürdig wie das digitale Selbstporträt: Warum ziehen sich viele schön an, wenn es doch um die Toten gehen soll? Warum schlagen sie sich den Bauch voll und trinken mittags Alkohol, wenn in Würde von einem geliebten Men- schen Abschied genommen werden soll? Man könnte Webseiten mit Bildern von Trauergästen füllen, die sich bei Bestattungen betrinken oder ihre Krawat-

Abbildung 1: Selfie

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Statt eines Vorworts: Selfies at Funerals 9

ten mit Häppchensauce bekleckern. Weil Jugendliche sich nicht wie Erwach- sene verhalten, sind sie kritischeren Blicken ausgesetzt.

Selfies sind, so kann man annehmen, knappe Tagebucheinträge, die sich an ein limitiertes Publikum richten. Die junge Frau könnte sagen: »Schaut mal her, mir ist was Trauriges passiert, ich muss zu einer Trauerfeier. So sehe ich aus.«

Damit dokumentiert sie ihren Tag, sie kann später darauf zurückgreifen, sieht sich selbst ins Gesicht und kann Erinnerungen abrufen. Für einen Tagebuch- eintrag über ein Begräbnis würden wir niemandem einen Vorwurf machen.

Wir würden ihn nicht einmal lesen und ihn schon gar nicht auf Blogs zitieren und verbreiten.

Hinzu kommt, dass Selfies nicht ausschließlich einzelne Menschen zeigen.

Seit 2014 dokumentieren Prominente Erlebnisse mit Selfies. Darauf sind – wie auf vielen Selfies von Jugendlichen – meist mehrere Personen zu sehen. Aus dem Selbstporträt wird oft ein Gruppenbild und die Praxis rückt weit weg von einer narzisstischen Ich-Bezogenheit.

Jugendlichen werden mit der Aufgabe, eine eigene Identität zu finden und ein Beziehungsnetz zu knüpfen, oft allein gelassen. Wird zu sichtbar, welcher Methoden sie sich bedienen, müssen sie mit Spott und Ablehnung von Erwach- senen rechnen, die oft nicht einmal zu verstehen versuchen, was hier abläuft.

Erst später adaptieren auch Erwachsene diese Kommunikationsmittel.

Im Projekt Selfiecity wurden die Selfies mehrerer Metropolen untersucht.

Wesentliche Erkenntnisse waren, dass Selfies weniger häufig gemacht werden, als gemeinhin angenommen (nur 4 % aller analysierten Bilder waren Selfies), dass sie hauptsächlich von jungen Menschen und vornehmlich von Frauen stammen, die zudem auffälligere Posen einnahmen als Männer. Das Projekt verdeutlichte zudem, dass Menschen in Bangkok auf Selfies deutlich häufiger lächelten als in Moskau (Manovich, 2014).

Geht man von der quantitativen Untersuchung zur Interpretation über, so kann man in Jenna Bragers Essay Selfie Control nachlesen, dass Selfies wohl nicht zufällig in dem Moment populär werden, in dem Überwachung sowohl durch die Smartphones unserer Mitmenschen als auch durch Geheimdienste zu einem globalen und omnipräsenten Phänomen werden. Selfies ermöglichen in einer »lähmenden Landschaft zwischen visueller Übersättigung und Leere fatale Verhandlungen zwischen zu starker Sichtbarkeit und Verschwinden, zwischen Selbstrepräsentation und Vereinnahmung« (Brager, 2014, übersetzt von Ph. W.).

In ihnen kommen die Beobachtenden und die Beobachteten zur Deckung.

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Statt eines Vorworts: Selfies at Funerals

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Betrachten wir Selfies als eine Art Höhepunkt des fotografischen Einver- ständnisses über den verschlauften Blick (der Fotograf ist das Subjekt und Objekt), können wir rechtliche Überlegungen verabschieden und verschie- dene Analysen von Einverständnis und Wahrnehmung befragen – wer darf beispielsweise kein Selfie aufnehmen und was bedeutet das für die Lebens- bedingungen dieser Personen. (Brager meint Strafgefangene, denen in den USA Fotografien oft nicht gestattet sind, Anmerkung Ph. W.) (ebd.)

Social Media sind im Moment ein Sammelsurium von medialen Handlungen, für die es kaum einen Kodex oder eine klare Norm gibt. So entwickeln sich Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, letztlich aber eine bestimmte Funktion haben. Diese kann nur erkannt werden, wenn Pro- zesse und Daten klar erfasst und beschrieben werden können. Das vorliegende Buch hilft dabei, verfügbare Erkenntnisse zur Verwendung von Social Media und ihrer Einflüsse zu überblicken. Eine vorschnelle Ablehnung und Verurteilung von Modeströmungen unter Jugendlichen steht dabei nicht im Vordergrund, es geht vielmehr darum, Verständnis für die Perspektive der Jugendlichen zu wecken. Wie ihre erwachsenen Mitmenschen leben sie in einer schnellen Welt, die viele Erwartungen und komplexe Möglichkeiten bereithält.

