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Archiv "Der Narziß in der Menschenleere: Wider eine ptolemäische Anthropologie" (22.11.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Ulrich Horstmann

Der Narziß in der

Menschenleere

Wider eine ptolemäische Anthropologie

Ein auffälliges Merkmal des Men- schen ist seine Ich-Sucht und Ei- genliebe, eine bis zur Selbstanbe- tung sich steigernde Hochschät- zung, die schon in der klassischen theologischen Definition der Gat- tung als „Krone der Schöpfung"

aufscheint und die die Wissen- schaft mit ihrer Rede vom „homo sapiens" ungebrochen tradiert.

Allerdings hat eben dieser „homo sapiens" in der Geschichte ein gut Teil seiner Weisheit darauf verwenden müssen, sich über die zahllosen Enttäuschungen seines unmäßigen Gattungsnarzißmus hinwegzutrösten und einen zu- nehmend unhaltbar werdenden naiven Anthropozentrismus aus- zutauschen gegen sublimere und deshalb auch schwerer zu durch- schauende Formen der Selbst- bespiegelung.

Beispielhaft für solche Ausweich- und Auffangmanöver ist der Zu- sammenbruch des ptolemäischen Weltbildes am Beginn der Neu- zeit, die sogenannte „kopernika- nische Wende" also. Diese Wen- de, die die Erde aus dem Zentrum der Welt rückte und die sie später

— am radikalsten bei Giordano Bruno — in einer virtuellen Unend- lichkeit von Sonnen und Planeten- systemen sich verlieren sah, war ein Schlag ins Gesicht der unre- flektierten und selbstverliebten Gewißheit, wenn schon nicht in Abrahams Schoß, so doch wenig-

Wolfgang Petrick: „Feuertag", 1981- 1983, Eitempera, Öl, 240x180 cm

stens im Mittelpunkt der himmli- schen Sphären zu leben und also das Lebewesen zu sein, um das

sich alles dreht. Diese von Freud so genannte „kosmologische Ent- täuschung", der später noch die

„biologische" des Darwinismus und die von Freud selbst zu ver- antwortende „psychologische Enttäuschung" folgen sollten, galt Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 47 vom 22. November 1984 (77) 3517

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Narziß

Wolfgang Petrick: links „Großstadt", 1976/77, Reliefzeich- nung, 195 x 160; rechts „In Sicherheit", 1972/73, Acryl

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

es in der Renaissance zu verarbei- ten und — wenn möglich — verges- sen zu machen. Und eben das ge- lang über die Entwicklung einer neuen, gleichsam autoerotischen philosophischen Perspektive, nämlich der des Humanismus, wie sie als einer der ersten etwa Pico della Mirandola in seiner 1486 ver- faßten Schrift „De dignitate homi- nis" skizziert.

Selbsterkenntnis als Selbstgenuß Der Humanismus stellt im Kosmos des Geistes und des Geistigen eben jenen in der realen Kosmo- logie abgewirtschafteten Ptole- mismus wieder her, indem er den Menschen im Zentrum des Wis- sens inthronisiert und nach der später bei Alexander Pope kodifi- zierten Maxime verfährt: „The proper study of mankind is man" — also frei, alles eigentliche Wissen ist Wissen über den Menschen und dient somit seiner Selbster- kenntnis und — wie wir hinzufügen müssen — seinem Selbstgenuß.

Das anthropozentrische Apriori

des Humanismus, das einem lä- dierten Selbstwertgefühl so er- folgreich über sein tiefes koperni- kanisches Enttäuschungserlebnis hinweghalf, daß es noch heute als Formel kultureller Selbstdefini- tion in Kraft ist, wird nun ausge- rechnet in einem Weltkontext auf- gestellt, der durch nichts so ein- deutig definiert ist wie seine un- menschlichen Dimensionen und Proportionen. Die Diskrepanz ist ungeheuerlich, die Paradoxie kaum mehr überbietbar. In einem beobachtbaren All, in dem auf je- den der heute lebenden Men- schen größenordnungsmäßig nicht eine Sonne, sondern eine ganz Galaxie mit ihrerseits Milliar- den von Sternen kommt, in einem solchen Kosmos insistiert der Hu- manismus unbeirrt auf seiner anthropozentrischen Perspektivik und redet sich ein, der Mensch sei das Telos der Evolution und der archimedische Punkt allen Nach- denkens.

