Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 40⏐⏐6. Oktober 2006 A2647
K U LT U R
1856
– vor 150 Jahren – begann die wissen- schaftliche Erforschung der Mensch- werdung mit der Entdeckung von Skelettfragmenten, die in einem Steinbruch im Neandertal geborgen wurden. Die 16 Knochen, die man zuerst für Überreste eines Höhlen- bären hielt, bekam der Elberfelder Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott zum Geschenk. Er er- kannte, dass es sich bei dem Fund um die Reste einer „ausgestorbenen Menschenform“ handelte. Eine Ent- deckung, die im krassen Wider- spruch zu der Vorstellung von der Schöpfung des Menschen stand.Im Rheinischen Landesmuseum Bonn wird der Besucher zunächst nach Ostafrika geleitet. Dort ist
„Lucy“, die 1974 in Laetoli gefunde- ne Australopitecus-afarensis-Frau, zu sehen. 3,2 Millionen Jahre ist sie alt,
eine Vormenschenfrau, keine Äffin mehr, aber auch noch lange kein Mensch. Viele Vormenschenpopula- tionen entwickeln sich, werden ge- formt durch die Gesetze der Artent- stehung, durch Population, Selekti- on, Isolation, Mutation, Adaption, durch Umwelt und Klima. Der Besu- cher trifft auf den „Urmenschen von Steinheim“ (Deutschland), kann den ältesten Europäer (Mensch von Dmanisi, Georgien) begrüßen. Er kann das „Skelett von Kebara“ be- wundern, dessen erhaltenes Zungen- bein zeigt, dass der Neandertaler über die Fähigkeit des Sprechens verfügte. Wer will, kann nachdenk- lich vor dem „Kind von Lagar Velho“
verweilen, das die Möglichkeit in sich trägt, dass vielleicht Homo sapi- ens und Homo neandertalis auch „in Liebe“ miteinander verbunden wa- ren. Oder er kann über den Skandal
„Piltdown-Mensch“ diskutieren. Ei- ne Täuschung, die die Wissenschaft 40 Jahre lang in die Irre geführt hat.
Die Identität jenes „Scherzboldes“
ist bis heute noch heiß umstritten. Er präsentierte der Öffentlichkeit 1912 in Piltdown eine Mixtur aus Kno- chenstücken von einem Menschen-
schädel mit Fragmenten eines Orang- Utan-Unterkiefers als Überreste ei- ner homoniden Form, die mit gro- ßem Hirn, aber primitivem Kiefer vor einer Million Jahren in Südeng- land gelebt haben sollte. Erst 1953 flog der Schwindel auf, nachdem ein junger Anthropologe an der Echtheit des Objektes zweifelte.
Jedes Exponat hat seine eigene Biografie, erzählt ein ganz persönli- ches Schicksal. Die Ausstellungs- stücke zeigen Verletzungen und Krankheiten, sie outen sich als Kin- der, Frauen, Männer, als jung oder alt. Ihre Grabbeigaben lassen Schlüs- se auf ihre Ernährung, ihr Kunstver- ständnis oder ihre Vorstellungswelt
zu. Faustkeile und Speerspitzen be- richten von dem handwerklichen Können und der Jagd unserer Ahnen.
In ihren Spuren hinterlassen sie uns ihre Geschichte und Traditionen in Afrika, Europa und Asien.
Aus den Vormenschen werden die ersten Homoniden. Als Homo habi- lis, Homo ergaster, Homo antecessor und Homo erectus „vermehren sie sich“ und „bevölkern die Erde“ eini- ge Millionen Jahre. Aus der Spätform des Homo erectus entsteht dann die einzige europäische Menschenform, der Neandertaler, der 150 000 Jahre lang Europa besiedelt hat. Aber dann beginnt ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte. In Ostafrika entwickelt sich der moderne Homo sapiens. Als dieser vor 40 000 Jahren in Europa Einzug hält, waren bis auf die Neandertaler alle anderen Homi- niden bereits ausgestorben. 27 000 Jahre v. Chr. sind die Spuren des Ne- andertalers endgültig verschwunden.
Der moderne Mensch, Homo sapi- ens, ist als einer der letzten seiner Art übrig geblieben. Eine spannende Ge- schichte, die zu den „Wurzeln der
Menschheit“ führt. I
Iris Schatz
WURZELN DER MENSCHHEIT
Traditionen in Afrika, Europa und Asien
Jedes Exponat in der Bonner Ausstellung hat seine
eigene Geschichte, erzählt ein ganz persönliches Schicksal.
Die Ausstellung„Roots//Wurzeln der Menschheit“
ist noch bis zum 19. November zu sehen. Informationen:
www.roots2006.lvr.de. Ein Buch zur Ausstellung wurde von Dr. Gabriele Uelsberg herausgegeben: „Roots//
Wurzeln der Menschheit“.
Die Rekonstruktion des Neandertalers
Foto:Iris Schatz/Rheinisches Landesmuseum