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1. Einleitung

Wir haben die Tendenz, die Auswirkungen von Technologie kurzfristig zu überschätzen, sie aber langfristig zu unterschätzen.

Amaras Gesetz nach Roy Amara (1925–2007)

Wer Jugendliche dabei beobachtet, wie sie über ihre Geräte gebeugt Nachrich- ten eingeben, von ihren Mitmenschen durch die Musik in ihren Kopfhörern abgeschottet, erinnert sich schnell an die Schlagzeilen, die uns in regelmäßigen Abständen in einer breiten Palette von Publikationen verkünden, Neue Medien machten uns dumm, wütend, unglücklich und einsam. Dass dies Jugendliche in besonderem Maße betrifft, fällt nicht schwer zu glauben. Ihr Rückzug in die sozialen Netzwerke, in denen ständiges Geplauder jede vertiefte Beschäftigung mit Kultur oder Wissenschaft zu verhindern scheint, gibt Anlass zu düsteren Zukunftsprognosen.

Gleichzeitig sind Social Media auch Hoffnungsträger: Sie ermöglichen es, eine Ordnung in das unüberschaubare Meer von Informationen zu bringen, in dem die Internet-User schwimmen. Wissen ist aus erster Hand abrufbar und bearbeitbar: Hier sollten gerade Jugendliche Mittel und Wege finden, sich zu bilden; abseits von etablierten Strukturen, die schwerfällig sind und an Tra- ditionen kleben. Und auch solche Geschichten füllen die Zeitungen, die wir immer häufiger selbst mit dem Smartphone abrufen: Wir lesen von sechzehn- jährigen Hochbegabten, welche die Informationen im Netz genutzt haben, um die Medizin oder die Physik voranzubringen, und betrachten Youtube-Videos, in denen kreative Jugendliche neue Ideen ohne die Hilfe Erwachsener erpro- ben und umsetzen.

Was stimmt? Schaden digitale Medien der Generation, die damit aufwächst, oder ermöglichen sie ihr Leistungen, die bisher nicht denkbar waren? Wer Erwachsenen zuhört, die über diese Fragen sprechen, wird meist mit bedroh- lichen Wahrnehmungen konfrontiert, wie die folgenden Stichworte aus einer kleinen Umfrage zeigen, welche die Konzeption dieses Buches begleitet hat:

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Medienwandel in der historischen Perspektive 13

Social Media stehen bei dieser Konditionierung im Mittelpunkt. Digitale Emp- fehlungen von Freundinnen und Freunden ersetzen immer mehr Vermittlungen durch Massenmedien oder Werbung. Welche Konsequenzen hat das?

Dieser Frage sind die Kapitel zwei und drei gewidmet: Zunächst werden wissenschaftliche Ergebnisse und Überlegungen von Expertinnen und Exper- ten zu den Auswirkungen digitaler Kommunikation auf den Körper und den Geist von Jugendlichen zusammengefasst, dann die Frage diskutiert, wie sich das Zusammenleben der Generation »Social Media« im Vergleich mit ihren Eltern verändert.

In einem vierten Teil werden pädagogische Reaktionen auf diese Verän- derungen präsentiert: Wie können Lehrpersonen und Eltern in einem neuen medialen Umfeld angemessen mit Jugendlichen zusammenarbeiten?

Ziel dieses Buches ist es, zum Dialog mit Jugendlichen einzuladen und ihre Praktiken in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Wer sich nicht mit vereinfachten Darstellungen zufrieden gibt, wird erkennen, dass auch schein- bar sinnlose mediale Tätigkeiten für Jugendliche eine Funktion haben – und diese Funktion erst in einem zweiten Schritt bewertet werden kann. Selbstver- ständlich tun Jugendliche nicht nur Dinge, die ihnen guttun: Das gilt für ihren Umgang mit Medien wie für andere Bereiche ihres Lebens. Aber vor der Beurtei- lung sollte eine genaue Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Kom- munikationsverhalten stehen. Dies ermöglicht die Lektüre so, wie das Michèle Binswanger in der Reflexion einer Mutter auf die medialen Gewohnheiten ihrer Töchter im Teenager-Alter entworfen hat:

Das Spiel verändert sich von Generation zu Generation, die Spieler bleiben dieselben. Auch wir waren narzisstische, fiese, wütende, verunsicherte und geile Teenager und hielten uns für den Mittelpunkt der Welt. Auch wir muss- ten lernen, uns in die vorhandenen Strukturen einzufügen. Und wir taten es genau gleich wie die Kids von heute: zuschauen, ausprobieren, schauen, wohin es führt. (Binswanger, 2013)

1.1 Medienwandel in der historischen Perspektive

Wenn wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht.

Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen. (Schopenhauer, 1851, § 291)

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Einleitung

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Schopenhauers Kritik an der Lektüre belustigt im 21. Jahrhundert: Dieselben Argumente, die gegen die Nutzung Neuer Medien angeführt werden, wurden im 19. Jahrhundert gegen das Lesen von Büchern vorgebracht. So wird deut- lich, dass der Wandel von analogen Medien zu digitalen nur eine von vielen medialen Umwälzungen in der Kulturgeschichte ist. Diese Übergänge führen zu zusätzlichen und veränderten Zugängen zu Information – und damit zu Wissen. Das hat gesellschaftliche Konsequenzen: Hierarchien ergeben sich über die Teilhabe an Wissen (oder den Ausschluss davon) und über die Möglichkeit, auf bestimmte Arten zu kommunizieren. Ilana Gershon weist darauf hin, dass neue Kommunikationstechnologie stets von Behauptungen begleitet werde, soziale Beziehungen würden sich dadurch fundamental ändern (2010, S. 52 f.).

Einige Beispiele sollen verdeutlichen, wie Medienwandelprozesse, die wir aus der Distanz klarer beurteilen können, in der zeitgenössischen Diskussion wahr- genommen worden sind. Die Debatte über die Lesesucht hat Albrecht Koschorke in einer Mediologie des 18. Jahrhunderts ausführlich dargestellt (2003, S. 397 ff.).

Das Problem definiert ein Wörterbuch von 1809 wie folgt:

Lesesucht, die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte und auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücher- lesen zu vergnügen. (zitiert nach König, 1977)

Betroffen von der Kritik sind erstens also Gruppen wie Frauen oder Jugendliche, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals die Möglichkeit erhal- ten, Bücher zu lesen. Sie befinden sich, so ein Kritiker, an einem sozialen Ort,

[…] wo der Mensch so wenig in sich, sondern stets außer sich zu existie- ren gewohnt ist, wo er so wenig durch sich selbst ist und alles durch andere, durch den Gebrauch äußerlicher Werkzeuge zu werden suchen muss, wo er folglich nur selten sich selbst genug sein kann, wo er einen großen Teil seiner moralischen, ja man kann dreist behaupten, auch seiner physischen Freiheit, Preis giebt und dennoch hinter seinem, oft ganz chimärischen Ziele, weit zurückbleibt. (Bauer, zitiert nach Koschorke, 2003, S. 400)

Damit bringt die Kritik zweitens einen digitalen Dualismus ins Spiel, also die Vorstellung, es gäbe neben der physischen Welt eine imaginäre virtuelle, die zwar nicht echt ist, aber dennoch negative Auswirkungen auf das Leben in der echten Welt haben kann: Indem sie zum Beispiel moralische Haltungen angreift.

Ein dritter wesentlicher Aspekt der Lesesucht-Debatte ist ein vager und ten- denziöser Suchtbegriff, mit dem veränderte mediale Gewohnheiten abgewer-

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Einleitung

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Wer beispielsweise mit einer Dienstleistung eines Unternehmens nicht zufrie- den ist, hat in Social Media einen Kanal, auf dem Beanstandungen sichtbar werden und verbreitet werden können. Die Position der Kunden wird gestärkt und Unternehmen können über die Suchfunktionen gezielt nach Rückmeldun- gen suchen und Verbesserungen vornehmen. Die Konzeption der Social-Me- dia-Tools erleichtert diese Aspekte der Kommunikation nicht nur, sie schafft auch massive Anreize, sich darauf einzulassen. Mittels Geschäftsbedingungen, die User kaum lesen, und über automatisierte Voreinstellungen stellen die Anbie- ter sicher, dass sie die Inhalte ihrer Nutzerinnen und Nutzer maximal nutzen können. So entstehen die Affordanzen letztlich ebenfalls. Sie wandeln sich, wie man vom Übergang der SMS-Kommunikation zu WhatsApp sieht, auch recht schnell: War es in der ersten Generation von Textnachrichten wichtig, sich knapp zu halten, um Kosten zu sparen, ist diese Einschränkung heute irrelevant geworden. WhatsApp ist so designt, dass User viel schreiben, sofort reagieren und Videos, Bilder und Textnachrichten in ihre Chats einbauen.

