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Hitler hat Nietzsche — aller Wahrscheinlichkeit nach — nie gelesen.

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Wenn Nietzsche eines war, dann war er wahrhaftig, redlich bis zur letzten Konsequenz. Er war zugleich jemand, dem man nicht trauen kann. Seine Redlichkeit — das ist eine seiner Seiten. Das Spiel mit der Maske ist eine andere. Nietzsches Wahrhaftigkeit bedurfte der schützenden Maske. Er hat sich ihrer virtuos bedient, und man hat sich vorzusehen, ob hinter der ersten nicht die zweite und hinter dieser nicht die dritte zum Vorschein kommt.

Man darf Nietzsche nicht wörtlich nehmen, und man darf ihm nicht alles glauben. Sein Werk war Spiel, und als Spiel war es Kunst. Was er bot, war

„nicht nur Kunst, — eine Kunst ist es auch, ihn zu lesen, und keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschlagenheit, Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre. Wer Nietzsche .eigentlich' nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren"1.

Gleichwohl, Nietzsche hat es ehrlich gemeint, wenigstens mit denen, die bereit sind, Selbstdenker, und das heißt, weder Jünger noch fanatische Gegner zu sein. Er hatte sie nicht verdient, die Nachbeter und Verächter, die ihm folgten. Er hatte es nicht verdient, daß man ihn — immer schon — kannte und daß jeder zu wissen meinte, wohin er gehörte. Ob der „Übermensch"

Mode wurde oder die Boheme den neuen Gott Dionysos feierte, ob konserva- tive Revolutionäre, Faschisten oder Nationalsozialisten sich seiner bedienten, ob man ihn als Anarchisten denunzierte oder als Ideologen des Kapitalismus beschimpfte — stets wußte man, wer dieser Nietzsche war. Er hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle des Kriegsverbrechers gespielt. Lange Zeit schien er vergessen, und nun ist er auf der politischen Bühne wiedergekehrt, gefeiert von jenen, die ihn von der rechten auf die linke Seite zerren, als eine Art Über-Marx und Über-Freud, befreiend von Religion und Metaphysik, von Staat und Autorität, vom Zwang des Denkens und der Sprache überhaupt.

Nietzsche rechts, Nietzsche links — haben wir nichts gelernt?

Man darf Nietzsche nicht wörtlich nehmen, und man darf ihm nicht alles glauben. Und doch ist gerade er immer wieder beim Wort genommen worden.

Er hat politisch gewirkt wie wenige Autoren des 19. Jahrhunderts, vergleich- bar nur mit Hegel oder Marx. Schon um die Jahrhundertwende war Nietzsche

1 Th. Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), in: B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur Bd. I, Tübingen 1978, 293.

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allerorten, verglichen von den einen mit dem radikalsten aller Linkshegelianer, Stirner, verstanden von den anderen als Sprachrohr eines radikalen Aristokra- tismus, bekämpft von Sozialisten als ein politischer Philosoph, der nur schöner sagt, was ein Börsenjobber denkt. Nietzsche als ein Ereignis der deutschen Sprache, das war es vielleicht sowieso, was mehr als jede inhaltliche Botschaft dem Werk zum Siegeszug verhalf. Die Geschichte der deutschen Literatur ist zwischen 1890 und dem Zweiten Weltkrieg immer auch Geschichte einer Nietzschewirkung gewesen, und man könnte eine eigene politisch-literarische Chronik des Kulturereignisses Nietzsche schreiben, reichend von der Mode des Übermenschen und dem Renaissancismus über die jungen Brüder Mann und ihre Wandlungen bis zu Benn oder den Brüdern Jünger, um nur einige der Namen zu nennen, die für das Schicksal des deutschen Geistes, seine Chancen und Gefahrdungen stehen.

