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WIR LERNEN BETEN .
In den Wirren und Nöten unserer Zeit im uner-
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messlichen Leiden der. Gegen~art, in allen Versu- chu.ngen und . Aengste · n, die . · uns iiberfluten, - Iernt
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die heutige . Menschheit beten. Denn sie hat diese hohe Gabe verloren . und diese heilige Kunst verlernt; - und
ohne Beten ist das menschliche Geschöpf von der wahren Quelle des Lebens getrennt und dem Uebel ausgeliefert.
Jeder Mensch, was er auch sonst im Leben sein und -- -
welchem Beruf er auch nachgehen möge, ~ jung oder alt, Mann oder Weib, gebildet oder ungebildet, - m\J.ss
sich zu sammeln verstehen. Das Leben kommt iiber
78 Vom Beten ·
uns wie ein Meer von Sorgen, oder wie eine Staubwolke von losen und seichten lnhalten, oder wie eine Flut v·on Empfindungen und Leidenschaften. In diesern Meer, .in diesem Nebel, in dieser Flut - verlieren wir uns selbst und den Sinn unseres Lebens. Wir-werden von sinnlosen Einzelheiten iiberwältigt. Der Staub des Lebens ver- schiittet uns die Augen. Wir ertrinken im Sumpf der Leidenschaften und ganz besonders des ._ Eigennutzes.
Aus. all dem miissen wir, - sei es auch nur von Zeit zu Zeit, - heraus. Wir diirfen uns diesem Wirbel nicht ergeben. Wir miissen Augenblicke haben, wo wir die Sorgen abstreifen, wo wir-die alltäglichen lnhalte ab- schiitteln, wo wir uns aus allem Kleinlichen und Allzu- menschlichen einfach befreien. Da sammeln wir uns,. da kehren wir bei uns selbst ein, da finden wir unser ver- borgenes, sinngebendes Ich. Und das ist der erste Schritt zum Gebet.
Habe ich mich einmal aus diesem Wirrwarr des All- . tags befreit, so wird mein Herz und mein Wille fiir et- was Besseres · frei. lch befrage mi.ch iiber dieses Bessere : was es _ sein mag? ob ich selbst. rtach ihm .be- gehre? und ob ich ihm in · meinen Handlungert und · Wandlu.ngen treu bleibe? und wie es möglich wäre, dieses Bessere tatsächlich zu verwirklichen? Auf diese Weise vergegenwärtige ich mir den verborg;enen Sinn und den lebendigen Wert des Lebens und suche das Objektiv-Bessere vom Objektiv-Schle·chteren zu unter- scheiden. Dann erwacht in meinem. Herzen der 1 e - bendige Wunsch nac·h der Vollkommenheit und
dieser lebendige Wunsch ist die-nächste Stufe des na- henden Gebetes.
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Denn, im Grunde genommen ist das Geb t .
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Wir lernen beten
zentr1erter, 1nn1ger Anruf, gerichtet·, an d . . V o 11 kommen h e it. Dieser Vollkommenhex·t 0·• ff 1.8
nen w1r im Gebet unsere Seele, indem wir sie anrufen , zu -1 -·h r streben, in eine schöpferische Einigun·g mit ihr tret en. · Und so weit könnten Menschen aller Religionen einander verstehen und gewissermassen miteinander zusammen beten.
Wir, Christen,· beten aber noch anders. Denn wir.
rufen nicht die ungreifbare, und kaum begreifbare ,,all-
gemeine Vollkommenheit'' an, sondern den Iebendigen, vollkommenen Gott, unseren Vater im Himmel, der, nn- trennbar vom Gottessohrt und _vom Heiligen .Geist, dem Gebet seiner irdischen ·Kinder entgegenschaut Hier haben wir den wahren und schöpferischen Quell der u.nerschöpflichen Liebe, Giite _ u.nd Macht. Hier haben wir den Trost des Erhörtwerdens; und dieses Erhörtwerden gibt ~nserem . Gebe_t die besondere christliche Zuversicht des Nichtver-lassenseins,' des Gebo·rgenseins, ja, des Geliebt.werdens. Darum erschliesst uns das Gebet unser Herz~ Darum !egen wir unser Schicksal so riicksichtslos in die Hand des Vaters ; darum diirfen und miissen wir in allen W1rr_en und Nöten unserer Zeit, in allen Versu.chungen und Aengsten der Weltkatastrophe um seinen Schutz und_ seine Hilfe b~tten.
Zweier Forderungen miissen wir jedoch ~abei ge- denken.
Es ist nicht so, dass wir den Herrn in allen Sachen - des irdischen Getues um Hilfe anrufen diirfen, · denn unser Getue ist oft selbstsiichtig und niedrig, zuweil~n böse, tiickisch und verderblich. ~ein - nur im Kampf
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ums Gute. Will ich witklich das Gute, das, was vor dem Antlitz Seiner Liebe und Vollkomrnenheit als gut und ge- recht bestehen kann, so darf ich um Seine Hilfe · bitten.
Und die erste Hilfe, um die ich beten darf, ist der Bei- stand, die Lenkung, die Aufklärung in Sachen q.es Bes- seren, des Guten~ des Vollkommenen, -wo.es gilt, tief zu schauen, richtig zu unterscheiden, wahr zu erkennen und endgiiltig zu wählen. Ich muss sicher sein, dass ich · Seine Sache richtig erkannt habe, dass ich ihr wirk- lich nachgehe in Liebe und Dienst : dann . darf ich mit.
Zuversicht rufen, wagend·beten und ruhig hoffen. Ein rö- mis~h-heidnischer Satyriker., der Stoiker _Persius Flaccus, sagte einmal, die Menschen beten oft zu Göttern um der- artige Niederträchtigkeit.en, um solch' elenden Schmutz, dass sie ihren Gebetsinhalt auch dem besten Freunde nur iris 0hr zu fliistern wagen. Sinnlos und gotteslästernd wäre das Gebet :. ,,Herz:, hilf mir in meinen bösen Sa~hen~
stehe meinem Frevel bei und kröne meine Siinden · mit Erfolg und Gliick" .. ~
Es ist auch nicht so, dass das Gebet mein .eigenes Tun,.- meine Liebe, meinen Willen, mein Streben, meine Miihe, meinen Kampf, - iibe:rfliissig macht oder gar aus- schaltet. 1st die Sache, fiir die ich bete, gut und gerecht,
so ·habe ich mich fiir sie einzusetzen, ihr zu dienen,
um sie zu ringen, jeder Gefahr zu trotzen. Dann bete ich, diehend und ringend. Dann habe ich die' Zuversicht, der Sache des Höchsten aus aller Kraft zii dienen . . Und dann kann ich gewiss sein, dass mein Gebet erhört wird:
dass:mein geistiges Auge geöffnet wird, damit ich_klar
und richtig sehe; dass mein· Herz geläutert wird, damit ich das Beste inniglich liebe ; dass mein Wille gestärkt
Der Alpensee 81