Klaus Richter
Institut für Theoretische Physik
FAKULTÄT FÜR PHYSIK
Komplexe Systeme, Nichtlinearität
und chaotisches Verhalten
Komplex oder kompliziert ?
kompliziert: verwickelt komplex: vielschichtig
Komplexität eines Systems steigt mit Anzahl der Elementen, der Anzahl der Verknüpfungen zwischen diesen Elementen sowie der Funktionalität der Verknüpfungen.
P. Milling, 1981
Vernetzung vermeintlicher Einzelteile prägt Eigenschaften des
Gesamtsystems, die mit Hilfe der getrennten Teile nicht erfasst
werden → Emergenz
Komplex oder chaotisch ?
Lineares Verhalten Nichtlineares (chaotisches) Verhalten
• kleine Änderung (Fehler) in Anfangs- bedingung kann große Folgen haben
• chaotisches Verhalten ist deterministisch, aber über längere Zeiten nicht vorhersagbar
→ mit zufälligem Verhalten verwandt
Was heißt chaotisch ?
quantifiziere die Instabilität über Lyapunov-Exponent λ: ∆ × 𝑡 = ∆ × 0 𝑒𝜆𝜆
∆ × 𝑡 = ∆ × 0 𝑎 ∙ 𝑡
Komplex oder chaotisch?
• ein komplexes System trägt chaotische Züge
• chaotisch impliziert nicht notwendigerweise komplex (zufälliges Muster besitzt niedrigen Komplexitätsgrad)
lineare Systeme nichtlineare Systeme komplexe Systeme reguläres Verhalten Chaos komplexes Verhalten
• in der realen Welt: weder ganz reguläre noch rein irreguläre Phänomene
• Kombination beider Elemente macht Systeme facettenreich
und vielschichtig
Komplexes Verhalten
• Arbeitsdefinition: Komplexes Verhalten ist ein solches mit Brüchen, zwischen Chaos und Regularität.
Komplexes Verhalten ist solches „am Rande des Chaos“
Ziemelis, 2001 Wir betrachten im Folgenden:
• Komplexes Verhalten anhand des „Weges ins Chaos“
− logistische Abbildung
− Lorenz-Modell
• Komplexes Verhalten als emergentes Verhalten
− aus interagierenden einfachen Untereinheiten (zelluläre Automaten)
− in granularen Systemen
Komplexe Phänomene auf dem Weg ins Chaos
• Populationsdynamik
• Wachstumsprozesse sind geprägt durch Rahmenbedingungen begrenzter Ressourcen, die zu Rückkopplungsmechanismen führen, die Nichtlinearität erzeugen und die Möglichkeit für komplexes Verhalten eröffnen
• Wähle Minimalmodell für Populationsdynamik
𝒙
𝒏+𝟏= r (1 −𝒙
𝒏) 𝒙
𝒏„logistische Abbildung“
Verhulst 1806-1849
(n+1)te Generation Reproduktionsrate mit Element negativer
Rückkopplung
Iterative Abbildung
Entwicklung von Populationsgrößen nach der logistischen Abbildung
aus Dittes 2012
stabil zyklisch chaotisch
„Phasenübergang“: regulär → chaotisch bei „kritischem“ Parameterwert von 𝑟 Komplexität an der Grenze zwischen Regularität und Chaos
→ Selbstähnlichkeit
Kritikalität
𝑟𝑖 − 𝑟𝑖−1 / 𝑟𝑖+1 − 𝑟𝑖 = 𝛿 𝛿: Feigenbaum-Konstante (𝛿 = 4.67)
Selbstähnlichkeit
ähnliche Strukturen auf allen Skalen !
