• Keine Ergebnisse gefunden

Freizügig und flankiert: Konträre Ansprüche an den Arbeitsmarkt | Die Volkswirtschaft - Plattform für Wirtschaftspolitik

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Freizügig und flankiert: Konträre Ansprüche an den Arbeitsmarkt | Die Volkswirtschaft - Plattform für Wirtschaftspolitik"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

ARBEITSMARKTFLEXIBILITÄT

26 Die Volkswirtschaft  4 / 2017

tingente ab 2004 sukzessive aufhob, richtete sie die Zuwanderung an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes aus. Gleichzeitig verlangte der Grundsatz der Nichtdiskriminierung1 die Ab- schaffung der vorgängigen Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen für EU-/Efta-Bürger.

Damit verbunden war für Teile der Politik die Angst vor einem Druck auf Löhne und Arbeitsbe- dingungen. Daher war die Personenfreizügigkeit politisch nur zum Preis einer stärkeren Regulie- rung des Arbeitsmarktes in Form der flankieren- den Massnahmen zu haben.

Auch die schrittweise Ausdehnung der Per- sonenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten zwischen 2006 und 2017 ging jeweils mit einer weiteren Verschärfung der flankierenden Mass- nahmen einher. Es stellt sich daher die Frage, wie

D

ie Personenfreizügigkeit mit den EU- und Efta-Staaten löste die Migrationspolitik der vorangehenden Jahrzehnte ab, welche auf nied- rig qualifizierte Arbeitskräfte ausgerichtet war und faktisch strukturerhaltend wirkte. Indem die Schweiz den Inländervorrang und die Kon-

Freizügig und flankiert: Konträre Ansprüche an den Arbeitsmarkt

Die Schattenseite der Personenfreizügigkeit ist die damit verbundene Regulierung:

Insbesondere die flankierenden Massnahmen beeinträchtigen die Flexibilität des Arbeits- marktes und liefern verschiedenen Akteuren einen willkommenen Deckmantel für Protek- tionismus.  Tobias Schlegel

Abstract  Im Gegenzug zur Personenfreizügigkeit mit den EU- /Efta-Staaten schuf der Bundesrat mit den flankierenden Massnahmen ein Instrument zur stärkeren Regulierung und Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Die darin enthalte- ne erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung der Gesamtarbeitsverträge (GAV) hat dazu geführt, dass heute deutlich mehr Arbeitnehmende und -gebende einem GAV unterstellt sind. Diese Verschiebung hin zu kollektiver Lohnbildung schränkt die Flexibilität des Arbeitsmarktes zunehmend ein. Angesichts der aktuellen poli- tischen Mehrheitsverhältnisse scheinen die flankierenden Massnahmen jedoch der Preis zu sein, den die Schweizer Wirtschaft für die Personenfreizügigkeit be- zahlen muss.

Abb. 1: Anzahl allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsverträge (1990–2016)

Der Stichtag ist jeweils der 1. Juli. Dadurch können kurzfristig grössere Schwankungen entstehen.

SECO (2014) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

80 Anzahl GAV Anzahl Unterstellte (in 1000) 1000

750

500

250

0 60

40

20

0 1990

1998 1994

1992

1996 2000

2002

2008 2004

2006 2010

2012

2014

2016 Inkrafttreten der flankierenden Massnahmen Weitere Erleichterung der Allge-

meinverbindlicherklärung von GAV

  Allgemeinverbindliche GAV auf Bundesebene        Allgemeinverbindliche GAV in den Kantonen

  Einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellte Arbeitgebende (rechte Skala)        Einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellte Arbeitnehmende (rechte Skala)      1 Art. 2 des bilateralen

Freizügigkeitsabkom- mens vom 12. Juni 1999 (SR 0.142.112.681).

(2)

FOKUS

Die Volkswirtschaft  4 / 2017 27 hoch dieser Preis mit Blick auf die zusätzliche Bü-

rokratie und – noch wichtiger – mit Blick auf die Eingriffe in den flexiblen Arbeitsmarkt ausfällt (zu Bürokratiekosten siehe Kasten).

