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Thomas Bedorf

Politiken des Anderswo

In: Michael Kühnlein (Hg.): Exodus, Exilpolitik und Revolution. Zur Politischen Theologie Michael Walzers. Tübingen: Mohr Siebeck. 2017. S. 165–179

Fakultät für

Kultur- und

Sozialwissen-

schaften

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Exodus, Exilpolitik und Revolution

Zur Politischen Theologie Michael Walzers

Herausgegeben von

Michael Kühnlein

Mohr Siebeck

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Michael Kühnlein, Studium der Philosophie, Germanistik und Rechtswissenschaften; 1995 M.A.; 2002 Promotion über Charles Taylors Religionsphilosophie; Dozent an der Goethe- Universität Frankfurt/M.; Mitglied des Instituts für Religionsphilosophische Forschung (IRF); Habilitationsarbeit über Das Vorpolitische.

ISBN 978-3-16-153862-9

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro- verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck - papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

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Inhaltsverzeichnis

Michael Kühnlein

Einleitung: Gegenstrebige Fügung?

Michael Walzer als politischer Theologe ... 1

Eröffnung

Michael Walzer

Moralität und Universalismus im jüdischen Denken ... 5

I. Exodus, Prophetie und Universalismus

Otto Kallscheuer

Exodus ohne Revolution?

Michael Walzers politische Lektüre der hebräischen Bibel ...27 Micha Brumlik

Nietzsche, Walzer und der Exodus ...51 Edmund Arens

Biblische Prophetik als Kritik von innen. Wie Michael Walzer Amos liest ..65 Henning Ottmann

Universalismus bei Michael Walzer ...83 Christoph Seibert

Imagination, Religion und Kritik.

Überlegungen im Gespräch mit Michael Walzer ...99

II. Religion, Politik und Legitimität

Rolf Schieder

Vom erwählten Volk zum Volk, das wählt.

Michael Walzers negative politische Theologie ... 121

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VI Inhaltsverzeichnis

Skadi Krause

Demokratische Selbstbestimmung und religiöse Identität.

Zum Verhältnis von Religion und Politik im Werk von Michael Walzer .... 147 Thomas Bedorf

Politiken des Anderswo ... 165 Jürgen Manemann

Politisch denken! Politikethik im Anschluss an Michael Walzer ... 181 Michael Kühnlein

Politische Theologie im Paradigmenwechsel.

Zur Legitimitätsanalytik von Carl Schmitt und Michael Walzer ... 195 John Milbank

Oikonomia Leaves Home:

Theology, Politics and Governance in the History of the West ... 219

III. Im Gespräch mit Michael Walzer

Martin Hartmann

Why the Biblical Prophets Would Have Appreciated (Critical) Theory:

Continuing Michael Walzer’s Debate with the Frankfurt School ... 241 Joachim J. Krause

A Kingdom of Priests and a Holy Nation:

The Biblical Motif and Its Meaning in

Michael Walzer’s Account of Exodus Politics ... 261 Peter Nitschke

Under God’s Order – The Logic of Biblical Politics ... 271 Jean-Pierre Wils

Reform or Revolution – Michael Walzer on the Exodus Narrative ... 287 Michael Haus

No Freedom without Exodus – no Exodus without Spirituality?

Reflections on Michael Walzer’s Politics of Exodus ... 305

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Inhaltsverzeichnis VII

IV. Replik

Michael Walzer

Political Theology: Response ... 331

Autorenverzeichnis ... 341

Personenverzeichnis ... 343

Sachwortverzeichnis ... 347

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Politiken des Anderswo Thomas Bedorf

Die Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik lässt sich – ab- gesehen von anderen möglichen Perspektiven – zeittheoretisch treffen. Politik ist das, was dauert, was stabil ist, das Politische hingegen ist das Ereignishaf- te, das punktuell die Stabilität der Prozeduren und Institutionen der Politik durchbricht. Michael Walzers politisches Denken ist ein ausgesprochen re- formistisches, allen spekulativen Idealisierungen abholdes Denken. Es spricht also alles dafür, es als ein Denken der Politik, nicht des Politischen zu be- zeichnen. Gleichwohl verbindet Walzer mit den Philosophien des Politischen die Abkehr von den Idealisierungen, die das politische Tagesgeschäft als eine Annäherung an, wenn nicht Umsetzung von idealen Zählungen, Zielgrößen und Bemessungen ansieht. Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls mit ihrem Anspruch eine universale Gerechtigkeitsregel finden zu wollen, beiden theoretischen Positionen ein gern anvisierter Gegner.

In seinem Rekurs auf die jüdische politische Tradition leitet Walzer Moti- ve seiner realistischen Theorie der Politik aus der Exil- und Exoduserfahrung her, wie sie in den Texten der jüdischen Überlieferung niedergelegt sind.

Diese ist dadurch gekennzeichnet, sich unter lokalen politischen Bedingun- gen, unter denen selten Mehrheiten für fundamentale Realisierungen der eigenen religiös-kulturellen Überzeugungen zu erwarten sind, zu bewähren und kleine Erfolge sowie kleinschrittige Verbesserungen zu erzielen, statt die großen Ideale zu ventilieren, für die es ohnehin keine Realisierungschance gibt. Eine solche pragmatische Exodus-Politik stellt Walzer der messiani- schen Politik der großen revolutionären Hoffnungen gegenüber. Sofern der von Walzer namhaft gemachte Unterschied im Hier und Jetzt der Exodus- Politik in einem Gegensatz zur Zeitenferne der messianischen steht, bietet die Idee einer zeitlichen Verschränkung, wie wir sie im Begriff „démocratie à venir“ bei Derrida finden, eine interessante Alternative. Diesen Gedanken- gang zu entfalten, wird Gegenstand der folgenden vier Abschnitte sein.

