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Kolonialismus und Diskurs : Michel Foucaults "Archäologie" in der postkolonialen Theorie

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MICHAEL

C.

FRANK

Kolonialismus und Diskurs: Michel Foucaults

11

Archäologie" in der postkolonialen Theorie

1. Einleitung

Dass sich wissenschaftliche Begriffe verselbstständigen, um nach vielen Umwegen über Zitate und Zitate, die die Zitate zitieren, irgend- wann nur noch dem Namen nach an den einen Autor, das eine Werk oder die eine Verwendung zu erinnern, gehört gewissermaßen zum Geschäft. Thomas Kuhns Begriff des "Paradigmas" ist dafür ein Beispiel, Jacques Derridas "Dekonstruktion" ein anderes, noch ein- drücklicheres. Ebenso Michel Foucaults "Diskurs": R. Keith Sawyer (2002) hat jüngst argumentiert, dass sich hinter dem, was in den Geistes- und Sozialwissenschaften heute "Diskurs" genannt und - oft ohne Belege - mit Michel Foucault in Zusammenhang gebracht wird, meist eine Mischung aus Konzepten anderer Autoren (allen voran Louis Althussers und Jacques Lacans) verbirgt, die mit denen Foucaults nicht nur nicht identisch, sondern geradezu unvereinbar sind.

Der vorliegende Beitrag wird sich in seinen Beobachtungen teilweise mit denen Sawyers berühren. Seine Absicht ist jedoch eine andere. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, Michel Foucaults Diskursbegriff als gegeben vorauszusetzen, um bei anderen Autoren einen falschen Gebrauch festzustellen. Die Problematisierung von "Diskurs" als Konzept soll vielmehr schon früher, bei Michel Foucault selbst, angesetzt werden. Ausgangspunkt ist die Frage, wie praktikabel das in Archiiologie des Wissens (1969) theoretisch skizzierte Verfahren der Diskursanalyse ist, wenn man es in einer bestimmten Anwendung konkretisiert - und ob Abweichungen nicht vielleicht unausweichlich sind. Argumentiert wird namentlich anhand von Edward Saids 1978 erschienenem Buch Orientalism, das James Clifford treffend als "a pioneering attempt to use Foucault systematically in an extended cultural analysis" (Clifford 1988: 264) beschrieben hat. Als Initiator der

"postkolonialen Wende" (vgl. Bachmann-Medick 1996: 38) ist Orientalism Grundlage für die meisten Kritiken eines "kolonialen

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-104335

URL: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2010/10433/

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Diskurses" geworden und hat - weit über die Post-Colonial Studies hinaus - ein bestimmtes Foucault-Verständnis mitgeprägt. Durch eine Gegenüberstellung von Orientalism und Archäologie des Wissens sollen hier exemplarisch Probleme einer Anwendung der Foucaultschen Diskursanalyse aufgezeigt und damit zumindest in Ansätzen deren Möglichkeiten und Grenzen für eine postkoloniale Literaturkritik an- gedeutet werden.

2. Foucaults "Diskurs" bei Said

Said rückt in seiner Studie das Verhältnis des "Westens" zu dem in den Blick, was uns aus der Literatur als "der Orient" bekannt ist. Er spricht von einer grundsätzlichen abendländischen "Denkweise" (Said 1995: 2), die dieses Verhältnis von Beginn an bestimmt habe. Demnach gründet das kulturelle Selbstverständnis des Okzidents auf einer fundamentalen ontologischen und epistemologischen Unterscheidung vom Orient (vgl. ebd.) - ein Gedanke, der ähnlich schon von Michel Foucault in seinem Vorwort zur Erstausgabe von Wahnsinn und Gesellschaft formuliert worden ist: "[Der Orient] bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt" (Foucault 1995: 10).

Von dieser grundlegenden Form des Orientalismus - der Vorstellung vom Orient als dem Anderen Europas - ist laut Said eine zweite, komplexere Form zu unterscheiden, die erst ab dem späten 18.

Jahrhundert in Erscheinung tritt. Diese zweite Form des Orientalismus wird beschrieben als "the corporate institution for dealing with the Orient - dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by te ac hing it, settling it, ruling over it: in short, Orientalism as a Western style for dominating, res truc tu ring, and having authority over the Orient". Es folgt ein Verweis auf Foucault:

I found it useful here to ernploy Michel Foucault' s notion of a discourse, as described by hirn in The Archaelogy

0/

Knowledge and Discipline and Punish to identify Orientalism. My contention is that without exarnining Orientalisrn as a discourse one cannot possibly understand the enormously systernatic discipline by which European culture was able to manage - and even produce - the Orient politically,

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sociologically, militarily, ideologically, scientifically, and imaginatively during the post-Enlightenment period. (Said 1995: 3)

Gleich auf den ersten Seiten kennzeichnet Said also zumindest Teile seiner Untersuchung programmatisch als eine Diskursanalyse im Sinne Michel Foucaults. Der an keiner Stelle genauer spezifizierte Bezug auf

"Michel Foucaults Diskursbegriff" ist allerdings insofern etwas ge- wagt, als er voraussetzt, was sich durchaus nicht von selbst versteht.