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Es sind die suggestiven Bilder, die sich tief ins kollektive Unbewußte eingegraben haben: Mussolini, den das Nietzsche-Archiv als den „herrlichsten Jünger" Zarathustras feierte; Hitler, der die Schwester des Philosophen besucht und Nietzsches Spazierstock zum Geschenk erhält, Ironie des Okka- sionellen in nahezu welthistorischem Ausmaß. Zarathustra wollte keine Jün- ger, er wollte keine Schüler, die sich auf die Lehre wie auf eine Krücke stützen. „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt."

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Nietzsche rief zu einer Selbstverantwortung radikalsten Ausmaßes auf, alle moderne Autonomie auf ihre individualistische Spitze treibend, die Solitärperson als Richter und Gesetzgeber ihrer selbst allein.

Und dann nimmt der den Spazierstock mit, durch den das Ende aller Aufklä- rung und Autonomie, der Sieg der Herde und der Horde über den Einzelnen seine bisher größten Triumphe gefeiert hat!

Hitler hat Nietzsche — aller Wahrscheinlichkeit nach — nie gelesen.

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Es hat all jene nicht gestört, die von Nietzsche bis Hitler immer nur die Kontinui- tät des deutschen Sonderweges oder jene schiefe Ebene erkannten, die vom Kapitalismus zum Faschismus führen soll.

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In Wahrheit hätte man — in

2 B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde, a. a. O., vermittelt einen trefflichen Überblick.

3 Za, Von der schenkenden Tugend, KGW VI/1, 97.

4 Er erwähnt Nietzsche beiläufig dreimal (eine äußerst fragwürdige Überlieferung von Rau- schning eingeschlossen). N. H. Baynes: The Speeches of Adolf Hitler I, London 1942, 478, zit. nach E. Sandvoss: Hitler und Nietzsche, Göttingen 1969, 87; H. Rauschning: Gespräche mit Hitler, Wien o. J., 231/232; H. A. Turner: Hitler aus nächster Nähe — Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929-1932, Frankfurt a. M. 1978, 419. In „Mein Kampf, den „Tischgesprä- chen" oder den Aufzeichnungen von 1905—1924 (E. Jaeckel/A. Kuhn [Hrsg.]) kommt der Name Nietzsche nicht vor.

5 Eine kleine Literaturauswahl: M.-P. Nicolas: De Nietzsche ä Hitler, Paris 1936; O. Flake:

Nietzsche. Ein Rückblick auf eine Philosophie (1946), Frankfurt a.M. 1980; G. Müller:

Nietzsche und die deutsche Katastrophe, Gütersloh 1946; E. Barthel: Nietzsche als Verführer,

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Abwandlung eines Wortes von Karl Kraus — sagen müssen, Hitler fiel zu Nietzsche nichts ein, Rosenberg im Grunde auch nicht6, und was beiden

„einfiel", war allenfalls, daß sich Nietzsche nutzen ließ als Reputationsanleihe für ein System, das diese bitter nötig hatte. Nietzsche wurde kulturpolitisch vereinnahmt, für Schule und Erziehung, Rassenpolitik und Eugenik, für die Predigt der Härte und die Abkehr von der Religion des Mitleids, für neues Heidentum und neuen Staat, für den Krieg und — man staune — den Sport.7

Ein immer noch nicht ganz erschlossenes Phänomen der Wirkung — aber war es denn eines, das uns Nietzsche verstehen hilft?

Nationalsozialisten, die Nietzsche lasen, haben vor ihm gewarnt.8 Ein Freund des Zweiten Reiches oder der Machtpolitik der Epoche war Nietzsche eben nicht, und auch völkisch, antisemitisch oder nationalistisch hatte er nicht gedacht. Im Gegenteil! Nationalsozialistische Nietzsche-Traktate, das sind zumeist unerträglich popularisierende, simplifizierende, absichtsvolle opuscula. Anspruch auf philosophischen Tiefgang haben sie nicht erhoben.