Benard-Experiment
Rayleigh-Zahl R ∼ ∆T
(a) 𝑅 < 𝑅𝑎: uniforme Wärmeleitung (b) 𝑅𝑎 < 𝑅 < 𝑅𝑐: Konvektionsrollen 𝑅𝑐 < 𝑅: chaotische Bewegung
Lorenz-Modell
𝑋̇ = −𝜎𝑋 + 𝜎𝜎 𝜎̇ = −𝑋𝑍 + 𝑟𝑋 − 𝜎 𝑍̇ = 𝑋𝜎 − 𝑏𝑍
X: zirkulare Strömungsgeschwindigkeit
Y: Temperatur-Differenz zwischen auf- und absteigenden Elementen der Flüssigkeit Z: Abweichung des vertikalen Temperatur-Profils vom Gleichgewicht
r = 𝑅/𝑅𝑐 ~ ∆𝑇: Kontrollparameter
Der Lorenz-Attraktor
the Lorenz attractor, after a computer calculation by Lanford (1977)
Fraktale Dimension
n 65
27
11
𝑠𝑛 s/4
s/2
s
𝐷𝐻~ − ln𝑛/ ln 𝑠𝑛 𝐷𝐻 = 1.26 𝑛 ~ 𝑠𝑛−𝐷𝐻
Selbstähnlichkeit in der Natur
die fraktale Küstenlinie Norwegens
Fraktale Dimensionen
die fraktalen Dimensionen der Küsten verschiedener Länder
Komplexe Phänomene durch Interaktion
• top down: Reduktion auf einfache Prinzipien und Grundeinheiten
• bisher: Nichtlinearität als Ursache komplexen Verhaltens
im Folgenden:
• bottom up: Zusammenwirken von Komponenten;
Wechselwirkung zwischen Teilen
Regensburg, 29.11.2012
Vielfalt: Zwischen Ordnung und Unordnung
geordnet komplex zufällig
periodisches Gitter Muster eines Gas aus Atomen Zellularautomaten
Vielfalt auf emergente Eigenschaften verschiedenen Skalen (Druck, Temperatur),
aber nicht komplex
Life: Das Spiel des Lebens
Die unterschiedliche Entwicklung kleinster Keimzellen.
Interaktion benachbarter Zellen (Agenten), durch einfachste Regeln.
Die Entwicklung einer ausgedehnten räumlichen Anfangsstruktur in Life nach 10, 100 und 1000 Zeitschritten.
Entwicklung von Zellpopulationen bei Life
Komplexes Verhalten am kritischen Punkt
Leben am Rande des Chaos:
komplexes Muster eines Automaten nahe des kritischen Punktes.
statisch
geordnet
chaotisch
komplex
Selbstorganisation
in der Natur …
Muster auf den Schalen tropischer Muscheln
… und im Computer
Struktur generiert durch zellulären Automaten
Granulare Materie und selbstorganisierte Kritikalität
Foto: Wikimedia Commons/Anton aus de.wikipedia.org
Skalengesetze: Häufigkeit von Lawinen
P(L) = L
α⇒ ln P(L) = α ln L
Lawinen durch Kettenreaktion
Kettenreaktion nach 2 Schritten
Kettenreaktion nach 3 Schritten
Wahrscheinlichkeitsverteilung von Lawinengrößen:
P(L) = L
α(F. Dittes, 2012)
Interaktionen/Korrelationen zwischen Elementen
Skalengesetz für Erdbeben
Selbstorganisierte Kritikalität
• selbstähnliche Strukturen und Skalengesetzen folgende plötzliche Ereignisse (Katastrophen) sind Charakteristika komplexen Verhaltens
• Skalengesetze sind universell
sie gelten für Sandhügel, Erdbeben, Aktienmärkte, …
• die Skalengesetzen folgenden Systeme sind im kritischen Zustand
• kritische Balance zwischen Ordnung und Unordnung
• im kritischen Zustand wirkt der Sandhaufen als Einheit, in dem emergente globale Regeln gelten, z. B. die Skalengesetze
• wie erreicht ein System den kritischen Zustand ?
⇒ selbstorganisierte Kritikalität (Bak, Tang, Wiesenfeld)
• ⇒ katastrophale Ereignisse wären systemimmanent
Zwei Gefahren bedrohen die Welt, die Ordnung und die Unordnung
(Paul Valéry)
Gesetzeskegel
nach Ebeling, 1994
Prozesse in komplexen Systemen werden je nach Hierarchieebene durch entsprechend enger werdende Kegel zunehmend stärker eingeschränkt.
Netzwerke
zentralistisches, komplexes und zufälliges Netz
(F. Dittes, 2012)
Reale Netzwerke
Veranschaulichung realer Netze:
a Internet, b Nervensystem
Skalengesetze: Worthäufigkeiten
Verteilung von Worthäufigkeiten
Reale Netzwerke
Komplexität realer Netze