Das heißt aber nun nicht, dass Jugendliche sich durch die Technologie bestimmen lassen. Während sie in Belangen, die ihnen unwichtig sind oder die sie in ihrem Alltag ohnehin nicht kontrollieren können, oft gleichgültig wirken können, sind sie kreativ und engagiert, wenn es darum geht, ihr sozia- les Netz gezielt zu pflegen und zu erweitern. Aus diesem Grund hacken sie die Tools oft – nicht in dem Sinne, dass sie sie umprogrammieren, sondern indem sie Vorgaben als spielerische Herausforderung statt als Vorschriften interpretieren.

1.3 Generation »Social Media«

Ist im Titel dieses Buches von einer spezifischen Generation die Rede, so vermag diese Einschränkung der Abhandlung einen Fokus zu geben: Untersucht werden die Auswirkungen von Social Media auf einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, eine bestimmte Generation. Gerade dieses Konzept ist aber zunächst höchst diffus. Der Begriff der Generation wird zwar oft verwendet, ist aber notorisch ungenau, wie Charles Berg festhält:

Der Generationsbegriff als eine Art Schnittpunktkategorie stellt die Sozial- wissenschaften vor eine Reihe von Dilemmas. Generation kann in einer dia- chronen, verstanden als Folge in einer historischen Ahnenreihe, oder in einer synchronen Perspektive, verstanden als das Mit- und Gegeneinander simul- tan existierender gesellschaftlicher Gruppen, gesehen werden. Der Genera-

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Einleitung

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Social Media bedeuten für die in diesem Buch diskutierte Generation einerseits eine Möglichkeit, anderen Menschen zu begegnen. Diese Funktion kann als räumlich bezeichnet werden, weil sie früher durch öffentliche oder halb-öffent- liche Räume übernommen wurde. Andererseits erleichtern sie es, Gemeinschaf- ten zu konstruieren. Ein Beispiel für eine solche Gemeinschaft sind die Fans von Justin Bieber. Über 50 Millionen von ihnen nutzen Twitter dafür, um sich mit anderen, die für den kanadischen Sänger schwärmen, zu vernetzen. Während es solche imaginierte Gemeinschaften im Zeitalter der Massenkommunikation schon immer gab, können Social Media sie mit der ursprünglich Räumen vor- behaltenen Möglichkeit der Begegnung koppeln. Das ist oft bequem, meist aber auch die Lösung eines Problems: In der Agglomeration und den Städten gibt es immer weniger Orte, an denen sich Jugendliche unbeaufsichtigt und ohne etwas zu konsumieren versammeln können.

Die Vorstellung einer durch Social Media vernetzten Generation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jugendliche sich in Gruppen organisieren, die sehr unterschiedlich digitalisiert sind. Das ist zwar von regionalen und sozialen Fak- toren abhängig; spielt sich aber auch auf einer Ebene ab, die davon unbeeinflusst bleibt: Jugendliche, die sich nicht am Mainstream orientieren wollen oder kön- nen, haben Zugang zu Subkulturen an ganz anderen Orten und in ganz anderen Gesellschaften. Martin Lindner vertritt in Diskussionen auf Google+ regelmä- ßig die These, Social Media verhelfe abseits von etablierten Bildungsstrukturen zu »persönlichem Empowerment«: Das heißt, die Werkzeuge eröffnen Jugend- lichen Handlungsoptionen, die primär mit ihrer Identität und ihrer persönli- chen Entwicklung zu tun haben, nicht aber mit ihrer Ausbildung oder Bildung.

Gestützt wird diese Beobachtung auch durch eine Untersuchung im Rah- men der Schweizer JAMES-Studie, mit der fünf Typen der Mediennutzung unter Jugendlichen identifiziert wurden (Willemse et al., 2011):

1. Analoge, 29 %

Mehrheitlich gut gebildete, weibliche Jugendliche, die analoge Medien wie Bücher und Briefe weiterhin nutzen. Sie greifen weniger auf das Internet zu.

2. Computerfreaks, 10 %

Mehrheitlich jüngere, männliche Jugendliche mit einer starken Vorliebe für Computerspiele und Filme. Sie nutzen analoge Medien kaum, sind digital gut vernetzt und nutzen den Computer intensiv und innovativ.

3. Informationsorientierte, 24 %

Ländlich lebende Jugendliche, für die das Internet den Zugriff auf Informatio- nen erleichtert. Sie lesen online und offline oft Zeitungen und Zeitschriften, aber kaum Bücher. Ausgeprägtes technisches Knowhow besitzen sie nicht.

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Einleitung

Intermezzo I

Eine Liebeserklärung an die Däumlinge

Michel Serres hat 2012 einen schmalen Essay unter dem Titel Petite Poucette publiziert. Der Titel spielt auf das Märchen Däumelinchen von Hans Christian Andersen an, nimmt aber auch Bezug auf die Enkel von Serres, die er dabei beob­

achtet, wie sie ihre Smartphones flink mit zwei Daumen bedienen. Däumelinchen steht für eine »vernetzte Generation« der »Däumlinge«, an die Serres eine »Lie­

beserklärung« verfasst hat, wie es im Untertitel der deutschen Übersetzung von Stefan Lorenzer heißt.