Und eigentlich nur eine Nietzschedeutung dieses Lagers ist von philosophi- schem Rang: A. Baeumlers „Nietzsche, der Philosoph und Politiker"9. Dieses Werk freilich hat Nietzsche unzulässig nationalisiert und germanisiert, zum antiwestlichen Denker verkürzt, der einen „Siegfriedangriff auf die Urbanität des Westens" geführt haben sollte. Wo es philosophisch wurde, bot es eine nicht ungeschickte, aber doch durchsichtige Nietzschehalbierung: Nietzsche nur als Lehrer des „Willens zur Macht", nicht als Denker auch der Wiederkehr, und nur durch diese Halbierung konnte der Anschein erweckt werden, daß Nietzsche „zeitgemäß" sei.

Baden-Baden 1947; K. Algermissen: Nietzsche und das Dritte Reich, Celle 1947; A. v.

Martin: Geistige Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs. Hegel. Nietzsche. Spengler, Recklinghausen 1948; G. Lukäcs: Von Nietzsche bis Hitler, Frankfurt a. M. 1966 (Auszüge aus „Die Zerstörung der Vernunft"); E. Sandvoss: Hitler und Nietzsche, a.a.O.; K. R.

Fischer: Nazism as a Nietzschean .Experiment', in: Nietzsche-Studien 6 (1977) 116—123.

6 Weder für den „Mythos des 20. Jahrhunderts" noch für „Blut und Ehre" spielt Nietzsches Philosophie eine Rolle. Die spärlichen Erwähnungen: A. Rosenberg: Blut und Ehre. Ein Kampf für die deutsche Wiedergeburt. Reden und Aufsätze, Th. v. Trotha (Hrsg.), München 2^1939, 260, 297; ders.: Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München «1934, 529/530.

7 Eine Vielzahl dieser opuscula hat die Dissertation von H. Langreder erschlossen, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches, Diss. Kiel 1971.

8 Z. B. H. Härtle: Nietzsche und der Nationalsozialismus, München 1937; ders.: Friedrich Nietzsche. Der unerbittliche Werter des 19. Jahrhunderts, in: Der Schulungsbrief 4. Jg., 8.

Folge (1937) 290-292, 295-299; E. Krieck: Leben als Prinzip der Weltanschauung und Problem der Wissenschaft, Leipzig 1938, z. B. 59; Chr. Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938, 160, 212, 214, 335, 376; G. Lutz: Nietzsche, in:

Das Deutsche in der deutschen Philosophie, Th. Haering (Hrsg.), Stuttgart-Berlin 21942, 454.

9 A. Baeumler: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 31940.

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Auch der italienische Faschismus taugt als Kronzeuge für einen

„faschistischen" Nietzsche nicht. Es ist wahr, Mussolini hat Nietzsche gelesen, und er hat aus der Philosophie des „Willens zur Macht" eine

„filosofia della forza" machen wollen.10 Er hat es pikanterweise getan, als er noch Sozialist war und sich in seinem Denken Einflüsse von Marx, Sorel und Nietzsche kreuzten. Das Ergebnis war dementsprechend eklektisch, der Sozialismus als Kampf und Aktion, das Leben als Abenteuer und Tanz auf dem Vulkan, der Übermensch als ein antikapitalistisches Symbol, verkörpert in der proletarischen Elite — und das vorgeführt an einem Denker, dem der Sozialismus als „Tyrannei der Geringsten und Dümmsten"

gegolten hatte!11

Wenn nicht Nationalsozialismus oder Faschismus, war denn die konser- vative Revolution die legitime Nachlaßverwaltung des Erbes Nietzsches?