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166 Thomas Bedorf

I. Ereignisse des Politischen

Theorien des Politischen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf das Ereig- nishafte in den Brüchen zwischen politischen Ordnungen abzielen, dass sie den Wandel nicht als Variation oder kontinuierliche Veränderung konstruie- ren, sondern als Ersetzung einer Wahrheit durch eine (mit ersterer inkompa- tiblen) andere. So sind Ereignisse des Politischen für Alain Badiou, der hier exemplarisch genannt sein soll, Wahrheitsereignisse, historische Stätten, an denen ein Schlüsselereignis stattgefunden hat, das ein neues politisches Sub- jekt hervorbringt. Entscheidend für den Charakter des Ereignisses als politi- sches ist die Macht der Subjektivierung. Politische Ereignisse werden von Subjekten bezeugt, mehr noch: werden als solche identifiziert von Subjekten, die ihrerseits nur sind, wer sie sind, weil sie dieses Ereignis zum Kern ihrer eigenen Wahrheit machen. Bloße historische Vorkommnisse werden zu Er- eignissen nur, wenn ein neuer „Diskurs [...] die reine Treue zur Möglichkeit [betrifft], die das Ereignis eröffnet hat“1. Der neue Diskurs ist ein Diskurs der Wahrheit, wie beispielsweise der paulinische, der einen neuen Sinn in die Welt bringt, der „für die bestehenden Sprachen [...] unannehmbar“2 ist.

Weder der jüdische prophetische Diskurs noch der griechische logos kön- nen den Anspruch des paulinisch-christlichen Universalimus in ihre eigene Sprache integrieren. Die Unannehmbarkeit erzeugt so eine Distanz des Dis- kurses, der vom Ereignis seinen Ausgang nimmt, zu den Diskursen, die das nicht tun. Generell können Ereignisse nicht beliebige Begebenheiten, sondern nur jene outlaws („hors-la-loi“3) genannt werden, die einem bereits geltenden handlungsleitenden und welterschließenden Diskurs entgehen. Sie brechen mit den Gesetzen der geltenden Politik und ihrer Hermeneutik.

Das neue bzw. ein neues Subjekt entsteht dadurch, dass es sich der Logik des Ereignisses unterwirft oder besser gesagt: dass es sich selbst in Treue zu dem Ereignis konstitutiert.4 Badiou nennt diese Eregnisse denn auch deswe- gen „Wahrheitsereignisse“, um anzuzeigen, dass Ereignisse wahrheitsstiftend sind. Ereignisse sind überhaupt, so lässt sich umgekehrt formulieren, nur dann Wahrheitsereignisse, wenn sich Subjekte auf sie als konstitutiv für die Subjektivierung beziehen.

Ich glaube, dass hier für jeden, der ein Kämpfer im Dienst einer Wahrheit ist, ein wichtiger Hinweis liegt. Der Versuch, ein Bekenntnis durch die intime Ressource einer mirakulösen

1 Alain Badiou, Paulus, Zürich u.a. 2009, S. 59.

2 Ebd., S. 60.

3 Alain Badiou, Ethik, Wien 2003, S. 65.

4 Zum Konstitutionsprozess dieser politischen Subjekte und ihrer Zeitlogik vgl. Peter Zeilinger, „Messianismus und Futur anterieur. Grundlagen einer allgemeinen Struktur des Politischen“, in: Clemens Pornschlegel (Hg.), Paulus-Lektüren der Gegenwart, München 2013, S. 45–62.

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Politiken des Anderswo 167

Kommunikation mit der Wahrheit zu legitimieren, ist niemals gerechtfertigt. Überlassen wir die Wahrheit ruhig ihrer subjektvien ‚Stimmlosigkeit‘, denn nur die Arbeit ihres Be- kennens ist es, die sie konstituiert.5

Im Verhältnis eines Subjekts zum Stiftungsereignis kann es also nicht darum gehen, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit oder ihrer Interpretation zu haben, zu behaupten oder zu erlangen. Es ist vielmehr die Praxis des Be- kenntnisses selbst, die „Treueprozedur“, die zugleich das Ereignis zu einem Wahrheitsereignis (nämlich einer Wahrheit für das Subjekt) und das Subjekt zu einem Subjekt macht (das nicht beliebig subjektiv, sondern in einer Wahr- heit ist). Ob ein Ereignis ein Ereignis ist, ist abstrakt unentscheidbar, es be- darf zu einer Entscheidung eines hermeneutischen Eingriffs, der den Namen des noch namenlosen Ereignisses festlegt, aber nicht bedingungslos verteidi- gen kann. Die Benennung eines Ereignisses bleibt stets „illegal“.6 Es gibt keinen letzten Grund für die treue Anhänglichkeit an dieses oder jenes Ereig- nis, außer der Tatsache, dass ohne die Praxis des Bezeugens das Subjekt seine

„Konsistenz“7 verliert. Die Kontingenz der Treue macht das Ausräumen aller Zweifel unmöglich, ermöglicht aber drei verschiedene Optionen des Um- gangs mit dem (vermeintlichen) Ereignis, die drei Subjektivierungsformen entsprechen.8

Die drei Formen der Subjektivierung werden durch die je eigene Haltung zum Ereignis bestimmt: Ein reaktives Subjekt verhält sich gleichgültig ge- genüber dem Ereignis, versucht dessen outlaw-Charakter zu leugnen, indem es wie eine Begebenheit unter anderen behandelt wird. Das obskure Subjekt erkennt den Ereignis-Charakter und bekämpft es feindselig, weil dessen Wahrheit die eigene Wahrheit bedroht. Das in Frage stehende Ereignis muss demnach vom obskuren Subjekt verworfen und attackiert werden. Einzig das treue Subjekt begegnet dem Ereignis als Ereignis, d.h. mit einem Enthusias- mus, von dem aus es initial-stiftend seine eigene Subjektivität gewinnt. Die- sen drei möglichen Positionierungen entsprechen, wie Badiou am Beispiel der Ereignisse der Oktoberrevolution deutlich macht, die klassisch marxisti- schen Einordnungen reformistisch, reaktionär und revolutionär.

5 Badiou, Paulus, S. 67.

6 Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005, S. 234.

7 Badiou, Ethik, 67. Der Gedanke, dass Ideologie kein Set von Auffassungen über die Verhältnisse in der Welt ist, das „die Herrschenden“ mit Herrschaftstechniken in uns hineinpressen, sondern eine wiederholte Praxis sozialer Handlungsvollzüge, in der wir uns als soziale Subjekte erweisen, verdankt Badiou Althusser und ist bis in heutige Praxisphi- losophien und -soziologen wirksam geblieben. Vgl. Louis Althussser, „Ideologie und idelogische Staatsapparate“, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg u.a. 1977, S. 108–153.