Denn zum einen gibt es in Foucaults Gesamtwerk verschiedene, teils nicht miteinander kompatible und auch in sich keineswegs immer konsequente Verwendungen des Begriffes "Diskurs". Zum anderen bleibt "Diskurs" auch in Archäologie des Wissens, der dafür einschlä- gigsten Quelle, mehrdeutig: Nach dem ersten Drittel seiner methodo- logischen Reflexionen stellt Foucault hier fest, dass er, "statt allmählich die so schwimmende Bedeutung des Wortes 'Diskurs' verengt zu haben", dessen Bedeutung vielmehr "vervielfacht" hat (Foucault 1981:

116). Und diese Polysemie bleibt bis zum Ende aufrechterhalten. Erst nachdem Foucault ein zweites Mal erklärt hat, den "Terminus Diskurs [ ... ] mit verschiedenen Bedeutungen benutzt und abgenutzt [zu]

haben" (ebd. 156), beginnt er, eine der insgesamt drei zentralen Bedeutungen besonders hervorzuheben und zu konturieren. Diese dritte Bedeutung - Diskurs als "eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören" (ebd.) - ist es, die sich zusammenfassend als die dominante und zugleich Foucault- spezifischste definieren lässt. Doch ist sie eben nicht die einzige.

Diesen beiden Einwänden gegen Saids Foucault-Verweis kann noch ein dritter hinzugefügt werden: In der oben zitierten Passage aus Orien talism schafft Said dadurch zusätzliche Verwirrung, dass er an dieser Stelle auch Überwachen und Strafen ins Spiel bringt, einen Text, der soziale Machtpraktiken beschreibt und dabei gar nicht mit einem Diskursbegriff operiert - einer von vielen vermeintlichen Brüchen in Foucaults Werk, insofern diese Arbeit ja direkt, wenn auch in einem Abstand von sechs Jahren, auf Archiiologie des Wissens gefolgt war. Wie Sawyer argumentiert, ist diese Stelle symptomatisch für einen Umgang mit Foucaults Werk, bei dem Diskontinuitäten, übrigens ganz gegen Foucaults Beharren auf der Freiheit, von Buch zu Buch eine neue Richtung einzuschlagen und alte Positionen zu verwerfen (vgl. v. a.

Foucault 1981: 29), einfach übergangen werden. Sawyer (2002: 441)

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stellt zu Recht die Frage: "Why da so many readers conflate Faucault's later non-discursive concepts with his earlier focus on autonomous discourse, thus confusing his earlier forays into structuralism with his later rejections of it?" Allerdings muss mit dieser Frage keineswegs die prinzipielle Unmöglichkeit einer solchen "conflation" impliziert werden. Denn ohne Zweifel wäre es ein lohnendes Unterfangen, Foucaults Machtanalyse mit seinem vorher entwickelten Diskurs- begriff in Zusammenhang zu bringen; auch gibt es dafür einen konkreten Anhaltspunkt, nämlich den zwischen beiden Büchern entstandenen Vortragstext Die Ordnung des Diskurses. Allerdings - und dies scheint mir der entscheidende Punkt - müsste dieser Zusammen- hang erst genauer expliziert, Foucaults in dieser Hinsicht keineswegs

I fertige' Theorie weitergedacht und möglicherweise modifiziert werden - eine Arbeit, die Saids einfacher Verweis auf einen angeblich beiden Büchern gemeinsamen (und keiner weiteren Erläuterung be- dürftigen) Diskursbegriff nicht leistet.

Obwohl Said Foucaults Diskurstheorie einleitend als das sine qua non seiner Orientalismus-Studie identifiziert, kommt er erst in dem Kapitel

"Crisis" ausführlicher darauf zu sprechen, wie sich der Orientalismus seiner Ansicht nach als Diskurs konstituiert. Ausgangspunkt ist die Behauptung einer "allgemeinen menschlichen Schwäche [failing]", die

"schematische Autorität eines Textes der Unsicherheit einer direkten Begegnung vorzuziehen" (Said 1995: 93; meine Übers.). In dieser Schwäche sieht Said den Nährboden für den Orientalismus als Diskurs. Jeder wirklichen Begegnung mit dem Orient gehe ein aus Texten erworbenes Wissen über den Orient voraus, das bestimmte Erwartungshaltungen und Verhaltensweisen - eine "textual attitude"

(ebd. 92) - hervorrufe. Diese textgenerierte Haltung bestätige sich bei einer textexternen Konfrontation gleichsam wie von selbst. Auf diese Weise bilde sich ein konstanter und stabiler Diskurs, der ungebrochen bleibe durch "direkte" Konfrontationen mit der Wirklichkeit des Orients. Verwiesen wird hier wiederum auf Foucault, diesmal jedoch in Bezug auf eine ganz andere Begriffsdefinition:

[S]uch texts can create not only knowledge but also the very reality they appear to describe. In time such knowledge and reality produce a tradition, or what Michel Foucault calls a discourse, whose material weight, not the originality of a given author, is really responsible for the texts produced out of it. (Ebd. 94)

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An dieser Stelle bezeichnet der Begriff Diskurs das intertextuelle Tradieren irgend wo zuerst postulierter "Wahrheiten", das, wenngleich die Aussagen von Text zu Text variiert und differenziert werden, eine Kontinuität herstellt. "Diskurs" wird synonym verwendet mit

"Tradition", und es fällt schwer, ihn von jener "Denkgewohnheit" zu unterscheiden, die der Orientalismus Said zufolge war, bevor er zum Diskurs wurde. Es fragt sich, wie der Orientalismus als das hier be- schriebene, offenbar an keine bestimmten historischen Faktoren und gesellschaftlichen Institutionen gebundene Denkmuster das multi- institutionelle Funktionieren des Orient-Diskurses erklären soll, wie er sich laut Said seit dem späten 18. Jahrhundert im europäischen Kolonialismus herausgebildet hat.

3. Foucault: Die Diskontinuität der Diskurse

Bei allen Unklarheiten scheint zumindest eines sicher: Saids zweiter Verweis auf Foucaults "Diskurs" ist nicht nur abermals sehr vage, sondern auch irreführend, insofern sich Foucault in Archäologie des

Wissens gerade gegen den Begriff der Tradition wendet (v gl. Foucault 1981: 33). Er propagiert hier ein "Denken der Diskontinuität" (ebd. 13), genauer: eine Art der historischen Analyse, die auf das Denken der Einheit, Totalität und Kontinuität verzichtet und dementsprechend Konzepte verabschiedet, die ein solches voraussetzen. Bereits in· Die Ordnung der Dinge, seiner 1966 erschienenen Archäologie der Human- wissenschaften, hatte Foucault Diskontinuitäten thematisiert, indem er den Übergang von einer epochenspezifischen episteme zur nächsten als radikalen Bruch definierte und zwei solcher Epochenwechsel beschrieb. Das "Diskontinuierliche" erkannte er dabei in der "Tat- sache, daß eine Kultur mitunter in einigen Jahren aufhört zu denken, wie sie es bis dahin getan hat, und etwas anderes und anders zu denken beginnt" (Foucault 1974: 83). So sehr Foucault damit aber auch die Diskontinuität zwischen Epochen in den Blick rückte, so sehr schien sein Epochenbegriff selbst "monolithisch geschlossen" (Frank 1988: 37). In Archäologie des Wissens werden Diskontinuitäten deshalb nicht länger nur auf der Ebene der Diachronie, sondern auch auf der der Synchronie behauptet: Diskontinuitäten bestehen demzufolge sowohl zwischen verschiedenen zeitgenössischen Diskursen als auch innerhalb eines jeden Einzeldiskurses.

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Der "Diskurs/! wird definiert über seine elementaren Einheiten, die enonces. "Enonce" bezeichnet etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich Gesagtes, das als solches Ereignischarakter hat: In ihrem materiellen Auftreten, so Foucault, stellt jede Aussage, egal ob gesprochen oder geschrieben, ein Ereignis dar (vgl. Foucault 1981: 41 u. 44). Es gibt keine "strukturellen Einheitskriterien" für sie (ebd. 126);

die Aussage ist "individualisiert/! und damit "nicht vorhersehbar von seiten der Struktur, kontingent hinsichtlich ihres So-Seins" (Frank 1988:

38). Folglich besteht eine Diskontinuität zwischen verschiedenen Aussagen und somit innerhalb des Diskurses (als Menge von Aus- sagen).

Bei aller Diskontinuität - und das ist das scheinbar Paradoxe an Foucaults Ansatz - lassen sich die Aussagen in diskursanalytischer Rekonstruktion jedoch in verschiedene diskursive Formationen grup- pieren. Foucaults strukturalistisches Vokabular deutet bereits an, dass auch der Diskurs, bei aller Kontingenz der Einzelaussagen, nicht gänzlich ohne die Annahme von Einheit, Totalität und vor allem einer gewissen Regelmäßigkeit auskommt. Die diskursive Formation wird geradezu über eine solche Regelmäßigkeit definiert: Wo sich eine Regelmäßigkeit bei "den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen" erkennen lasse, so Foucault (1981: 58), liege eine diskursive Formation mit spezifischen