Gewirkt hat er bei den Dichtern und Denkern dieser Bewegung doch wohl, Nietzsche als Vorbild für die Abkehr von der christlichen Zeitvorstel- lung, die durch die Bilder von Kugel und Kreis abgelöst wird, Nietzsche als Diagnostiker und Arzt des Nihilismus, Nietzsche als Lehrer der Wiederkehr, die zum Sinnbild einer Fortschritt und Moderne verabschieden- den Geschichtsphilosophie wurde.12 Wer wollte, konnte sich von Nietz- sches „Pathos der Distanz" und von seiner Kritik an der Herde Mut machen lassen für den verächtlichen Blick auf die parlamentarische Demokratie und die „Herrschaft der Minderwertigen", und so hat Nietzsche in der Tat gewirkt. Aber die konservative Revolution ist nicht als ganze nietzscheanisch, wenig, ja fast gar nichts von Nietzsche findet sich etwa bei E. J. Jung, und es ist wohl kein Zufall, daß dieser oft von Gott und Christentum sprechende Politiker Nietzsches „neue Werte", wenn er sie einmal erwähnt, für die alten, d. h. die christlichen, hält.13 A. Moeller van den Bruck hat Nietzsche als Individualisten, als Kulturanarchisten, ja als Tschandala kritisiert.14 Nietzsche für die konservative Revolution einspannen zu wollen, das erforderte, daß man den „Willen zur Macht"

mit Machtpolitik, die Gegnerschaft gegen Reich und Nationalismus mit der Befürwortung derselben gleichsetzte.15 Und was diese philosophierenden

10 B. Mussolini: La Filosofia Deila Forza, in: Opere Omnia Di Benito Mussolini Bd. I., E./D.

Susmel (Hrsg.), Firenze 1951, 179-183.

11 E. Nolte: Marx und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini, in: Historische Zeitschrift 191 (1960) 2 4 9 - 3 4 5 .

12 A. Möhler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918—1932, Darmstadt 21972, 86, 109.

13 E. J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, Berlin 21930, 36.

14 A. Moeller van den Bruck: Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen Bd. I. Tschandala Nietzsche, Berlin-Leipzig 1899, 19, 48, 50/51.

15 Fr. Hielscher: Das Reich, Berlin 1931, 200.

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Herrschaften von der „ewigen Wiederkehr" verstanden, es war — man verzeihe! — weniger Nietzsche als Philosophie aus zweiter Hand.16

Nietzsche rechts — Nietzsche links. Auch bei seinen linken Schülern und Gegnern ist es Nietzsche kaum besser ergangen. Wer ihn als Anarchisten verdächtigen wollte, konnte darauf verweisen, daß dieser Nietzsche Individua- list war, Lehrer einer radikal individualistischen Autonomie, Gegner nicht nur des zeitgenössischen Staates, sondern oft des Staates überhaupt. Aber dieser Nietzsche hat mit aller Deutlichkeit den Anarchismus seiner Zeit als Ausdruck der Ohnmacht, des Ressentiments, des Nihilismus verworfen. Und so sehr da oft die Feindschaft durchbrach gegen den „Götzen" Staat, Herr- schaft hat dieser Nietzsche gefordert, oft Herrschaft in ihrer härtesten Form.

Nietzsche und der Sozialismus, dieses Kapitel der Nietzschewirkung ist noch nicht geschrieben. Nietzsche hat den Sozialismus seiner Zeit verworfen, er galt ihm als Gefahr für Kultur, Politik und sein Ideal des Menschen. Es ist ihm bis heute nicht verziehen worden. Seit Mehring und Lukäcs ist ausgemacht: hier ist ein Apologet des Kapitalismus, des Imperialismus und des Faschismus.17 Zwar wird heute nicht mehr die ungebrochene Kontinuität zwischen Nietzsche und dem Faschismus behauptet, wie sie Lukäcs verstand;

zwar findet der Dichter Nietzsche eine gewisse Anerkennung, und Antibour- geoises bei Nietzsche stößt nicht mehr per se auf ungläubiges Kopfschütteln.