Flankierende Massnahmen – ein Bündel von Bestimmungen

Das politisch formulierte Ziel der flankierenden Massnahmen ist es, die «missbräuchliche Unter- schreitung» der orts-, berufs- oder branchenübli- chen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch auslän- dische Arbeitskräfte zu verhindern – zum Schutz der Arbeitnehmenden, aber auch zur Gewährleis- tung des fairen Wettbewerbs.2 Damit Letzteres in beide Richtungen sichergestellt ist, müssen die flankierenden Massnahmen von ausländischen und inländischen Arbeitgebern gleichermassen eingehalten werden. Das Massnahmenbündel um- fasst im Wesentlichen die folgenden Punkte:

Erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV): Wird in einer Branche mit einem gültigen, aber noch nicht allgemeinverbindlichen GAV wieder- holt missbräuchlich gegen übliche Löhne oder Arbeitszeiten verstossen, so kann dieser GAV

«erleichtert» auf die ganze Branche ausgedehnt

werden. Mit anderen Worten: Die Allgemein- verbindlicherklärung kann bereits dann erfol- gen, wenn die am GAV beteiligten Arbeitgeber die Hälfte aller Erwerbstätigen einer Branche beschäftigen. Für eine ordentliche Allgemein- verbindlicherklärung müssen zusätzlich je 50 Prozent der Arbeitnehmenden und -gebenden bereits dem GAV unterstellt sein.3

Normalarbeitsverträge: In Branchen ohne GAV können tripartite Kommissionen (Sozial- partner und staatliche Vertretung) bei Fest- stellung einer wiederholten und missbräuch- lichen Unterbietung der üblichen Löhne vom Bund oder den Kantonen den Erlass eines be- fristeten Normalarbeitsvertrages mit zwin- genden Mindestlöhnen beantragen.

Entsendung von Mitarbeitern: Ausländische Arbeitgeber, d. h. mit Sitz im Ausland oder ausländische Unternehmen mit einer Nie- derlassung in der Schweiz, sind bei der Ent- sendung von Arbeitnehmenden im Rahmen einer grenzüberschreitenden Dienstleistungs- erbringung zur Einhaltung der «minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen» verpflichtet.

Die Einhaltung der formulierten Massnahmen wird von den Sozialpartnern sowie dem Bund und den Kantonen kontrolliert.

2 Kaufmann (2010).

3 Art. 2 Abs. 3 und 3bis Bundesgesetz über die Allgemeinverbind- licherklärung von Ge- samtarbeitsverträgen (SR 221.215.311).

KEYSTONE

Wäre die private Sicherheitsdienstleis- tungsbranche ohne Regulierung international wettbewerbsfähig?

(3)

ARBEITSMARKTFLEXIBILITÄT

28 Die Volkswirtschaft  4 / 2017

Allgemeinverbindliche GAV – ein Instrument im Aufwind

Dass die flankierenden Massnahmen keines- wegs ein zahnloser Papiertiger sind, zeigt sich an der klar steigenden Zahl von allgemeinver- bindlichen GAV (siehe Abbildung 1). Auf Bun- desebene nahm deren Zahl seit 2004 von 22 auf 41 im Jahr 2016 zu. In den Kantonen gelten heu- te 33 allgemeinverbindliche GAV; im Jahr 2004, als die flankierenden Massnahmen in Kraft tra- ten, waren es noch 19 gewesen. In diesem Zeit- raum stieg die Zahl der einem allgemeinverbind- lichen GAV unterstellten Arbeitnehmenden um fast die Hälfte auf über 720 000 Personen; die Zahl der Arbeitgeber nahm um fast ein Drittel auf 78 800 zu. Unter Berücksichtigung des ge- nerellen Zuwachses an Arbeitnehmenden rela- tiviert sich die Zahl etwas: Waren 2004 rund 16 Prozent der Arbeitnehmenden einem allgemein- verbindlichen GAV unterstellt, betrug der Anteil zwölf Jahre später ein Fünftel.

Auch wenn andere Entwicklungen wie die Ausdehnung der gewerkschaftlichen Aktivitäten

im Dienstleistungssektor, die Abschaffung des Beamtenstatus (ab 2000) oder die grosszügige Handhabung des bundesrätlichen Spielraums bei den ordentlichen Allgemeinverbindlicherk- lärungen eine Rolle für die Zunahme der allge- meinverbindlichen GAV spielten, ist der Zusam- menhang mit den flankierenden Massnahmen eindeutig.4 So greift in Branchen ohne allgemein- verbindliche GAV bei «missbräuchlichen Lohn- unterbietungen» die erleichterte Allgemeinver- bindlicherklärung.