8 Vgl. Alain Badiou, Zweites Manifest für die Philosophie, Wien 2010, S. 87 ff.

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168 Thomas Bedorf

Wenn aber jedes Ereignis des Politischen „eine Singularität ist“,9 dann kann dies schon begrifflich kein Zustand von Dauer sein. Stiftungen von anderen Ordnungen sind Brüche mit geltenden Ordnungen, die äußerst selten auftreten. Es verwundert dann auch nicht weiter, wenn Badiou als die konkre- ten historisch durch einen (nachträglich) interpretierenden Eingriff als solche bezeichneten Ereignisse nur die großen revolutionären Momente gelten lässt, die sich an den bekannten Jahreszahlen festmachen lassen: 1789, 1848, 1871, 1917, 1956, 1968.

Diese Engführung des Politischen auf Revolutionsgeschichte bringt eine Reihe von Problemen mit sich, von denen zwei genannt seien: Zum einen geht mit dieser Überhöhung des Politischen eine verengte Perspektive einher, die es deskriptiv unmöglich macht, die Störung oder die Unterbrechung einer Ordnung auch in weniger revolutionären Momenten zu sehen. So lassen sich die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz oder dem Majdan nur dann als Ereignisse des Politischen verstehen, wenn man Badious Überhöhung nicht teilt und darauf abstellt, dass auch hier Ordnungen grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Subjektivierungen können auch temporär sein, ohne dass sich histo- rische Großsubjekte aus dem Pulverdampf herausbilden müssen. Zum ande- ren macht es Badious Bestehen auf der Genese eine neuen Kollektivsubjekts unmöglich, die Geste des Widerstands und des Nein-Sagens selbst als poli- tisch verstehen zu können.10

Festzuhalten für den vorliegenden Diskussionszusammenhang bleibt, dass Badious Begriff des Politischen die radikale Gebundenheit eines Subjekts an seine Wahrheit und das sie stiftende Ereignis postuliert.11 Damit wird das Politische weder als ein von anderen Sektoren gesonderter Raum der Freiheit

9 Alain Badiou, Über Metapolitik, Zürich u.a. 2003, S. 60. Badiou (wie auch Žižek und Rancière) bezeichnen diese Ereignisse als die Realisierung von „Politik“ (nicht: des Politi- schen). Da die Terminologie in den verschiedenen Theorien des Politischen jedoch unein- heitlich ist, habe ich vorgeschlagen, dieser Bezeichnungspraxis nicht zu folgen und mit dem Politischen die Ereignisse der Unterbrechung, mit der Politik hingegen die Praxis laufender prozedural-institutioneller Entscheidungen zu bezeichnen. Vgl. Thomas Bedorf,

„Das Politische und die Politik – Konturen einer Differenz“, in: ders., Kurt Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, Berlin 2010, S. 13–37. Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010, S. 32 ff. Einen guten Überblick über die kurrenten Theorien im Feld des Politischen bietet auch Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.), Das Politische denken, Bielefeld 2010.

10 Darauf hat Slavoj Žižek mit Lacan hingewiesen: Die Tücke des Subjekts, Frank- furt/M. 2001, S. 220, Fn. 43.

11 Daher ist das Politische auch nicht mit dem „Politisch-Theologischen“ in eins zu set- zen und somit mit dessen Aufgehen im Menschenrechtsuniversalismus „obsolet“ gewor- den, wie Jürgen Habermas annimmt. Vgl. ders., „‚The Political‘: The Rational Meaning of a Questionable Inheritance of Political Theology“, in: Eduardo Mendieta, Jonathan VanAntwerpen (Hg.), The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, S. 15–

33, hier: S. 21.

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Politiken des Anderswo 169 (bei H. Arendt) noch als ein Verfahren der Erzielung eines Konsenses über Interessen gedacht, sondern als die Erzeugung eines Bruchs mit einer unbefragt geltenden Ontologie. Die Revolution ist nicht aus der Kontinuität mit Bestehendem zu denken, sondern nur aus der Umkehrung der Verhältnis- se.

II. Die Mehrdeutigkeit des Exodusmotivs

In seinem Buch Exodus und Revolution unternimmt es Michael Walzer, „den Exodus als Paradigma revolutionärer Politik“12 vorzustellen. Die Geschichte des Exodus bebildert eine Emanzipation von (Fremd-)Herrschaft und erwies sich so in zahlreichen politischen, religiösen und sozio-kulturellen Kämpfen als anschlussfähig. „Diese Geschichte machte es möglich, andere Geschich- ten zu erzählen.“13 Walzer interessiert sich für die Geschichte nicht aus reli- giösen Gründen, sondern aus Gründen ihrer Rezeptionsgeschichte und somit ihrer Bild gebenden Wirksamkeit. Es lassen sich Erfahrungen einer je spezifi- schen Gegenwart mit dem Exodus-Motiv erschließen, deuten, aufwerten oder perspektivieren. Zunächst lässt sich das Motiv als Beispiel dafür heranziehen,

„was heute ‚nationale Befreiung‘ genannt wird“, dann aber auch für „jede Art von Unterdrückung und jede Art von Befreiung“.14 Daher interessiert sich Walzer weder für exegetische Genauigkeit, die den biblischen Text nur in seine historischen Schichten, Partien und Autorschaften auflösen würde, wodurch er schließlich an lesbarer Symbolkraft einbüßte. Walzers Interesse liegt überdies im säkularen Gehalt der Exodus-Geschichte, nicht in der Do- kumentation göttlichen Heilshandelns. Sie wird begriffen als ein Nieder- schlag menschlicher Erfahrungen von historisch wirksamem Handeln, möge auch die Selbstinterpretation dieser Erfahrung eine religiöse sein.

Der Rückgriff auf das Exodus-Motiv ist nicht allein von politiktheore- tischer Erklärungskraft, sondern hat – wie verschiedentlich festgehalten wur- de – bei Walzer selbst den Charakter einer politischen Intervention. Insofern Walzer die breite Rezeption der Exodus-Motivik zum Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion macht, stellt sie auch „einen Beitrag zum Kampf um die symbolische Hegemonie der politischen Sprache der USA dar“.15 Von diesem interventionistischen Aspekt sehe ich im Folgenden ganz ab.