Aber der Politökonomismus hat sich im Grunde nur präzisiert, Nietzsche nun angesiedelt am Punkte des Umschlags vom Konkurrenz- zum Monopol- kapitalismus.18 Im Giftschrank stehen seine Werke auch noch heute, und die Folgen sind zu bedauern. Die linke Nietzschewirkung, auch sie ein Wirkungsphänomen ersten Ranges, wird übersehen19; das Thema „Nietzsche und Marx" bleibt ein Desiderat, und man kann nur vermuten, daß es da doch einiges zu entdecken gäbe bei diesen Protagonisten eines unterschiedlichen Endes der Philosophie, bei diesen Kritikern der Ideologie und Jüngern des Prometheus, bei diesen manchmal durchaus vereinten Gegnern der bürgerli- chen Gesellschaft, bei diesen Philosophen, die beide versuchen, den Menschen

16 So macht A. Moeller van den Bruck aus der „ewigen Wiederkehr" eine Art von platonischer Idee, jedenfalls ein sich durchhaltendes Substrat, das „bald vortritt, bald zurücktritt", Das Dritte Reich, Hamburg 31931, 169.

17 F. Mehring: Nietzsche gegen den Sozialismus (1897), in: Gesammelte Schriften Bd. 13, Th.

Höhle u. a. (Hrsg.), Berlin 1961, 167 ff.; G. Lukäcs: Der deutsche Faschismus und Nietzsche, in: F. Mehring/G. Lukäcs: Friedrich Nietzsche, Berlin 1957, 85 ff.

18 E. Behler: Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 80—97; kennzeichnend für eine kleine Lockerung bei bleibender Enge S. F. Oduev:

Auf den Spuren Zarathustras, Köln 1977.

19 R. Hinton Thomas: Nietzsche in German politics and society 1890—1918, Manchester 1983;

die Artikel von A. Venturelli, E. Behler und V. Vivarelli, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 448ff., 503ff., 521 ff.

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in die Natur zurückzuübersetzen. Und könnten nicht auch die Differenzen aufschlußreich sein? Szientismus, Fortschrittsglaube und letztlich ungebro- chene Modernität beim einen, ein Denken schon jenseits solcher Züge des 19. Jahrhunderts beim anderen?

Heute lassen die „kritische Theorie" oder die italienische und französische Niet^schere^eption die Nietzschefeindschaft des Marxismus-Leninismus verges- sen. Die „kritische Theorie" kann die Aktualität einer Philosophie sehen lehren, die bereits von den „Interessen" der Erkenntnis ausgegangen war, und die „Dialektik der Aufklärung" bietet das Niveau, auf dem man über Nietzsche sprechen kann und muß.20 Nietzsches Politik und Philosophie waren eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren Mög- lichkeiten und ihrer Dialektik, und es ist nicht einmal ausgemacht, daß sie, wie es in Frankfurt heißt, in Gegenaufklärung versandet sind. Die avantgardistische, sich auf Nietzsche berufende Philosophie im Italien und Frankreich von heute, nachheideggerisch und poststrukturalistisch, auch sie läßt, modischen Zügen und lauten Worten zum Trotz, ahnen, was bei Nietz- sche verhandelt wird, ein metaphysikkritisches und unerhört modernes, ein

„subversives" und ein „nomadisches", ein gegen die Grenzen des modernen Machtwillens und der ratio bereits anlaufendes Denken, unterwegs schon zu Zeiten, die man heute postmoderne nennt.21

Vielleicht war Nietzsche in der Tat „das größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte" (G. Benn), und vielleicht mag mancher da noch auf Entdeckungsreise gehen wollen.22 Wir meinen: Nietzsches Politik und Philosophie zu deuten, muß heute Aufgabe eher der Legendenzerstörung als der Legendennachspürung sein. Weder Nationalist noch Freund des Zweiten Reiches, weder Apologet des Kapitalismus noch Imperialist, weder Rassist noch Faschist, weder Sozialist noch Anarchist ist Nietzsche gewesen. Was war er dann? Es ist eine Frage, die man mehr mit Nietzsche als im Blick auf seine Wirkung zu entscheiden hat. Studien des Typs „Nietzsche und . . . " gibt es nicht wenige, aber wie schreibt man sie — ohne ein Bild von Nietzsche selbst?