Der willkommene Nutzertrag der monotonen Beteuerung der Zen- tralität und Schlüsselstellung des

Menschen ist die autohypnotische Bestätigung der eigenen Unver- zichtbarkeit. Wem von allen Sei- ten versichert wird, er sei als Ho- herpriester seiner selbst der ein- zig legitime Exeget der Natur, der

kann sich aus dieser Natur nicht mehr wegdenken und meint, das Elementare vermöchte nicht mehr weiterzuexistieren ohne ihn. Und doch lehrt uns die Naturwissen- schaft das genaue Gegenteil, führt uns unmißverständlich vor Augen, daß das durchgängige Merkmal des kosmischen Raums, der Tiefen des Alls, ja sogar unse- rer eigenen Erdgeschichte nicht die Gegenwart, sondern die Ab- wesenheit des Menschen ist und daß alle Forschung, die die unmit- telbare Oberfläche unseres Plane- ten verläßt oder den Zeitraum der letzten drei oder vier Millionen Jahre tumszendiert, in ein huma- nistisches Vakuum vorstößt.

Humanistische Nabelschau Die Menschenleere erscheint so als die primordiale Rahmenbedin- 3518 (78) Heft 47 vom 22. November 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Narziß

gung unserer Existenz, ist — wie übrigens schon früheste Schöp- fungs- und Kataklymusmythen be- zeugen — das, woraus wir aufge- taucht sind, und das, worin wir wieder verschwinden werden.

Solche realitätsgerechte und, wie ich es nenne, anthropofugale Sicht gilt es in der Philosophie wiederzugewinnen und gegen die humanistische Nabelschau zu ver- teidigen. Und die Rekonstruktion eines Denkens, dem der Star des Anthropozentrismus gestochen ist, ist deshalb so dringlich und unaufschiebbar, weil allein eine jahrhundertelang verschüttete menschenflüchtige Perspektive uns heute die bitter nötige Orien- tierung und „Existenzerhellung"

zu liefern vermag.

Wolfgang Petrick: „Landschaft", 1983, überarbeitete Radierung, 50 x 35 cm

Wir leben — wie Günther Anders verdeutlicht — in einer Endzeit, im Präapokalyptikum, in einer Phase möglicher Selbstauslöschung und der entsprechend hysterischen Reaktionen. In dieser Situation kommt es zu einer Inflation huma- nistischer Sinnangebote und zu mühsam kaschierten religiösen Erweckungswellen wie der soge- nannten Friedensbewegung. Alle diese Phänomene sind zugleich Dokumente wie aktionistische Verschleierungen der tiefen Rat- losigkeit und Überforderung an- thropozentrischer Weltdeutung.

Angesichts einer Menschheit, die sich anschickt, den Urzustand der

Menschenleere wiederherzustel- len, versagen die traditionellen Erklärungen in eklatanter Weise, und der Humanismus kann nur noch „verstehen", indem er den Sinn dieses Prozesses überhaupt leugnet und sich auf eine hilflose Betriebsunfallmetaphorik zurück- zieht.

Das Paradies ist die Abwesenheit des Menschen

Diese denkerische Kapitulation gestattet die schon lange überfäl- lige Rehabilitierung einer ge- wöhnlich als „Pessimismus" und

„Misanthropie" verketzerten Ge- gen- und Unterströmung neuzeit- lichen Philosophierens von de Maistre über Schopenhauer, Eduard von Hartmann und Ludwig Klages bis zu Koestler und Fou- cault. Das Ergebnis solcher an- thropofugalen Bestandsaufnahme ist dann von ernüchternder Ein- deutigkeit, verliert der Mensch doch endgültig seine weihevolle humanistische Aura. Sichtbar wird vielmehr jetzt die Vernichtungs- maschine, das Monströse, das sich auslebt in der umgebenden Natur bis zu seiner eigenen Selbstzerstörung. Denn erst im Rausch der Bemächtigung, des Vergewaltigens, Ausbeutens und Vertilgens kommt dieses Wesen zu sich selbst, das sich Erdengott und Übertier dünkt und ein Untier ist, das sich als Subjekt der Welt- geschichte spreizt und doch im Endeffekt nichts vorzuweisen hat als das exponentielle Wachstum seiner Nachkommenschaft und des kollektiv zu verantwortenden planetarischen Leidens.