Im Folgenden sollen knapp wesentliche Gedankengänge des Philosophen prä­

sentiert werden, weil er wie das vorliegende Buch eine Generation in den Blick nimmt, ihre Veränderung aber nicht wissenschaftlich, sondern ihr Potenzial philo­

sophisch deutet.

Als Einstieg soll eine Rede dienen, von der sich Serres vorstellt, dass die ver­

netzte Generation der Däumlinge sie an ihre Väter richtet:

Ihr haltet uns unseren Egoismus vor – aber wer hat ihn uns vorgelebt? Unseren Individualismus – aber wer hat ihn uns gelehrt? Habt ihr es vielleicht geschafft, geschlossen aufzutreten? Scheiden habt ihr euch lassen, weil ihr nicht zusam­

menleben konntet. Und ist es euch etwa gelungen, eine Partei ins Leben zu rufen und am Leben zu halten? Schaut euch nur an, wie heruntergekommen sie sind … Konntet ihr eine Regierung bilden, der alle auf Dauer die Treue hal­

ten? Oder einen Mannschaftssport ausüben? Mußtet ihr nicht dessen Akteure in fernen Ländern rekrutieren, in denen man noch in Gruppen zu leben und zu handeln vermag? Die alten Zugehörigkeiten, die Waffenbrüderschaften, Pfarr­

gemeinden, Gewerkschaften, Familienverbände, sie siechen dahin. Bleiben die Interessenverbände, die auf schamlose Weise der Demokratie im Weg stehen.

Ihr macht euch lustig über unsere Sozialen Netzwerke und unseren neuen Gebrauch des Wortes »Freund«. Habt ihr es je vermocht, euch in Gruppen zusammenzufinden, die von so beträchtlichem Umfang sind, daß die Zahl ihrer Mitglieder sich derjenigen der Menschen nähert? Und ist es nicht klug, sich den anderen zunächst virtuell zu nähern, um sie nicht zu verletzen? Ihr habt nur Angst vor den neuen politischen Formen, die aus diesen Unternehmungen hervorgehen und die alten, obsolet gewordenen wegfegen könnten. (Serres, 2013, S. 36 f.)

Die neue Generation wächst unter radikal anderen Bedingungen auf als ihre Vor­

fahren:

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41 die »Dinosaurier«, wird umgekehrt: Das Schwatzen ist Ausdruck dessen, dass die Privilegien der Mächtigen nicht länger anerkannt werden, weil sie nicht mehr auto­

matisch kompetenter sind als die, welche sie behandeln, regieren oder belehren.

Serres verkündet gar das »Ende des Zeitalters des Wissens«. Wie in der Legende des heiligen Dionysius, der seinen abgeschlagenen Kopf wieder aufgesetzt und sich damit weiterbewegt hat, ist der Kopf als Computer oder Smartphone heute abgeschlagen, externalisiert.

Was aber tragen wir nach der Enthauptung noch auf unseren Schultern? Die erneuernde und lebendige Intuition. In die Büchse ausgelagert, entläßt uns die Bildung an die helle Erfindungsfreude. Großartig: Sind wir dazu verdammt, intelligent zu werden? (ebd., S. 21)

Die Leere, so Serres, sei eine Chance für einen Neubeginn, bei dem es Erfindungen gebe, vom Buch und seiner Seite gelöstes Denken. Die heutigen Werkzeuge, seien sie noch so digital, hätten sich aber noch nicht vom Diktat (oder eben: der Forma­

tierung) der Seite gelöst. Das Zeitalter des Wissens ist das Zeitalter des Buches, die Elektronik habe sich aber vom Buch noch nicht befreit.

Es brauche eine neue Vernunft, fordert Serres, die sich von Ordnungen löst und Labyrinthe des Denkens schaffe und die Departementalisierung des Wissens auf­

löse. Der abstrakte Begriff habe als Werkzeug ausgedient, weil die Rechenleistung von Computern das Absuchen aller Einzelfälle erlaube und keine Verallgemeine­

rungen mehr benötige. Denken werde algorithmisch:

Das Objektive, das Kollektive, das Technologische, das Organisatorische … – sie gehorchen heute diesem algorithmischen oder prozeduralen Kognitiven eher als den deklarativen Abstraktionen, wie sie mehr als zwei Jahrtausende von einer aus den Natur­ und Geisteswissenschaften sich speisenden Philosophie gefeiert wurden. Die denn auch, weil bloß analytisch, dieses Kognitive nicht heraufziehen sieht und das Denken selbst verfehlt – nicht nur seine Mittel, sondern seine Objekte, ja sein Subjekt. Sie geht an unserer Zeit vorbei. (ebd., S. 44)