Viele Irrwege der Nietzschewirkung verdanken sich der Tatsache, daß man Nietzsche, sei es in die Tagespolitik, sei es in die Schablonen üblicher

20 Die Beziehungen der Frankfurter Schule zu Nietzsche sind dargestellt bei P. Pütz: Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie, in: Nietzsche-Studien 3 (1974) 175ff.; R. K . Maurer:

Nietzsche und die Kritische Theorie, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1982/82) 34ff.

21 Über diese Strömungen informiert F. Volpi: Nietzsche in Italien, in: Philosophischer Literatur- anzeiger 31 (1978) 1 7 0 - 1 8 4 , 34 (1981) 1 6 5 - 1 8 2 ; G. Vattimo: Nietzsche heute?, in: Philoso- phische Rundschau 24 (1977) 6 7 - 9 1 .

22 Eine unerschöpfliche Quelle dazu die beiden Bände von F. Krümmel: Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin 1974, 1983.

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politischer Richtungen, sei es in das Prokrustesbett reiner Politik gepreßt hat.23 Er kannte nur Politik mit Philosophie, keine ohne. Und er hat in Politik wie Philosophie die Grenzen des Üblichen gesprengt.

Wer nach Nietzsches politischer Philosophie sucht, beginnt gewöhnlich mit der Frage, wie Nietzsche zur Geschichte der Deutschen steht. In der Tat, Nietzsche hat so angefangen, er war auf der Suche nach einer politischen Mythologie der Deutschen. Aber schon am Anfang war mehr. Nietzsche ist seinen eigenen Weg gegangen, und dieser hat ihn von der Sehnsucht nach der Wiedergeburt des „griechischen" Geistes im deutschen zu Aufklärung und Europäertum sowie schließlich zu einer Philosophie geführt, welche die Probleme der ganzen europäischen Kultur, ihre Stellung zu Griechentum und Christentum, moderner ratio und moderner Freiheit, mit den großen Begriffen

„Nihilismus" und „Wiederkehr", „Wille zur Macht" und „Übermensch" neu zu bedenken versuchte. Das waren Verwandlungen, die aus dem Deutsch- Griechen (Teil A) den Europäer und Freigeist (Teil B) sowie schließlich den Philosophen des „Menschen" und der „Erde" werden ließen, dem es um alles ging, was in der Moderne auf dem Spiele steht (Teil C).

Nietzsches frühe Politik war Kulturpolitik, und zu ihr gehörte die Artisten- metaphysik, die das Dasein durch die Kunst rechtfertigen sollte. Sie verwan- delte sich in eine Eman^ipationsphilosophie, Freigeisterei genannt, die Nietzsche bis zu ihrer Dialektik führte. Und am Ende stand die ,große Politik, deren Verständnis die größten Rätsel aufwirft. Immer freilich hat Nietzsche nicht nur eine Auseinandersetzung mit den alten Fundamenten unserer Kultur, sondern eigentümlich auch mit ihren modernen gesucht, und es verbindet seine verschiedenen Entwürfe, daß sie allesamt Erprobungen von Konstella- tionen sind, in denen das Denken überhaupt zur Moderne stehen kann.

Der junge Nietzsche hoffte auf die Wiedergeburt des tragischen Mythos der Griechen, und er war bereit, diesem Ideal der Kultur und Politik die politische Moderne in Bausch und Bogen zu opfern. Das klang antikisierend und nur antimodern, und doch war schon hier die Spitze höchster Modernität, der Mensch ein Prometheus und feuerbachianischer „Siegfried", ein Selbstge- setzgeber und Schöpfer der Kultur. Am Ende einer rationalistisch leerlaufen- den Moderne wollte Nietzsche zurück zum Mythos, im Prozeß einer bereits fortgeschrittenen Säkularisierung suchte er die Aura der Kunst, die, nach der Religion, Mittel der „Erlösung" wird.