Das Paradigmatische an der Exodus-Geschichte besteht nun darin, dass sie sich von anderen antiken Mythen und Geschichten ihrer Struktur nach fun-

12 Michael Walzer, Exodus und Revolution, Hamburg 1988, S. 17.

13 Ebd.

14 Ebd., S. 41 f.

15 Skadi Krause, Karsten Malowitz, Michael Walzer zur Einführung, Hamburg 1998, S. 103.

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170 Thomas Bedorf

damental unterscheidet. Denn während noch die Geschichte Odysseus so, wie Homer sie erzählt, eine ist, in der der Held nach Überwindung zahlloser Hin- dernisse zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, ist die Geschichte, die vom Exodus berichtet, linear statt zyklisch. Anderswo, nämlich im gelobten Land, anzukommen als dort, wo man seinen Ausgangspunkt genommen hat, macht geradezu die Kraft dieser Geschichte aus. Die Bewegung hat ein Ziel, das Grund und Motivation für die Bewegung ist. „Er ist ein Marsch auf ein Ziel zu, ein moralischer Fortschritt, eine tiefgreifende Verwandlung. Die Männer und Frauen, die Kanaan erreichen, sind, im buchstäblichen und übertragenen Sinne, nicht mehr dieselben Männer und Frauen, die Ägypten verließen.“16

Da der Weg des Auszugs aus der Wüste jedoch nicht nur bloß Wand- lungen, sondern als zielgerichteter Prozess Verbesserungen hervorbringt, illustriert der Exodus den Gedanken des Fortschritts. Somit dient diese Ge- schichte als Vorbild und Leitgedanke für alle modernen Geschichts- philosophien, die wesentlich einen Fortschrittsgedanken im Zentrum ihrer Theoriebildung implementieren. Die zyklische, kosmologische Wiederkehr des Gleichen ist mit dieser progressiven Linearität der Geschichte abgelöst.

Es irritiert, dass Walzer diese Wandlungen zunächst als „Revolution“ be- zeichnet. Mit Verweis auf die Begriffsgeschichte argumentiert Walzer jedoch dafür, dass der Terminus erst spät jene grundstürzende Ablösung einer Ord- nung durch eine andere bezeichnet. Revolution in diesem späten Sinne identi- fiziert Walzer hingegen mit dem Messianismus, jener anderen paradigmati- schen Formel, die er der Exodus-Erfahrung gegenüberstellt. Auf der einen Seite steht das Exodus-Denken, das Erlösung verspricht, jedoch eine diessei- tige, die mit politischen Mitteln erkämpft werden muss. Auf der anderen Seite steht der Messianismus – eine „Erhöhung der ursprünglichen Erlö- sung“,17 in der nicht das vertraute Kanaan, sondern „ein neuer Himmel und eine neue Erde“ versprochen werden. Im Gegensatz zum Messianismus wird in der Exodus-Geschichte nicht „die wunderbare Verwandlung der materiel- len Welt, verlangt, sondern [sie lässt] GOTTES Volk durch die Welt zu einem besseren Ort in ihr ziehen“.18

Walzer kann seine Version dieser Geschichte und ihrer Rezeption genau deswegen eine „revisionistische“ oder eine „sozialdemokratische Version“19 nennen, weil die lineare Geschichtsentwicklung nicht Bruch- oder Rei- bungslosigkeit bedeutet. Im Gegenteil bestimmen Hindernisse, Umwege und das wiederholte Murren des Volkes den langen Marsch. Die sozialdemo- kratische Lesart des Exodus liest die Geschichte als eine politische Bewe- gung, die an einem besseren Leben interessiert ist, während die „leninistische

16 Walzer, Exodus und Revolution, S. 21.

17 Ebd., S. 26.

18 Ebd.

19 Ebd., S. 25, 64.

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Politiken des Anderswo 171 Auslegung“20 auf eine „neue Gesellschaft“21 zielt. Dieser Dualismus ist nicht von außen herangetragen, er steckt in der Exodus-Geschichte selbst. Einer- seits verweist die materialistische Orientierung an den Gütern („Milch und Honig“) auf einen anspruchsvollen Gleichheitsbegriff, in dem sich negative (Abwesenheit von Tyrannei und Unterdrückung) und positive Gleichheit treffen (Heiligkeit des ganzen Volkes).22 Andererseits ist dieser doppelte Anspruch auch Vorbild für revolutionäre Gesellschaftsordnungen wie die des Leninismus.

Walzer entschließt sich daher, dieser Doppeldeutigkeit abzuhelfen, indem er die Unterscheidung zwischen Exodus-Politik und messianischer Politik trifft, die er in den Texten der jüdischen Bibel angelegt sieht. Angesichts der Verwerfungen, die sich im gelobten Land präsentieren, neuen äußeren und inneren Formen der Herrschaft, scheint die Verheißung als noch nicht reali- siert. Naheliegend ist es aufgrund dieser Erfahrung, deren Realisierung künf- tig überhaupt außerzeitlich zu denken: als Messianismus. Denn indem der

„zweite Exodus“ versprochen wird, um angesichts der schwachen, enttäu- schenden Realitäten an der Verheißung nicht zu zweifeln, wird die verzögerte Verheißung abstrakt, ortlos, gereinigt und überhöht. Sie wird „utopisch“23.

„Mithin leitet sich der Messianismus vom Exodus ab, aber die beiden bleiben radikal voneinander getrennt.“24 Die „göttliche Verwandlung der ruinierten Welt“25 versteht sich nicht mehr als Gegensatz zu einer historisch erfahrenen Unterdrückung, sondern zu dieser Welt überhaupt. Das Ende der Tage ist nicht von dieser Welt.

Das Programm messianischer Politik unterscheidet sich demnach grundle- gend von dem der Exodus-Politik und ist durch drei Merkmale gekennzeich- net: die Aufmerksamkeit für apokalyptische Ereignisse, die Bereitschaft, ausnahmslos alle Mittel zur Herbeiführung der Erlösung zu ergreifen und schließlich ihre Bedingungs- und Kompromisslosigkeit. Walzers historisches Vorbild dieser Kennzeichnung ist ausschließlich der apokalyptische Messia- nismus rechter Zionisten, auch wenn er es in der Folge als davon abgelöstes Muster radikaler Politik verwendet.