Zudem hat die Öffnung des Arbeitsmarktes in binnenorientierten Branchen zu einer Interessen- verschiebung der Arbeitgeberorganisationen hin zum Schutz ihrer Produkt- und Dienstleistungs- märkte vor günstigerer ausländischer Konkur- renz geführt. Zwischen den Sozialpartnern – bei- spielsweise im Baugewerbe oder in der privaten Sicherheitsdienstleistungsbranche – herrscht im- mer öfter ein Konsens hinsichtlich der Allgemein- verbindlicherklärung eines GAV.5 Dem Anspruch dieser Wirtschaftskreise nach «Flankierung» – sprich Protektion – des eigenen Marktes steht die ökonomische Forderung nach internationaler Abb. 2: Offene Stellen und Arbeitslose (Beveridge-Kurve; 1995–2016)

Eine Verschiebung vom Nullpunkt nach rechts oben ist Ausdruck eines weniger effizienten Arbeitsmarktes: Die beiden Seiten des Arbeitsmarktes finden sich schlechter, was sich in der Koexistenz von Erwerbslosen (Definition gemäss ILO) und offenen Stellen bemerkbar macht. Das Niveau der strukturellen Arbeitslosigkeit – also der von der Konjunktur unabhängi- gen Komponente – steigt.

90

80

70

60

50

40

30

0

Offene Stellen (in 1000) BFS (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

1995 2002 2001

25 50 75 100 125 150 175 200

Arbeitslose (in 1000)

225 250

2000

2008 2007

2006

2003 2004

2005 2009 2012 2010

2011 2013 2014 2015

2016

1996 1997

1998 1999

4 Seco (2014).

5 Oesch (2012).

(4)

FOKUS

Die Volkswirtschaft  4 / 2017 29 Bürokratiekosten von Personenfreizügigkeit und flankierenden Massnahmen

Wie gross die bürokratische Entlastung durch die Personenfreizügigkeit ist, zeigt eine Gegenüberstellung der Regulierungs- kosten für die Zulassung von EU- und Efta- Bürgern und für Bürger aus Drittstaaten.

Während die Kosten der Bewilligungen für EU-25- und Efta-Zuwanderer im Jahr 2011 auf rund 6,8 Millionen Franken geschätzt wur- den, kosteten die Bewilligungen für die rund

neun Mal tiefere Zahl an Erwerbstätigen aus Drittstaaten 13,2 Millionen Franken.a

Nicht berücksichtigt sind allerdings die neu entstandenen Bürokratiekosten aus Mitwirkungspflichten im Rahmen von Kon- trollen der flankierenden Massnahmen. Hier fällt auf, dass die mit der Umsetzung betrau- ten Organe ihre Kontrolltätigkeit grosszügig – und je nach Kanton sehr unterschiedlich

– auslegen. So wurden im Jahr 2015 gesamt- schweizerisch fast 70 Prozent mehr Kontrol- len durchgeführt als von der Entsendever- ordnung vorgesehen.b

a Bundesrat (2013).

b Art. 16e der Entsendeverordnung (SR 823.201) und Seco (2016).

Literatur

Bundesrat. (2013). Bericht über die Regulie- rungskosten. Schätzung der Kosten von Regulierungen sowie Identifizierung von Potenzialen für die Vereinfachung und Kostenreduktion. Bern, Dezember 2013.

Bundesrat. (2015). Situation in Tieflohn- branchen bezüglich Einstiegs- und Min- destlöhnen. Bericht des Bundesrats vom 12. August 2015 in Erfüllung des Postulates Meier-Schatz 12.4058.

Kaufmann, K. (2010). Missbräuchliche Lohnunterbietung im Rahmen der flankie- renden Massnahmen (Bd. Heft 71), Bern:

Stämpfli-Verlag.

Oesch, D. (2012). Die Bedeutung von Ge- samtarbeitsverträgen für die Arbeits- marktregulierung in der Schweiz, Arbeits- recht, Zeitschrift für Arbeitsrecht und Arbeitslosenversicherung, (2012), 118–125.

Seco. (2014). Bericht GAV-Standortbestim- mung.

Seco. (2016). FlaM-Bericht vom 12. Mai 2016: Umsetzung der flankierenden Mass- nahmen zum freien Personenverkehr Schweiz - Europäische Union, 1. Januar – 31. Dezember 2015, Bern.

Tobias Schlegel

Ökonom, Junior Fellow, Avenir Suisse, Zürich

Wettbewerbsfähigkeit dank Freizügigkeit und Fle- xibilität des Arbeitsmarktes diametral entgegen.