„Das Paradies ist die Abwesenheit des Menschen", dieser Aphoris- mus E. M. Ciorans ist das letzte Wort der anthropofugalen Ver- nunft, aber auch ihre einzige Ver- heißung. Und deshalb wird Cioran nicht müde, die Verlockungen des Untergangs vor uns auszubreiten, die „Lehre vom Zerfall" (Klett- Cotta 1979) in einer beispiellosen Prosa auszuformulieren und uns 3520 (80) Heft 47 vom 22. November 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Narziß

Wolfgang Petrick:

„Großstadt", 1977, Reliefzeichnung, 195 x 160 cm;

Fotos: Goertz, Littke- mann, Ruppenthal, Weidling (2)

Über den Autor

Ulrich Horstmann, ge- boren 1949, ist Hoch- schullehrer und Schriftsteller, er lehrt Anglistik an der Uni- versität Münster; sei- ne jüngsten Veröf- fentlichungen: 1983 erschien (Medusa, Berlin/Wien) „Das Un- tier, Konturen einer Philosophie der Men- schenflucht", 1984 (Edition Herodot, Göt- tingen) „Hirnschlag:

Aphorismen, Abtesta- te, Berserkasmen", im Dezember wird der Suhrkamp Verlag Horstmanns Roman

„Das Glück von OmB'assa" heraus- bringen. In seinem

„Untier" plädiert der schonungslos argu- mentierende Profes- sor aus Münster offen und ohne Ironie für die unwiderrufliche Abschaffung des Menschentiers, das der Schöpfung Paria und Entarteter ist. DÄ

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„Vom Nachteil geboren zu sein”

(Suhrkamp 1977) in Kenntnis zu setzen.

Es ist hohe Zeit, denn von den Pforten des Paradieses der Men- schenleere, das uns solange ver- schlossen und nur den Expeditio- nen anthropofugaler Spekulation zugänglich war, sind schon die Riegel zurückgeworfen. In den Si- los nistet das Unheil, das allem Unheil ein Ende bereiten wird, und wir alle schon sind letzte Menschen, Endzeitler, Nachge- burten, Abdecker unserer selbst und unserer Traditionen:

„Wir sind die großen Altersschwa- chen ... Totengräber der Zu-

kunft . Unser Fleisch hat den Gestank der schönen Kadaver ge- erbt, die über Jahrtausende hin verstreut liegen. Ihr Ruhmesglanz bestrickt uns: wir haben ihn aus- gekostet bis zur Neige. Auf den Friedhöfen des Geistes ruhen Prinzipien und Formeln: das Schöne wurde definiert — es liegt hier begraben. Und ebenso das Wahre, das Gute, das Wissen und die Götter. Sie alle verwesen hier.

... Und über einer Unzahl von Grabplatten, unter denen Delirien und Hypothesen ruhen, erhebt sich das Mausoleum des Absolu- ten: hier sind die falschen Trö- stungen bestattet und die trügeri- schen Höhenflüge der Seele."

(Cioran, Lehre vom Zerfall)

Unsere letzten Höhenflüge wer- den denn auch seelenlos sein; sie folgen den ballistischen Kurven jener Waffen, mit denen der Krieg uns und sich selbst auslöscht.

Dann ist die Ahnung Immanuel, Kants, daß der ewige Frieden „auf dem großen Kirchhofe der Men- schengattung" geschlossen wer- de, Gewißheit geworden, dann hat das Morden ein Ende, dann be- ginnt, was war: die ewige Selig- keit des Versteinerten und der Steine.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Ulrich Horstmann Coerdestraße 31

4400 Münster

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 47 vom 22. November 1984 (83) 3521

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