Nun könnte man meinen, Walzers Unterscheidung ließe sich auf Theorien des Politischen anwenden,26 wie sie im vorangehenden Abschnitt resümiert

20 Ebd., S. 76.

21 Ebd., S. 110.

22 Vgl. ebd., S. 117.

23 Ebd., S. 125.

24 Ebd., S. 127.

25 Ebd., S. 129.

26 Wie dies Andreas Hetzel dies in seinem ansonsten sehr aufschlußreichen Aufsatz vor- trägt: Vgl. Andreas Hetzel, „Vom Radikalismus zum Realismus? Michael Walzer und Raymond Geuss über Grenzen unbedingter Ansprüche in der Politischen Theorie“, in:

Burkhard Liebsch, Michael Staudigl (Hg.), Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbe-

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172 Thomas Bedorf

wurden. Dies ist aber nicht der Fall, weil diese auf der Basis von Kontingenz operieren, wozu messianischer Zionismus (oder andere religiöse Ope- rationen) gerade nicht in der Lage ist. Denn die Unterscheidung zwischen Ereignissen des Politischen und den Mühen der „bloßen“ Politik lassen sich mit Walzer vielmehr als Binnendifferenzierung der Exodus-Politik lesen.27 Denn die Differenz liegt nicht im zu Grunde liegenden Text der Exodus- Geschichte(n), sondern in „den Interpretationen des Textes“.28 Textfunda- mentalistische Politiken, wie wir sie zeitgenössisch in den Barbareien erle- ben, die auf den Buchstaben islamischer Texte deuten, während sie zu Fein- den dieser Religion erklärte Menschen köpfen, lassen sich dadurch mitnichten begründen.

Wenn Walzer dazu übergeht, die Säkularisierung des politischen Messia- nismus in den „Extravaganzen linker Ideologie“29 zu suchen, die zwar die Verwirklichung einer anderen Welt nicht mehr von der Macht Gottes erwar- ten, aber doch ein „Ende der Geschichte“30 anvisieren, um daraus ihr radika- les, von keinen Handlungsgrenzen mehr eingehegtes Arsenal politischer In- strumente zu gewinnen, dann scheint dies eher auf religiös verbrämte Fundamentalismen unserer Tage als auf eine egalitaristisch-revolutionäre Philosophie des Politischen zu zielen (die sich ja durchaus einer postmarxisti- schen Genealogie verdanken). Theorien, die Ereignisse des Politischen als Setzung eines Bruchs mit einer geltenden Ordnung konzipieren, können da- mit deswegen nicht gemeint sein, weil diese die Kontingenz aller Ordnungen zur Grundlage haben. Jedes Ereignis operiert „am Rand einer Leere“,31 wie es bei Badiou heißt und gerade nicht im Übergang zu einer reinen Fülle endzeit- lichen Heils. Exodus-Politik ist hingegen ihrerseits doppelgesichtig und viel- deutig. Sie kann sowohl eine „vorsichtige und gemäßigte“ als auch eine „re- volutionäre Politik“32 sein, auf deren Bilder sich sowohl „Sozialdemokraten“

wie „Bolschewiki“ berufen können.33

dingter Ansprüche im Kontext der politischen Theorie, Baden-Baden 2014, S. 315–334;

hier: S. 318 und 321.

27 Vgl. Walzer, Exodus und Revolution, S. 142.

28 Ebd., S. 152.

29 Ebd.

30 Ebd.

31 Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005, S. 205.

32 Walzer, Exodus und Revolution, S. 154.

33 Praxistheoretisch ließe sich noch ein anderer Vergleich führen. Denn Walzer macht deutlich, dass die erstmalige Erneuerung des Bundes der Israeliten die Möglichkeit und Notwendigkeit erzwingt, den Bund immer wieder zu erneuern. „Erst mit dem Bund machen sie sich zu einem Volk“ (Walzer, Exodus und Revolution, S. 85), d.h. stiften sich als kol- lektives Subjekt. Mit dieser Vorstellung, dass die Verbindung gerade nicht in einem Ver- trag oder einer ahistorischen Identifikation, sondern in einer iterativen Praxis des Bezeu- gens besteht (vgl. ebd., S. 97) und so das Subjekt hervorbringt, das sich („treu“) bindet,

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Politiken des Anderswo 173 Walzer und die Denker des Politischen lassen sich aber nicht nur nicht ent- lang des Begriffs des Messianischen einander entgegensetzen, sondern sie haben zudem einen gemeinsamen Gegner. Theorien deliberativer Demo- kratie, die den Konsens an die Stelle des politischen Konflikts setzen, taugen weder in den Augen des einen noch der anderen dazu, das Politische an der Politik angemessen zu erfassen. Die Politik des Konsenses – soweit der Kon- sens zwischen Walzer und seinen entfernten französischen Verwandten – ist eine rationalistische Verengung, die vieles von dem, was auch politisch ist, außer Acht lässt: Leidenschaften, Treue, Subjektivierungsformen, historische Gemeinschaften.

Diese Haltung beruht bei Walzer auf einer „down-to-earth“-Haltung, die sich nicht auf die „Bergeshöhe“ der abstrahierenden Distanz zurückziehen will, sondern in den Niederungen des „Tal[s] des Alltagslebens“ sich den Realitäten stellt. Dies deswegen, weil sich die Gesellschaft, „wenn auch ver- borgen und versteckt in unseren Konzepten und Kategorien“,34 bereits als gerecht und egalitär erweist. Diese letzte Unterstellung werden die Philoso- phen des Politischen nicht teilen, die zu Grunde liegende Kritik des Konsen- ses hingegen sehr wohl. Für Jacques Rancière sind Demokratie – verstanden in einer Badiou nahe stehenden Weise als das Axiom radikaler Gleichheit und der Kontingenz aller politischer Hierarchie – und Konsens geradezu Gegen- sätze. Wenn Demokratie nämlich der „Name einer singulären Unterbrechung dieser Ordnung der Verteilung der Körper in der Gemeinschaft“35 sein soll, dann kann der Konsens nur eine vorübergehende Fiktion sein, während der Dissens den Kern ihrer Bewegung ausmacht.

Doch kann dies natürlich keineswegs bedeuten, dass Walzers reformisti- scher Konventionalismus und die Philosophie der radikalen Demokratie in eins zu setzen wären. Im Gegenteil sind die Unterschiede so erheblich, dass es müßig wäre, sie hier im Einzelnen zu entfalten. Um es kurz zu machen, mag es erlaubt sein, sie anhand von Walzers eigener Unterscheidung zu cha- rakterisieren. Dann würde es nahe liegen, Walzers eigene Position als dieje- nige der „sozialdemokratischen“ Exodus-Politik zu bezeichnen und die Theo- rien der radikalen Demokratie als die „bolschewistischen“. Reform und Revolution, Kontinuität und Bruch, wären jene zwei Deutungen des Exodus- Narrativs, die das Versprechen auf eine andere Gesellschaft mit unterschied- lichen politischen Erwartungen und Mitteln versehen.

besteht eine Analogie zwischen Walzer, Badiou und Jan Assmann (Jan Assmann, Exodus.