Der Arbeitsmarkt – ein liberaler Trumpf unter Druck

Der liberale Arbeitsmarkt wird oft als Trumpf für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz und für die im internationalen Vergleich tiefen Arbeitslosenzahlen ins Feld geführt. Die wach- sende Zahl an allgemeinverbindlichen GAV – im Besonderen die darin enthaltenen Mindestlöh- ne, die in den letzten Jahren an Relevanz gewon- nen haben6 – stellen aber ein nicht unerhebliches Risiko für den flexiblen Arbeitsmarkt dar.

Zwar nimmt das System von GAV-Mindestlöh- nen im Vergleich zu einem schweizweiten Min- destlohn besser Rücksicht auf orts-, berufs- und branchenübliche Löhne. Dennoch können auch regionale oder branchenweise Mindestlöhne kon- traproduktiv sein. Bei Berufs- oder Quereinstei- gern, die im Branchenvergleich typischerwei- se tiefe Löhne aufweisen7, können Mindestlöhne den Einstieg in den Arbeitsmarkt oder den Berufs- wechsel erschweren. Dies kann beispielsweise zu einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit führen, wie er in den Jahren 2005 bis 2016 im Vergleich zur Periode 1991 bis 2004 stattgefunden hat.

Wie sich die Effizienz des Arbeitsmarktes im Allgemeinen entwickelt hat, illustriert die Gegen- überstellung von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen im Zeitverlauf (siehe «Beveridge-Kurve» in

Abbildung 2). Der trendmässig synchrone Anstieg von Arbeitslosen und offenen Stellen deutet auf eine Abnahme der Effizienz hin. Die flankieren- den Massnahmen und die steigende Abdeckung von allgemeinverbindlichen GAV dürften ihren Teil dazu beitragen, indem in individuellen Ver- handlungen getroffene Vereinbarungen kollek- tiv auf die ganze Branche übertragen werden.

Aus ökonomischer Sicht stellen die flankierenden Massnahmen daher einen stetig steigenden Preis für den Erhalt der Personenfreizügigkeit dar.

Die Zahlungsbereitschaft der politischen Ak- teure dürfte aber noch höher liegen, denn die fra- gile Mehrheit zur Personenfreizügigkeit scheint zu einem rechten Teil vom Bekenntnis zu den flankie- renden Massnahmen abzuhängen. Deshalb wird die Arbeitsmarktregulierung wohl auch künftig dem Credo «Freizügig, aber flankiert» folgen. Den Trumpf des flexiblen Arbeitsmarktes sollte man aber nicht leichtfertig aus der Hand geben, wes- halb für die flankierenden Massnahmen gelten

sollte: «so wenig wie möglich – so viel wie nötig». 6 Seco (2014).

7 Bundesrat (2015).

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Mit dieser Massnahme wird nun aber nicht nur eine Vollversorgung – und damit eine Beruhigung des Marktes – erreicht, son- dern gleichzeitig auch grosser

Konkret erhalten über 40-Jährige eine kostenlose Laufbahnberatung, Erwachsene finden einfacher zu einem Berufsabschluss, die Kantone betreuen schwer vermittelbare Arbeitslose

Arbeitslose Personen mit einer beruflichen Grund- bildung oder einer höheren Berufsbildung sind am schwächsten vom regionalen und beruflichen Mismatch betroffen.. Ihre

Eine Gegenüberstellung der Kosten von Ausbauszenarien mit dem erzielbaren Nutzen zeigt, dass sich diese Investitionen zumindest in der mittleren und längeren Frist für die

Eine Analyse des Seco zu den flankierenden Massnahmen zeigt: Beim Vollzug gibt es Verbesse- rungsmöglichkeiten – unter anderem bei den paritätischen Kommissionen.   Véronique

Dies ist ei- nerseits mit der Abnahme der entsandten Arbeitnehmenden und andererseits damit zu erklären, dass durch die Kontrollorgane 2009 der Fokus eher auf Kontrollen

Beide Massnahmen bergen jedoch die Ge- fahr, dass reguläre, nicht subventionierte Tä- tigkeiten konkurrenziert werden (Substituti- onseffekte) oder dass die Subventionen für

So zeigt sich beispielsweise, dass neue Technologien oder neue Orga- nisationsprinzipien oft nur mit Bezug auf bisherige Erfahrungshorizonte erfolgreich eingeführt