"Formationsregeln" vor. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass Foucault die aufgegebenen Einheitskonzepte letztlich doch gegen einen alternativen Ordnungsbegriff austauschen muss, ohne die abgelehnten Generalisierungen ganz vermeiden zu können, was Saids Gleichsetzung von "Tradition" und "Diskurs" zumindest nachvoll- ziehbar macht. Besonders deutlich wird dieses Dilemma, wenn Foucault etwa von der "Positivität eines Diskurses wie dessen der Naturgeschichte, der Politischen Ökonomie oder der Klinischen Medizin" spricht, die dessen "Einheit durch die Zeit hindurch und weit über die individuellen Werke, die Bücher und die Texte hinaus"

charakterisiere (ebd. 183). Solche Formulierungen erinnern an den Orient-Diskurs in Orientalism, definiert die "Positivität" des Diskurses bei Foucault doch wie bei Said einen "begrenzten Kommunikations- raum" (ebd.) über die Zeit, das heißt über die einzelnen Autoren und Texte hinweg.

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4. Diskurs, Macht, Institution

Allerdings sind die "verschiedenen Individualitäten", die Foucault einer diskursiven Formation zuordnet, seinen weiteren Ausführungen zufolge nicht über die logische, thematische oder semantische Verknüpfung der einzelnen Propositionen miteinander verbunden (Foucault 1981: 184) - wenn sich diese Äußerung auch mit der oben zitierten über die Regelmäßigkeit der diskursiven Formation zu reiben scheint. Was laut Foucault den Rahmen steckt, in dem sich die Aussagen als ein Diskurs konstituieren, ist vielmehr das, was er als

"historisches Apriori" bezeichnet. Diesen Begriff hatte er bereits inDie Ordnung der Dinge mit folgender Bedeutung angewandt: U[Das historische Apriori] ist das, was in einer bestimmten Epoche [ ... ] die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird" (Foucault 1974: 204). In Archäologie des Wissens spricht er nun nicht mehr von Wahrheitsbedingungen, sondern von "Existenzbedingungen": Bei der Analyse des diskursiven Feldes gehe es darum, für jede Aussage die Bedingung ihrer Existenz zu bestimmen, ihre Korrelation mit den anderen Aussagen desselben Feldes herauszuarbeiten sowie zu zeigen, welche anderen Formen der Äußerung sie ausschließt (vgl. Foucault 1981: 43). Foucault fasst dies einmal in der prägnanten Frage zusammen: "[WJie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?"

(Ebd. 42) Der Fokus richtet sich also nicht mehr auf die Gesetze, nach denen eine Aussage zu einem bestimmten Zeitpunkt als "wahr"

anerkannt wird, sondern auf die Voraussetzungen für ihr Auftreten, die Bedingungen ihrer Existenz.

Die Existenzbedingungen der Aussagen sind für Foucault identisch mit den bereits erwähnten Formationsregeln (vgl. ebd. 58). Verschie- dene Aussagen können demnach aufgrund ihrer Existenzbedingungen einer gemeinsamen diskursiven Formation zugeordnet werden - hierin besteht die "archäologische" Arbeit des Diskursanalytikers.Die Archäologie, so machte Foucault schon im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die Ordnung der Dinge deutlich, hat dabei Regeln im Blick, die "nur durch die Existenz solchen Diskurses ins Spiel kommen" (Foucault 1974: 15). Das heißt, Foucaults Diskurs bestimmt die Regelmäßigkeiten, die ihn als Einheit bestimmen, scheinbar paradoxerweise selbst. Zwar wird in Archäologie des Wissens eine

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"höhere" Einheit benannt, von der die Diskurse Untereinheiten sind, so wie die Aussagen Untereinheiten der Diskurse sind: Foucault nennt sie das "Archiv" (vgl. Foucault 1981: 187), ein Konzept, das die

"episteme" der Ordnung der Dinge ablöst <vgl. McNay 1994: 66). Das Archiv wird definiert als das, "was die Diskurse in ihrer vielfachen Existenz differenziert und sie in ihrer genauen Dauer spezifiziert": "Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen" (Foucault 1981: 188). Doch auch wenn Foucault in gut strukturalistischer Manier die enonces den Diskursen und diese dem Archiv zuordnet, bleibt unbeantwortet, welcher strukturierenden Instanz wiederum das Archiv unterliegt. Es fragt sich, wer oder was die Macht ist oder hat, das Archiv zu konstituieren und damit die Diskurse zu regulieren. Dreyfus und Rabinow sprechen deshalb von der "Illusion des autonomen Diskurses" in Archäologie des Wissens (vgl.