Die Revolution der alten Welt, München 2015), der ich hier nicht nachgehen kann.

34 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. u.a. 1992, S. 20.

35 Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt/M. 2002, S. 108.

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174 Thomas Bedorf

III. Ein anderer politischer Messianismus

Von Jacques Derrida ist der Versuch unternommen worden, die politische Bedeutung des Messianismus weniger apokalyptisch als vielmehr diesseitig aufzufassen. Dieser Versuch korrespondiert mit der Frage, die Walzer in der Einleitung zu der von ihm mit herausgegebenen, zweibändigen Textsamm- lung zum jüdischen politischen Denken stellt, ob ein „middle term between exile and redemption, a political condition that avoids both messianic pretension and the underevaluated politics of the exile“36 denkbar sei.

Derridas programmatische Aussage, das „Messianische bleibt, so glauben wir, ein unauslöschliches Kennzeichen des Marxschen Erbes“,37 würde vor dem Hintergrund des bis hierher Gesagten bedeuten, dass Derrida den Mar- xismus in die Riege der unpolitischen Heilslehren mit apokalyptischem Ton einreiht. Wir würden Walzers Dichotomie zwischen Exodus-Politik und mes- sianischer Politik reproduzieren und wären keinen Schritt weiter. Doch Der- rida sieht im Nahen Osten realpolitisch die Fundamentalismen (in allen Reli- gionen) genauso messianistisch begründet, wie Walzers Identifikation des Messianismus mit dem rechten Zionismus es nahelegte. Derrida versucht daher, das Messianische als Strukturmoment politischer Theorie zu retten, ohne zugleich die Gefährdungen durch kulturelle oder religiöse Eindimensio- nalität aus den Augen zu verlieren. Einerseits werde ohne das Messianische die „Ereignishaftigkeit des Ereignisses, die Singularität und die Alterität des anderen“38 beschnitten, andererseits müsste das Messianische entmystifiziert werden:

[D]as ist vielleicht sogar die Formalität des strukturellen Messianismus, eines Messianis- mus ohne Religion, eines Messianischen ohne Messianismus sogar, einer Idee der Gerech- tigkeit – die wir immer noch vom Recht und selbst von den Menschenrechten unterschei- den – und einer Idee der Demokratie – die wir von ihrem aktuellen Begriff und ihren Prädikaten, wie sie heute bestimmt werden, unterscheiden.39

Es geht Derrida also nicht um eine Rehabilitierung des Messianismus als einer bestimmten Politik, die sich einer bestimmten mehr oder minder religi- ösen Tradition verdankt, sondern um ein kritisches Verhältnis zum Messia- nismus, ohne denselben einfachhin aufzugeben. Wenn also das Unverfügbare an der Alterität des Anderen – eine Denkfigur, die Derrida von Levinas über- nommen hat – nicht ohne Weiteres angeeignet und darüber hinaus das Ver- hältnis dieser Alterität zur politischen Ordnung gedacht werden soll, dann

36 Michael Walzer, „Introduction: The Jewish Political Tradition“, in: ders., Menachem Lorberbaum, Noam J. Zohar (Hg.), The Jewish Political Tradition, Bd. I, New Haven, London 2001, S. xxi–xxxi, hier: S. xxx.

37 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt/M. 1995, S. 54.

38 Ebd.

39 Ebd., S. 101.

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Politiken des Anderswo 175 eignet sich der Begriff des Messianischen dafür nur, insofern er als struktu- reller Überschuss bzw. Entzug aufgefasst wird, der – wie es bei Benjamin heißt, dem Derrida in dieser Hinsicht viel verdankt – in der Lage ist, „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“.40

Die Idee der Gerechtigkeit – so hatte Derrida in Gesetzeskraft demons- triert – treibt das Recht an und über es hinaus als Anpruch, dem gerecht zu werden, um dessenwillen Recht als Institution erst existiert. Das Verhältnis stellt sich jedoch als eine doppelte Verwiesenheit dar, weil zugleich die Ge- rechtigkeit nicht idealistisch über den Gewässern des positiven Rechts schwebt, sondern überhaupt nur in diesem realisiert werden kann.41 Im vor- liegenden Zusammenhang von Geschichte und Politik formuliert Derrida dieses Verhältnis unter dem Stichwort der „kommenden Demokratie“.42 Die kommende Demokratie stellt sich als der Überschuss über jede demokratische Institution dar, der aber zugleich eine Lücke, ein Mangel des ewigen Schei- terns an diesem Anspruch mit transportiert.

Es geht hier um den Begriff der Demokratie selbst als Begriff einer Verheißung, die nur aus einer solchen Spaltung [...] hervorgehen kann. Deswegen schlagen wir immer vor, von kommenderDemokratie zu sprechen (démocratie à venir) und nicht von zukünftiger De- mokratie (démocratie future), zukünftig im Sinn von ‚zukünftiger Gegenwart‘, und noch nicht einmal von einer regulativen Idee im Sinne Kants oder von einer Utopie.43

Wenn man Derridas Generalkritik an der Metaphysik der Präsenz als vorherr- schendem Modus abendländischen Denkens kennt, lässt sich das Beharren auf dieser unscheinbaren Differenz nachvollziehen. Die Demokratie als Über- schuss wird nie gegenwärtig sein können, wird sich nie als solche realisieren lassen und fungiert ebenso wenig als utopischer Zustand, der nie eintreten kann, aber vorstellbar ist. Sie ist nicht das, was in Zukunft eintreten wird, sondern „hier und jetzt“44 vielmehr das, was jede faktische Demokratie in Gang und sie offen hält dafür, was Derrida oben die Singularität des Anderen oder dessen Ereignis genannt hatte. Demokratie im Kommen bezeichnet ein

„unendliche[s] Versprechen (das niemals gehalten werden kann [...])“,45 ein

„messianisches Versprechen [..]“, das „emanzipatorisch“ ist.46

40 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schrif- ten, Bd. I.2: Abhandlungen, Frankfurt/M. 1991, S. 691–703, hier: S. 702.

41 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt/M. 1991.

42 Derrida, Marx’ Gespenster, S. 109.

43 Ebd. – Dass die Demokratie „im Kommen“ bleibt, hatte Derrida zuvor bereits in Ge- setzeskraft notiert (Derrida, Gesetzeskraft, S. 96 f.).