Das ganze Traktat ist eine Abrechnung mit der Philosophie, die ihre Aufgabe nicht wahrgenommen habe und stehen geblieben sei. Serres vertraut eher den Ingenieuren:

Möge die Komplexität nicht verschwinden! Sie wächst und wird weiter wachsen, weil jeder von den Bequemlichkeiten und der Freiheit profitiert, die sie mit sich bringt; sie charakterisiert die Demokratie. Um aber ihre Kosten zu senken, muß man es nur wollen. (ebd., S. 42)

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Einleitung

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Im letzten Teil wird Serres Essay politischer. Seine Hoffnung auf den Paradigmen­

wechsel, welche das Zeitalter der Wissenschaft zu einem Zeitalter der Algorithmen macht, ist nicht naiv. Er anerkennt eine Reihe von Problemen, unter anderen Arbeit und Datenschutz, die aber, so Serres, durch algorithmisches Denken lösbar seien.

Gedanklich konstruiert der Philosoph auf der dem Eiffelturm gegenüberliegen­

den Ufer der Seine ein neues Gebilde:

Dort der starre, stählerne Turm, der hochmütig den Namen seines Erfinders trägt, die Tausenden aber, die das Bauwerk zusammengenietet haben, dem Vergessen weiht, der Turm, an dessen Spitze sich ein Sender der Stimme seines Herrn befindet. Ihm gegenüber wird mobil, beweglich, bunt, gefleckt, patchworkartig, kaleidoskopisch ein flüchtiger Turm aus Funken chromatischen Lichts tanzen, der das vernetzte Kollektiv repräsentiert, um so wirklicher, aufgrund der Daten jedes einzelnen, als es virtuell, partizipativ – wenn man so will: entscheidend sein wird. (ebd., S. 47 f.)

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Oberflächlichkeit und Narzissmus 107

Ȥ Wer Google nutzt, muss damit rechnen, dass Suchanfragen getrackt werden und Dritte ein Profil der eigenen Vorlieben und Interessen anlegen, das sie an Vierte verkaufen.

So naiv das Vertrauen in große Unternehmen ist, so lähmend ist generelles Miss- trauen. Das Resultat ist fatal, gerade in den Auswirkungen, die dieses Verhalten auf Jugendliche hat: Datenschutz betrifft auch kleinräumige soziale Netze wie eine Schulklasse oder eine Schule. Wie lernen Jugendliche hier grundlegende Kompetenzen, wenn nicht einmal Lehrpersonen und Schulleitungen Daten- schutz verstehen und die eingesetzten Systeme sicher konfigurieren können?

Wie können sie in Zeiten von cloudbasierten Smartphones verstehen, wie sie Datensicherheit herstellen können? Wer hindert Konzerne daran, die Daten von Jugendlichen (und Erwachsenen) ungefragt zu beziehen, wenn die Geheim- dienste aller westlichen Länder mit Regierungsauftrag an diese Daten gelan- gen wollen oder müssen?

In einer Zeit, in der Geheimdienste mit zweifelhafter rechtlicher Grundlage den globalen Datenverkehr abhören, auf Mikrofone und Kameras in jedem Gerät zugreifen können und sensible Daten von Personen speichern, um sie allenfalls als Druckmittel einsetzen zu können, wird es immer schwieriger, die Bedeutung von Datenschutz glaubwürdig vermitteln zu können. Jugendliche brauchen in diesem Themenfeld nicht nur Anleitung, sondern Visionen. Diese sind in einem überschaubaren, lokalen Rahmen zu entwickeln, in dem eine Abgrenzung von den internationalen Datenströmen möglich und sinnvoll ist und Experimente durchgeführt werden können.

3.9 Oberflächlichkeit und Narzissmus

Manchmal zeigt sie mir ihr Netzwerk, scrollt durch Profilfotos, deutet auf Schülerinnen, die kokett in die Kamera blicken: »Ist die nicht hübsch?« Ich nicke. Sie scrollt weiter. »Und die finde ich auch schön.« Etwas hilflos frage ich dann: »Ist sie denn auch nett? Kann sie etwas?« Meine Tochter zuckt mit den Schultern. Das spielt keine Rolle – wie sollte sie es aufgrund eines sol- chen Profils auch wissen? Schließlich war es die Rating-Site »Hot or Not«, die Mark Zuckerberg zu Facebook inspirierte.