Dreyfus/Rabinow 1994: 25-127). Treffender könnte auch von der Autonomie des Archivs gesprochen werden, dessen systematisieren- der Kraft die Diskurse ja unterliegen: Es gibt scheinbar keine Insti- tution, die "hinter" (bzw. "über") dem Archiv steht und gleichsam von außen, auch in Form nicht-diskursiver Praktiken regulierend auf die Diskurse einwirkt.1

Auch Saids erstes Verständnis von Diskurs als "corporate institution" des Okzidents zur systematischen Disziplinierung des Orients hat mit dem "Diskurs" der Archäologie des Wissens demzufolge wenig zu tun. Denn einen autonomen Diskurs hat Said ausdrücklich nicht vor Augen, wenn er schreibt, im Orientalismus komme ein

1 Dieser Eindruck wird durch Foucaults Antrittsvorlesung am College de France zwar entscheidend relativiert, bleibt aber grundsätzlich bestehen. Relativiert wird er dadurch, dass Foucault hier, ergänzend zur Archäologie des Wissens, Strategien der Diskurskontrolle beschreibt, wobei er neben "interne[nl Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben" (Foucault 1991: 17), diesmal ganz explizit auch externe Prozeduren anführt, deren "institutionelle Basis" (ebd. 15) er betont. Aufgabe dieser Prozeduren ist es laut Foucault, "die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen" (ebd. 11). Worin, so fragt sich, liegt aber die besagte Bedrohlichkeit des Diskurses? Die Antwort wird in einer scheinbar beiläufigen Bemerkung angedeutet: Der Diskurs wird kontrolliert, weil er

"dasjenige [ist], worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen suchtll (ebd. 11). Wenn der Diskurs selbst als Ort der Macht definiert wird, bleibt aber weiterhin ungeklärt, welche Macht wiederum hinter den nicht- diskursiven Institutionen der Diskurskontrolle steht.

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"ganzes Netzwerk von Interessen" (Said 1995: 3; meine Übers.) zur Wirkung, die das Verhältnis des Westens zum Orient beherrschten.

Für Said lassen sich eindeutig konkrete Machtzentren, Institutionen, Interessen, politische und ökonomische Faktoren ausmachen, die sich auf den Diskurs auswirken - allesamt Elemente, die in Foucaults auto- nomem Diskurs, einem in Archäologie des Wissens äußerst abstrakten Gebilde, fehlen. Weil er den Diskurs politisiert und als eine um- fassende koloniale Machtpraktik des "Westens" konkretisiert (wenn auch nur andeutungsweise), muss sich Said geradezu vom Foucault der Archäologie des Wissens entfernen, und es drängt sich die Frage auf, warum es ihm dennoch als unerlässlich erscheint, auf genau diesen zu rekurrieren - ohne ihn explizit zu ergänzen, zu modifizieren, oder, wie bereits angedeutet, auch nur näher zu erläutern.

5. Diskursanalyse als Machtkritik?

Foucaults "Vorhaben der Archäologie", meinen Dreyfus und Rabinow, ist aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt:

Erstens ist die kausale Macht, die den leitenden Regeln der Diskurs- systeme zugesprochen wird, nicht einsichtig und macht jeden Einfluß/

den die gesellschaftlichen Institutionen haben und dem Foucault beständig nachgeforscht hat/ unverständlich. Zweitens bringt sich Foucault/ wenn er die Archäologie als Selbstzweck auffasst/ um die Möglichkeit/ seine kritischen Analysen auf seine gesellschaftlichen An- liegen anzuwenden. (Dreyfus/Rabinow 1994: 21)

Erstere Kritik - der Hinweis auf die bei Foucault ungeklärte Frage nach der gesellschaftlichen (institutionellen) Verankerung der Diskurse - deckt sich mit dem oben Dargestellten. Letztere Kritik fügt dem noch einen weiteren Aspekt hinzu: Die Frage nach der Möglichkeit einer Diskurskritik im Sinne einer sozio-politischen Intervention.

Interessanterweise hat Said eine entsprechende, wenn auch weit- reichendere (da nicht allein auf Archäologie des Wissens bezogene) Kritik an Foucault geäußert. In dem viel zitierten Aufsatz I/Criticism Between Culture and System" bemängelt Said an Foucaults Machtanalysen, diese seien zu passiv und entbehrten des oppositionellen Engagements eines Antonio Gramsci (vgl. Said 1991: 22lf.). Diese Kritik greift Said in einem späteren Essay noch einmal auf. In diesem Text schreibt er, Foucaults Analysen der modernen Macht seien geprägt von einem

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"singular lack of interest in the force of effective resistance to it (Said 1986: 151): "Foucault's imagination of power is largely with rather than against it" (ebd. 152). So bleibe etwa eine Erwägung der Kategorie des Ästhetischen als einer Negation der Macht bei Foucault aus (vgl. ebd.

155).

Genau dies aber scheint auch in Saids eigenem Buch der Fall zu sein.