44 Jacques Derrida, Das andere Kap, Frankfurt/M. 1992, S. 57.

45 Derrida, Marx’ Gespenster, S. 109 f.

46 Ebd., S. 124.

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176 Thomas Bedorf

IV. Politik und Ethik

Wenn Derrida daran die Überlegung schließt, dass dieses messianische Ver- sprechen „vielleicht die Bedingung eines andern Begriffs des Politischen“47 sei, dann bietet sie die Möglichkeit, auf die Theorien des Politischen zurück- zukommen. Es ist ein Begriff des Politischen, der – so will es scheinen – in seiner Abhängigkeit von der Ethik her gedacht ist: „l’éthique est l’hospitalité“.48 Gastfreundschaft ist einer der Namen, den Derrida dem Über- schuss über die institutionellen Ordnungen des Rechts oder der Politik gibt.

Sie ist wesentlich immer als unbedingter und also uneingeschränkter Emp- fang des Anderen verstanden und somit prima vista von den konkreten kultu- rell gegebenen Ausformungen der Gastfreundschaft unterschieden. Begriff- lich differenziert Derrida daher zwischen dem Gesetz der Gastfreundschaft und dem Gastrecht. Mit „Gesetz“ bezeichnet Derrida die Unbedingtheit des Ereignisses des Anderen, der als absolut Anderer auf uns zukommt und einen Anspruch an uns heranträgt, während mit „Recht“ jene lokalen Üblichkeiten oder kodifizierten Berechtigungen bezeichnet werden können, die von früh- geschichtlichen Ritualen gegenüber Fremden bis hin zum modernen Asyl- und Flüchtlingsrecht reicht. Die politisch-moralischen Konflikte, mit denen Europa sich angesichts Hunderttausender Flüchtlinge auseinanderzusetzen hat, resultieren präzise aus dieser Spannung.

In diesem Sinne kann Derrida in dem oben erwähnten Ausdruck sagen, die Ethik sei die Gastfreundschaft. Das gilt immer unter der Voraussetzung, dass man mit Levinas die Ethik formal als eine Ethik des absolut Anderen konzi- piert.49 Bevor Derrida in Gesetzeskraft die einzelnen Aporien des Verhältnis- ses von Recht und Gerechtigkeit entwickelt, formuliert er selbst die Abhän- gigkeit der zu Grunde liegenden Figur vom Denken Levinas’:

Im Grunde handelt es sich um eine einzige Aporie, um ein einziges aporetisches Potenzial, das sich selbst unendlich verteilt [...]: eine Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit (die unendlich ist, unberechenbar, widerspenstig gegen jede Regel, der Symmetrie gegenüber fremd, heterogen und heterotrop) und ihrer Ausübung in Gestalt des Rechts, der Legitimi- tät oder Legalität (ausgleichbar und satzungsgemäß, berechenbar, ein System geregelter, eingetragener codierter Vorschriften). Ich bin versucht, den Begriff der Gerechtigkeit, den ich hier tendenziell von dem des Rechts unterscheide, in gewissem Maße jenem anzunä- hern, der sich bei Lévinas findet, und zwar gerade aufgrund der Unendlichkeit, die ihn auszeichnet, und des heteronomen Verhältnisses zum Anderen, zum Antlitz des Anderen,

47 Ebd., S. 124.

48 Jacques Derrida, Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!, Paris 1997, S. 42 (i. Orig. kursiv).

49 Zur der Derrida und Levinas gemeinsamen Theorie der Alterität: Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung, Berlin 2010, Kap. 2.4, sowie ders., Andere, Bielefeld 2011, Kap. 7.

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Politiken des Anderswo 177

das mir befiehlt, dessen Unendlichkeit ich nicht thematisieren kann und dessen Geisel ich bin.50

Das Gesetz der Gastfreundschaft identifiziert Derrida also mit dem ethischen Anspruch des absolut Anderen. Wenn nun die Dimension des Rechts, der kodifizierten Normen, demgegenüber in einem weiten Sinne als das Feld der institutionalisierten Politik bezeichnet werden darf, so ließe sich zusammen- fassen, dass Derrida eine Neukonzeption der Relation von Ethik und Politik vornimmt. Der „andere Begriff des Politischen“, den Derrida oben als einen möglichen ins Feld geführt hatte, wäre also einer, der von der Ethik her ge- dacht wäre. Oder, um noch einen Schritt weiter zurückzugehen, die messiani- sche Politik wäre eine von der Ethik angetriebene Politik.

Kann uns dieses Zwischenfazit etwas Weiterführendes sagen hinsichtlich der Opposition zwischen messianischer Politik und Exodus-Politik? Die The- oretiker des Politischen sind gegenüber einer ethischen Politik ebenso skep- tisch wie gegenüber idealistischen Politiken der deliberativen Demokratie. Im Grunde genommen gehen sie davon aus, dass eine Politik, die sich einer Ethik des Anderen verschreibt, bloß zu einer neuen Essenzialisierung führt, die gegenüber alten, schalen Humanismen keinerlei Fortschritt darstellt.

Jacques Rancière sieht in dieser Art von Ethik eine neue Form der Ab- schaffung des Politischen. Die Ethik des Anderen, so Rancière, „schlägt vor, das Verschwinden der politischen Gestalten der Andersartigkeit mit der un- endlichen Andersartigkeit des Anderen wieder gutzumachen.“51 Die Unge- rechtigkeiten, die in der jeweiligen politischen Anordnung der Körper im öffentlichen Raum erzeugt und fortgeschrieben werden, sollen von einer Ethik des Anderen gewissermaßen durch eine Emphatisierung des ‚ganz‘

Anderen kompensiert werden, so dass daraus schließlich doch wieder eine quasi-humanistische Moral resultiert. Rancière nennt dies eine „Polizei des Humanitären“.52 Alain Badiou identifiziert nicht auf diese Weise umstandslos interkulturelle Ethik mit Levinas’ Philosophie der Alterität, aber auch er verwirft sie letztlich. Er gesteht zu, dass jede Konkretisierung des Anderen vor dem Hintergrund von Levinas’ Philosophie eine Reduktion des Anderen auf „das Selbe“ wäre. Der Theorie von Levinas kann man hingegen nur ge- recht werden, wenn man den Begriff des absolut Anderen als einen formalen Begriff bestimmt. Das aber, so meint Badiou, impliziert, „dass der Andere

50 Derrida, Gesetzeskraft, S. 44 f.

51 Rancière, Das Unvernehmen, S. 144.

52 Ebd., S. 145. In einem englischsprachigen Aufsatz hat Rancière gründlicher für seine Behauptung argumentiert, Derrida verkenne die Gleichheit im demos, wenn er stets das Supplement des Anderen als Anstoß der Demokratie im Kommen postuliere. Dieser Aus- einandersetzung wäre an anderer Stelle gesondert nachzugehen. Vgl. Jacques Rancière,

„Should Democary Come? Ethics and Politics in Derrida“, in: Pheng Chea, Susanne Guerlac (Hg.), Derrida and the time of the Political, Durham u.a. 2009, S. 274–288.