Auch zu meiner Zeit ging es in der Pubertät um Status, aber so oberfläch- lich war es damals nicht, bilde ich mir ein. Der Gruppendruck war weniger ausgeprägt, die Sozialkontrolle durchlässiger. (Binswanger, 2013)

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Beziehungen

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Die Betrachtungen von Michèle Binswanger, die als Mutter die Nutzung des Internets durch ihre Tochter beschreibt, nehmen eine verbreitete Vermutung auf: Die Inszenierung auf den verschiedenen digitalen Plattformen führt zu einer Wahrnehmung anderer Menschen, in der wesentliche Eigenschaften und Fähigkeiten von Menschen von geringer, ihr Aussehen und ihr Narzissmus dafür von sehr großer Bedeutung sind. Diese Diagnose muss in doppelter Hinsicht genauer geprüft werden:

1. Gab es nicht schon immer Aspekte des jugendlichen Lebens, die rein ober- flächlich waren? So war es in den 80er- und 90er-Jahren in vielen Regionen üblich, Passbilder von sich zu erstellen und an Freundinnen und Freunde zu verteilen, die damit dann Sammlungen anlegten.

2. Liegt der Auslöser für das Unbehagen nicht in der Effizienz der Kommuni- kationsmittel, die Verwendungsweisen sichtbar machen, die sonst vielen Menschen verborgen blieben?

In Bezug auf Narzissmus sind solche Fragen intensiv untersucht worden.

Gemeint ist damit meist kein klinisches Phänomen, sondern das Gefühl, ein- zigartig und überlegen zu sein und deshalb mehr Beachtung und eine Spezial- behandlung zu verdienen. Narzisstinnen und Narzissten zeigen zwar ein höhe- res Selbstbewusstsein, dieses bedarf aber der kontinuierlichen Bestätigung von außen, es ist äußerst instabil. Diese Bestätigung oder Aufmerksamkeit durch andere kann nicht erwidert werden, weil es an Narzissmus Leidenden an Empa- thie mangelt (Davenport et al., 2014, S. 213).

Eine breite Untersuchung von einem Forschungsteam in North Carolina weist nach, dass Social Media für Narzisstinnen und Narzissten ein wichtiges Betätigungsfeld sind, weil es leicht möglich ist, Aufmerksamkeit für das eigene Verhalten zu erhalten. Narzissmus beeinflusst als einer unter verschiedenen Faktoren die Gründe, weshalb Menschen Social Media nutzen, ist aber für sich genommen ein schlechtes Indiz für bestimmte Verhaltensweisen auf Twitter oder Facebook. Das heißt, Narzissmus kann Beweggründe verstärken, Social Media zu nutzen, ist aber nicht Effekt der Verwendung Neuer Medien und führt auch nicht zu messbar anderer Nutzung. Davenport und sein Team gehen von der Feststellung aus, dass bisherige Arbeiten zu Narzissmus und Social Media widersprüchliche und uneinheitliche Ergebnisse erzielt hätten, was sie damit erklären, dass Social Media zu Verhaltensweisen führen, die sich nicht isoliert auf einer Plattform messen ließen, sondern nur in der Gesamtheit aufschluss- reich seien. Andere Wissenschaftler vertreten klar andere Haltungen in Bezug auf Narzissmus. So zieht der Psychologe Jean M. Twenge ein düsteres Fazit:

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Parasoziale Interaktion 109

Insgesamt legt die vorhandene Forschung nahe, dass Aktivitäten auf Face- book zu mehr Aufmerksamkeit auf das eigene Selbst führen. Weil das in gewissen Fällen zu einer Steigerung von Narzissmus führt, lässt sich daraus geringere Aufmerksamkeit für andere ableiten. (Twenge, 2013, S. 15, über- setzt von Ph. W.)

Louis Leung hat die Verbindung von Narzissmus und Social Media in einer chinesischen Studie vertieft untersucht. Er geht davon aus, dass es grundsätz- lich fünf psychologische Ziele gibt, die Menschen bei der Benutzung von Social Media anstreben:

1. soziale und emotionale Bedürfnisse befriedigen, 2. negative Gefühle ausdrücken,

3. Bestätigung und Aufmerksamkeit erhalten, 4. sich unterhalten,

5. kognitive Bedürfnisse befriedigen. (Leung, 2013, S. 1003)

Narzisstinnen und Narzissten sind dabei am letzten Aspekt kaum interessiert.

Alle anderen Ziele sind für sie bedeutsam, weil sie dabei oft Feedback erhalten, das ihnen die nötige Bestätigung gibt und so weitere Aktivitäten verursacht (ebd., S. 1004).