Wie Dennis Porter (1994: 153) zu Recht hervorhebt, zieht Said an keiner Stelle die Möglichkeit der "ideologischen Distanzierung" in literarischen Werken, weder innerhalb noch außerhalb des westlichen Literaturkanons, in Erwägung. Der orientalistische Diskurs umfasst Texte, Autoren und Epochen - mögliche Abweichungen klammert Said völlig aus. Und das obwohl er, angeblich im Unterschied zu Foucault, die Individualität des Beitrags jedes Autors zu diesem Diskurs betonen will, wie er anfangs programmatisch unterstreicht (vgl. Said 1995: 23). Hierbei unterbietet er Foucault aber eher, in dessen Arbeiten von Wahnsinn und Gesellschaft bis Die Ordnung der Dinge immer wieder Hinweise auf die Sonderrolle der Literatur (und sogar einzelner Autoren) zu finden sind: Die Werke Hölderlins, Nervals, Roussels und Artauds, schreibt der frühe, noch weniger dezidiert konstruktivistische Foucault, zeigten den Wahnsinn unverfremdet durch die Psychologie (vgl. Foucault 1968: 115); und ein anderes Mal ist allgemein von der Literatur als "eine[r] Art 'Gegendiskursfl' (Foucault 1974: 76) innerhalb der klassischen episteme die Rede.

Allerdings ist zu bedenken, dass dem späteren, konsequenter kon- struktivistischen Foucault zufolge auch ein Gegen-Diskurs eben Diskurs wäre und dass er als solcher nicht mehr als jeder andere Diskurs Zugang zu einer diskursexternen "Wirklichkeit" hätte. Inso- fern ist Archäologie des Wissens als theoretische Grundlage für ein post- koloniales writing back nur beschränkt geeignet. Der oppositionelle, andere Diskurs würde ihr zufolge lediglich den ersten substituieren, ohne einen höheren Anspruch auf "Wahrheit" stellen zu können.

Bezeichnenderweise versucht Said auch an keiner Stelle eine Gegen- darstellung und führt vielmehr hartnäckig die Orient/Okzident- Dichotomisierung fort, die er zwar als Konstruktion entlarvt, der er - außer seiner Kritik - aber nichts entgegenzusetzen weiß. So bleibt auch die Frage nach alternativen Möglichkeiten der Repräsentation letztlich ungestellt, obwohl Said die Dringlichkeit von "Studien zu Alternativen

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zum Orientalismus" sowie zur Frage, I.Iwie man andere Kulturen und Völker von einer freiheitlichen [libertarianl oder nicht repressiven und nicht manipulierenden Perspektive aus studieren kann", betont (Said 1995: 24; meine Übers.). Mit seiner diskursanalytischen Herangehens- weise nimmt Said seiner eigenen Kritik den Wind aus den Segeln.

Denn wie schon Porter kritisch folgerte, muss nach Saids Ansatz streng genommen gelten: "Orientalism in one form or another is not only what we have but all we can ever have" (Porter 1994: 151).

Im Übrigen wäre auch der sogenannte späte Foucault, hätte sich Said in Orientalism auf diesen bezogen, nur schwer mit Saids Art der kritischen Machtanalyse in Einklang zu bringen gewesen. Denn im 1976 erschienenen ersten Band von Sexualität und Wahrheit erklärt Foucault, unter "Macht" verstehe er nicht ein "allgemeines Herr- schaftssystem, das [ ... 1 von einer Gruppe gegen die andere aufrecht- erhalten wird" (Foucault 1983: 113). Ein genau solches hat Said aber ausdrücklich vor Augen, wenn er das Verhältnis zwischen Okzident und Orient als ein hegemoniales zwischen zwei Kollektiven beschreibt:

UThe relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony"

(Said 1995: 5). Diesem totalisierenden (und grundsätzlich statischen) Verständnis von Macht setzt Foucault ein solches gegenüber, das eine

"Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen" (Foucault 1983: 113) voraus- setzt, die sich in einem ständigen "Spiel" (re-)produzieren, verschieben und verkehren, ohne von einem Mittelpunkt aus kontrolliert zu werden.2 Foucault spricht von der "Allgegenwart der Macht" (ebd.

114). Jedes Verhältnis ist demzufolge ein Machtverhältnis, Widerstand nicht "außerhalb der Macht" (ebd. 116), noch weniger deren

"Negation" (um mit Said zu sprechen). In den Machtbeziehungen sind Widerstände laut Foucault vielmehr "die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber" (ebd. 117), also Teil des komplexen Netzwerkes von Machtbeziehungen, aus dem es kein Entrinnen gibt.

2 Foucault betrachtet Institutionen dementsprechend nicht als etwas, auf das Macht- verhältnisse zurückgeführt werden können. In einem späteren Text betont er zwar, er wolle die "Bedeutung von Institutionen bei der Einrichtung von Machtverhältnis- sen" nicht verneinen, empfiehlt jedoch zugleich, "die Institutionen von den Macht- verhältnissen her zu analysieren und nicht umgekehrt"; denn selbst wenn die Machtverhältnisse in einer Institution Gestalt annähmen und sich herauskristallisier- ten, hätten sie doch "ihren Haltepunkt außerhalb dieser" (Foucault 1994: 257).