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178 Thomas Bedorf

irgendwie von einem Prinzip der Andersheit getragen wird und dieses Prinzip die einfache endliche Erfahrung transzendiert. [...] Es gibt nur insofern Ethik, als es den unsagbaren Gott gibt.“53

Gemäß Badious eigener Ontologie ist der Andere vielmehr indifferent, weil Levinas’ ontologische Beschreibung unzutreffend ist. Statt eines Ver- hältnisses des Selben zu einem transzendierenden Anderen müssen man schlicht von Mannigfaltigkeiten ausgehen, in denen „der Andere indiffe- rent“54 ist. Das Problem besteht also nicht in einem ethischen Zu-Gute-Halten der Unendlichkeit des Anderen, sondern in der politischen Sicherstellung egalitärer Bedingungen für alle Mannigfaltigkeiten. Slavoj Žižek schließlich distanziert sich von Levinas, indem er dessen (in der Tat fragwürdige) Kon- zeption einer historischen Sonderstellung Israels mit der Formalität des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Subjekt und Anderem kurzschließt.

Dadurch legt er fälschlicherweise Levinas’ Frage, ob ich angesichts der Un- endlichkeit der Ansprüche des Anderen überhaupt ein Recht zu existieren habe, als negativistische Arroganz meiner Selbstbezogenheit aus: Alles hängt von mir ab!55

Mit einigen Abstrichen aufgrund der anders gelagerten Anlage der Theorie gehören hierher auch Walzers Überlegungen zu einem moralischen Minima- lismus. Denn die in politischen Kämpfen häufig artikulierten von ihm so genannten „dünne Moralen“ versammeln ein jeweils kontextuell verankertes Set an Werten, die der Reflexion zugänglich aber nicht in einem anspruchs- vollen Sinne hochgradig reflektiert sind. Zwischen den verschiedenen dünnen Moralen kann es Übereinstimmungen geben, die auch so weitgehend sein können, dass sich daraus ein gemeinsames Urteil über politische Situationen oder Handlungsnotwendigkeiten rekonstruieren lässt. Sie können aber auf- grund ihrer Kontextgebundenheit keineswegs dazu führen, dass eine abstrak- te, universale Moral auf all solche Situationen anwendbar wird, da es „keine neutrale (nicht expressive) moralische Sprache“56 gibt und geben kann.

Die Position, die man mit Derrida und Levinas einnehmen kann, ist jedoch stärker, als es diese kritischen Kommentierungen vermuten lassen. Denn eine dekonstruktive oder alteritätstheoretische Perspektive auf das Verhältnis von Ethik und Politik schützt selber davor, eine normative Hierarchie zwischen ethischem Appell und politischer Prozedur zu installieren, die zu Gunsten Ersterer immer schon entschieden wäre. Es ist vielmehr so, wie Derrida nicht müde wird zu betonen, dass stets eine Frage offen bleibt, deren

53 Badiou, Ethik, S. 37.

54 Ebd., S. 43.

55 Vgl. Slavoj Žižek, Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt/M. 2005, S. 37.

56 Michael Walzer, „Moralischer Minimalismus“, in: ders., Lokale Kritik – globale Standards, Hamburg 1996, S. 13–36; hier: S. 24.

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Politiken des Anderswo 179 Unbeantwortbarkeit zu ihrem Wesen hinzugehört. Wenn Derrida fragt: „Wie denn eine Moral oder eine Politik aussehen sollte, die Verantwortung einzig an der Regel des Unmöglichen mißt“,57 so lautet die Antwort: „Aus diesem Denken läßt sich zweifellos keine Politik, keine Ethik und kein Recht ablei- ten. Natürlich kann man damit nichts tun.“58

Was soll das heißen, dass man damit „nichts tun kann“? In Schurken no- tiert Derrida fünf zentrale Punkte, die seine Auffassung der kommenden De- mokratie konturieren sollen. Diese steht erstens für eine „kämpferische und schrankenlose politische Kritik“; sie zielt zweitens auf ein „anderes Denken des [unvorhersehbaren] Ereignisses“; drittens auf eine „Ausweitung des De- mokratischen über die nationalstaatliche Souveränität“ und verknüpft viertens die Demokratie mit dem Gedanken der Gerechtigkeit.59 Im fünften und letz- ten Punkt wiederholt Derrida das Erfordernis, „hier und jetzt“60 zu handeln und die kommende Demokratie nicht als eine „künftige“ misszuverstehen.

Auch wenn im Einzelnen zu diskutieren bliebe, was etwa „Kritik“ heute hei- ßen kann, oder wie das komplexe Verhältnis von internationalem Recht und nationaler Demokratie zu denken, geschweige denn zu implementieren sei, finden sich doch hier genügend Ansätze, wo zu intervenieren und was zu bearbeiten ist. „Mit ‚kommende Demokratie‘ dagegen wird nichts angekün- digt. Nein.“61 Aber es wird eine bleibende Aufgabe gestellt, die wir zu bewäl- tigen haben. Dass die Frage offen bleibt und bleiben muss, ist nicht ein Man- gel an philosophischen Fähigkeiten, sondern fordert uns heraus. „Being unable to answer is, in fact, the condition of possibility for engagement or response.“62 Derrida, der uns die Sensibilität für die Nuancen der Materialität der Schrift gelehrt hat, wäre nahezulegen, eine Kursivierung zu überdenken.

„Natürlich kann man damit nichts tun.“ Aber man kann etwas tun.

57 Derrida, Das andere Kap, S. 36.

58 Jacques Derrida, Schurken, Frankfurt/M. 2003, S. 13.

59 Ebd., S. 123–125.

60 Ebd., S. 128 f.

61 Ebd., S. 129.

62 Madelein Fagan, Ethics and Politics after Poststructuralism, Edingburgh 2013, S. 142.

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