Anders stand für einige Jahre Nietzsche, der Freigeist, zu Aufklärung und Modernität. Nietzsche wird Vater einer ursprungslosen „kritischen Theorie",

23 Nur politisch deutet Nietzsche immer noch T. Kunnas: Politik als Prostitution des Geistes.

Eine Studie über das Politische in Nietzsches Werken, München 1982. Kunnas trifft bereits manche der Legenden, will aber „die politischen Ideen Nietzsches von seiner unpolitischen Philosophie unterscheiden" (153), so daß die Ergebnisse freischwebend verbleiben.

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und er wird Lehrer einer immoralistischen „Moral", die nur souveräne Selbstge- setzgeber noch anerkennen will. Da ist für einige Jahre Hypermodernität und sonst gar nichts, aber diese schlägt dialektisch um, Nietzsche geht den Weg der Aufklärung in den Nihilismus nach, den Weg vom Zweifel zur Verzweiflung für eine Emanzipation, die am Ende nichts mehr zu verlieren hat.

Die späte Philosophie von Macht und Wiederkehr hat die Eindimensiona- lität von Nietzsches Aufklärungsphilosophie nicht mehr. Man kann sie kriti- sieren als den unmöglichen Versuch, von der Spitze der Modernität zur Antike zurückkehren zu wollen (Löwith), und antikisierend ist diese Lehre in der Tat, Weg zurück bis zur vorsokratischen Welt. Auch sind unverkennbar Züge der Hypermodernität. Wer erkennt sie nicht im Symbol des „Übermen- schen" oder der zupackenden Aggressivität des „Willens zur Macht"? Heideg- ger hat bei Nietzsche die Metaphysik der Subjektivität und der Verfügung sich vollenden sehen — Nietzsche als Endgestalt. Es ist die Schlußthese dieser Untersuchung, daß Nietzsche so nicht zu verstehen ist. Schon er ist über die rationalitas wie den Machtwillen der Moderne hinausgegangen, weiter als es Heidegger oder seine Schüler sich vorgestellt haben. Belehrt durch die Dialektik der Moderne, hat sich Nietzsche auf die Suche gemacht nach dem, was dieser Moderne nottut: eine Heilung der Wunden, die ratio und Verfügungswille der mediatisierten Geschichte, der vernutzten Natur und dem vom „Willen zur Macht" selbst überwältigten Menschen geschlagen haben. Nietzsche hat dafür — gewiß von der Spitze der Moderne — ^urückge- dacht, man kann genausogut sagen, rö/vwwgedacht in das, was diese Moderne aus sich nicht zu bieten vermag. Und warum sollte die Suche nach vermittelter Unmittelbarkeit und wiedergewonnener Unschuld den deutschen Idealisten, den Dichtern der Romantik und so manch anderen erlaubt, aber nur Nietzsche verboten sein?

Nietzsche hat es seinen Lesern leicht, seinen Interpreten schwer gemacht.

Ihn heute zu deuten heißt, ihm die Ehre widerfahren zu lassen, ihn, wie es Th. Mann vorschlug, mit aller Reserve, Ironie und Verschlagenheit zu lesen,

— vielleicht darf man hinzufügen — mit aller Nüchternheit auch, die dieser verführerische Autor so leicht zuschanden macht. Nietzsche-Philologie, sie steht nach der Begeisterung der Jünger und der Verteufelung durch die Gegner noch an ihrem Anfang. Sie hat heute ihr Werkzeug in der ersten

„Kritischen Gesamtausgabe", die diesen Namen verdient. Möge sie uns dazu verhelfen, Nietzsches Bild aus jenen Ahnengalerien zu lösen, in die es Gegner und Jünger hatten stellen wollen! Nietzsche gehört in andere, antike wie moderne, gefüllt mit Bildern von Sokrates und Piaton, Epikur und Epiktet, Thukydides und Machiavelli, Voltaire und Rousseau. Ja, vielleicht hat er sogar einen jener Plätze verdient, die denen reserviert sind, die den Fuß in bisher unbekannte Länder des Geistes setzten.

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