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Said hat diese Konzeption der Macht in dem bereits zitierten

"Criticism Between Culture and System" kritisch als ein Spinnennetz ohne Spinne beschrieben und dagegen eingewandt, dass einem solchen Machtverständnis eine wichtige Tatsache entgehe:

[A] great deal of power remains in such coarse items as the relation- ships and tensions between rulers and ruled, wealth and privilege, monopolies of coercion, and the central state apparatus. In und er- standably wishing to avoid the crude notion that power is unmediated domination, Foucault more or less eliminates the central dialectic of opposed forces that still underlies modern society [ ... ]. (Said 1991: 221) Said anerkennt Foucaults Bestreben, einem simplifizierenden, nega- tiven Verständnis von Macht als Unterdrückung ein komplexeres gegenüberzustellen, das Macht nicht allein auf der Seite des Unter- drückers verortet. Foucaults diffusem Machtkonzept, meint Said, entgeht jedoch die Tatsache, dass Macht auch in der modernen Gesell- schaft an gewissen lokalisierbaren Orten in geballter (zentralisierter, monopolisierter, institutionalisierter) Form auftritt. In anderem Zu- sammenhang hat Abdul JanMohamed einen ganz ähnlichen Einwand formuliert, als er schrieb: "Foucault' s theory is most useful for describing how power circulates but less so for defining [ ... ] how it comes to be accumulated in institutianal farms" (JanMohamed 1992: 96).

6. Ausblick

Einen möglichen Ausweg aus zumindest einem der hier geschilderten Probleme - dem ungeklärten Verhältnis zwischen Kolonialismus (als institutionalisierter, politisch-ökonomischer Praxis) und Literatur (als Diskurs) - bieten Ansätze, die dem Orientalismus Muster eines allge- meinen, das heißt nicht auf den Orient beschränkten "kolonialen Diskurses" ablesen, wie zum Beispiel Homi Bhabha in einem 1982 gehaltenen Vortrag. Bhabha verzichtet zwar auf eine eigentliche Definition des "kolonialen Diskurses", benennt aber doch dessen

"minimum conditions and specifications". Dabei macht er über- raschend klare (und überraschend vereinfachende) Aussagen über Ziel und Absichten des kolonialen Diskurses:

The objective of colonial discourse is to construe the colonised as a population of degenerate types on the basis of racial origin, in order to justify conquest and to establish systems of administration and instruction. (Bhabha 1983: 198; vgl. auch Bhabha 1994: 70)

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Demzufolge dient der Diskurs als eine Legitimationsstrategie zur Rechtfertigung kolonialer Eroberung sowie als Mittel zur Einrichtung von Verwaltungs- und Erziehungssystemen. Die damit angedeutete Unterscheidung zwischen diskursiven Praktiken der negativen Stereotypisierung sowie nicht-diskursiver Gewalt wird expliziter in einem anderen, ebenfalls einflussreichen Aufsatz gemacht: Abdul JanMohamed fordert, im Zusammenhang mit Imperialismus kon- sequent zwischen "materiellen" und "diskursiven Praktiken"· zu unterscheiden (JanMohamed 1986: 80f.; meine Übers.). Letztere dienten - eine ähnliche Formulierung wie bei Homi Bhabha - "to justify imperial occupation and exploitation" (ebd. 81).

Kolonialer Diskurs als (Selbst-)Legitimationsstrategie: Eine nach diesem Ansatz betriebene Literaturanalyse befragt Texte auf ihre IJZuträglichkeit für Praktiken des Kolonialismus" (Bachmann-Medick 1996: 38). Wie fruchtbar dieser Ansatz ist, belegt eine inzwischen un- überschaubar gewordene Anzahl von Arbeiten, die "die imperiale Verortung" (ebd. 39) von Texten in den Blick nehmen. Mehr noch als bei Said droht hier jedoch eines auf der Strecke zu bleiben: Foucaults Anspruch - so schwierig sich dessen Erfüllung in Archäologie des Wissens auch gestaltet haben mag -, jedes diskursive Ereignis in seiner Individualität, die Diskurse in ihrer historischen Dynamik zu erfassen.

"Kolonialer Diskurs" lässt nicht nur unbestimmt, wann gesprochen wird, sondern auch wer in welcher Textart über wen (und für wen) spricht. Die Spezifität konkreter Artikulationen gerät ebenso aus dem Blick wie diskursive Verschiebungen und Diskontinuitäten.