Betrachtet man die verfügbaren Studien, so kann kaum nachgewiesen wer- den, dass Social Media Narzissmus auslöst oder verstärkt. Vielmehr liegt die Annahme nahe, dass es sich bei sozialen Netzwerken um nahezu ideale Betäti- gungsfelder für Menschen handelt, die narzisstisch veranlagt sind, weil sie damit in kurzen Intervallen Aufmerksamkeit erhalten können und so ihr instabiles Selbstbewusstsein festigen können.

3.10 Parasoziale Interaktion

Die Medienpsychologie beschreibt mit dem Begriff der parasozialen Interaktion die Möglichkeit, mit einer Person eine Beziehung aufzubauen, die nur medial vermittelt existiert. Genauer:

Parasoziale Interaktion beschreibt etwas, das auf den ersten Blick wie eine soziale Interaktion aussieht: zwei Personen handeln in wechselseitigem Bezug aufeinander. Parasozial ist sie deshalb, weil dieses Handeln einseitig stattfindet. Auf der einen Seite steht eine reale Person, die das Gefühl hat,

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5. Was tun?

Wenn ein Internetexperte wie Nico Lumma nach der Generation sucht, die Schuld an den Problemen der digitalen Kommunikation trägt, besonders am mangelhaften Schutz der Privatsphäre, dann richtet er den Blick auf seine eigene Generation:

Wir haben in Deutschland viel zu viel Zeit damit verbracht, kollektiv abzu- warten, ob man noch mal aus dieser Digitalisierungsnummer wieder raus- kommen könnte. Der Zug ist abgefahren, seit mindestens 15 Jahren bereits.

Es kommt jetzt darauf an, dass die beiden Generationen zusammen den Transformationsprozess der Gesellschaft begleiten, damit wir gestärkt aus der Digitalisierung hervorgehen. (Lumma, 2013)

Diese Hoffnung scheint trügerisch. Konzentriert sich die Diskussion auf die Generation von Lumma und »die Generation der aktuell über 50-Jährigen«, verschwindet die Generation »Social Media« aus dem Blick, die aber wohl die digitale Welt bewohnen wird, wie sie heute gestaltet und geformt wird. Ihrer Praxis sollten wir deshalb mehr Aufmerksamkeit schenken und sie genauer beschreiben und beurteilen, weil daraus die Fähigkeit erwachsen muss, die Probleme zu lösen, welche die beiden von Lumma beobachteten Generationen hervorgerufen haben.

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind die Gefahren, die in einer vernetzten Welt durch Geschwindigkeit, Archivierbarkeit und Transpa- renz der Kommunikation hervorgerufen werden, bekannt. Ein umfassender Kontrollverlust hat stattgefunden, der zusammen mit der drohenden Mög- lichkeit flächendeckender Überwachung zu einer enormen Verunsicherung geführt hat.

Der Weg zurück ist verbaut. Beginnen Menschen die Möglichkeiten der Technologie zu nutzen, verzichten sie freiwillig nicht mehr darauf. Gefragt ist ein Blick in die Zukunft, die Gestaltung des Lebens mit der Technologie, nicht

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6. Materialien

Die folgenden Materialien lassen sich jeweils auch digital abrufen und wei- terverarbeiten (unter www.v-r.de beim Titel: Philippe Wampfler, Generation

»Social Media«).

6.1 Smartphone-Etikette für Jugendliche

Die Chance, neue Regeln zu erlernen, zu erproben und umzusetzen, bietet sich beim Smartphone sehr oft. Gleichwohl nerven viele Menschen einander täglich, weil ihre Erwartungen ständig enttäuscht werden. Noch gibt es keine akzeptier- ten Normen, an denen sich alle orientieren sollten. Hier einige Vorschläge für eine Smartphone-Etikette unter Jugendlichen:

1. Mitdenken

Erleben, wie andere Menschen ihr Smartphone nutzen. Die meisten Men- schen finden dabei weniges attraktiv und vieles daneben. Diese Einsichten lassen sich recht direkt umsetzen.

2. Atmen

Wenn der Bus grad zwei Minuten Verspätung hat oder sich am Schalter eine lange Schlange aufgebaut hat: drei Mal tief atmen und dann an etwas Schönes denken. Sich etwas Zeit nehmen. Nicht jede freie Minute mit dem Smartphone füllen. Wer das kann, spürt sich mehr und ist offener.

3. Die Erwartungen anderer bedenken

In einer Welt mit vielen Kontexten ist nicht das anständig, was sich am Sonn- tag in der Kirche und beim Mittagessen mit dem feinen Geschirr gehört, son- dern das, was den Erwartungen der Menschen entspricht, die uns umgeben und mit denen wir interagieren. Wer auf ihre Bedürfnisse eingeht und ihre Erwartungen berücksichtigt, macht vieles richtig. Es gibt Raum für indivi- duelle Lösungen. Den sollte man nutzen.

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