Als Fazit lassen sich mithin drei Punkte festhalten:

(1.) Michel Foucaults "Diskurs" ist ein concept in progress, das in den hierfür einschlägigen Arbeiten gezielt offen gehalten wird. Die häufig zu lesenden Verweise auf einen Foucaultschen Diskursbegriff(im Sinne einer keiner weiteren Kommentierung bedürftigen Autorität) stehen im Gegensatz zum betont undogmatischen Charakter von Foucaults Ausführungen zum Diskurs. Zweifellos bringt die termino- logische Unbestimmtheit von "Diskurs" bei Foucault gewisse Nach- teile mit sich: Ende der 1980er Jahre wurde gegen den Begriff vorgebracht, seine "massenhaft gewordene und modische Ver- wendung" zeuge zwar vom Bestehen eines epistemologischen Problems, dem er abzuhelfen bestimmt sei, reiche jedoch "nicht aus

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zur Entkräftung des Einwandes, die Semantik seines Gebrauchs sei so unbestimmt, daß sein Funktionieren nicht gesichert ist" (Frank 1988:

25). In Bezug auf Saids Orientalism trifft diese Kritik sicherlich zu.

Denn auch wenn Said zu Beginn seiner Studie eindringlich erklärt, ohne Rekurs auf Foucaults Diskursbegriff sei eine Erklärung des verschiedenste Institutionen umfassenden Phänomens des Orientalis- mus gar nicht möglich, trägt Saids Begriff von Foucaults Diskursbegriff wenig zur Klärung dieser multi-institutionellen Wirkung des Orienta- lismus bei. So bleibt der Wechsel von einer (nicht-diskursiven, epistemologisch-ontologischen) "Denkweise" zu einem (institutionell begründeten) Diskurs, den der Orientalismus Said zufolge ab Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht, undeutlich, weil Saids Diskurs selbst als Tradition, das heißt als Tradieren einer Art und Weise, den Orient zu denken, definiert wird. Das Nicht-Funktionieren von "Diskurs" als heuristisches Konzept bei Said, so wurde hier argumentiert, ist einerseits auf Saids spezifischen - teilweise inkonsequenten - Gebrauch von Foucault zurückzuführen, andererseits aber eben auch darauf, dass Foucault selbst einige entscheidende Fragen offen lässt.

(2.) Die Unbestimmtheit des Diskursbegriffs bei Foucault ließe sich allerdings schnell in einen Vorteil verwandeln, wenn eine ent- sprechende Arbeit in dieses concept in progress investiert würde. Ein gewichtiger Teil dieser Arbeit müsste darin bestehen, das bei Foucault im Vagen bleibende Verhältnis von Diskurs, Macht und Institution zu beleuchten, das insbesondere dann automatisch in den Mittelpunkt rückt, wenn ein "kolonialer Diskurs" analysiert werden soll. Hier ist es unumgänglich, Foucaults pluralistisches Werk selektiv zu verwenden und teils in Ergänzung, teils in Abgrenzung zu diesem eine eigene, dem jeweiligen Gegenstand angemessene Begriffsdefinition zu versuchen. Die dringendste dabei zu beachtende Frage betrifft das Zusammenspiel materieller und diskursiver Machtpraktiken sowie die institutionelle Verankerung des Diskurses.

(3.) Interessanterweise ist ausgerechnet einer der Punkte, die Foucault in seinen Arbeiten zum Diskurs ganz unmissverständlich und klar formuliert hat, immer wieder ignoriert worden, nämlich der Aspekt der Diskontinuität. Eine weitere wichtige Aufgabe der postkolonialen Diskursanalyse würde folglich darin bestehen, dieser Diskontinuität sowohl auf der Ebene der Diachronie als auch auf der

(15)

der Synchronie gerecht zu werden. Wie schon Nicholas Thomas (1994:

68) bemerkt hat, ist in der Flut von Arbeiten zu europäischen Selbst- und Fremdbildern auffallend wenig zum historischen Wandel dieser Bilder - und vor allem zum Wechsel ihrer epistemologischen und diskursiven Voraussetzungen - geschrieben worden.3 Ergänzend zu dieser historischen Diskontinuität ist, auf der Ebene der Synchronie, zu berücksichtigen, dass nicht ein kolonialer Diskurs existiert, sondern vielmehr das, was man in Anlehnung an Michail Bachtin eine diskursive Redevielfalt nennen könnte (vgl. Bachtin 1979: 165): das Nebeneinander teils miteinander konfligierender Stimmen und Dis- kurse. Das potentiell Ereignishafte jeder Einzelaussage, das im Zentrum von Foucaults Ausführungen zum Diskurs steht, sollte ebenso wenig vergessen werden wie die Tatsache der Pluri- und Inter- diskursivität, das heißt der Koexistenz verschiedener Diskurse und ihres Zusammenspiels im Einzeltext. Auf diese Weise ließe sich das Bild eines monolithischen Diskurses korrigieren, das den Wert von Saids bahnbrechendem Versuch einer kulturwissenschaftlichen An- wendung von Michel Foucault schmälert.

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3 Einen Versuch in diese Richtung unternehme ich in Frank 2004. Vgl. dort v.a. den Abschnitt "Kulturelle Grenzkonstruktionen im historischen Wandel". Vgl. dazu neben Thomas 1994 (Kap. 3) außerdem McGrane 1989.

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