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Der Gott der Lebenden

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Ingo Baldermann

Der Gott der Lebenden

Die Einzigartigkeit der biblischen Gotteserfahrung

Neukirchener Theologie

(5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2013

Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Düsseldorf Lektorat Ekkehard Starke

DTP: Yvonne Schönau

Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany

ISBN 978–3–7887–2728–4 (Print) ISBN 978–3–7887–2729–1 (E-Book-PDF) www.neukirchener-verlage.de

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Inhalt

1. Heiliges Land ... 7

1.1 An der Klagemauer ... 7

1.2 »Wir sind nicht religiös« ... 10

1.3 Erwählt – doch wozu? ... 15

2. Was bleibt? ... 24

2.1 Letzte Worte ... 24

2.2 Die Kraft des Kleinsten – Zur Grammatik und Semiotik der Liebe ... 25

2.3 Eine uralte Liebesweise ... 31

3. Gottesbilder ... 34

3.1 Du sollst dir kein Bildnis machen ... 34

3.2 Sprache der Liebe? ... 38

3.3 Ein leidenschaftlicher Gott ... 45

4. Dort werdet ihr ihn sehen! ... 59

4.1 Schekhina – wo ist Gott? ... 59

4.2 Stark wie der Tod? ... 61

4.3 Eine neue Sprache ... 63

4.4 Das Brot des Elends ... 67

4.5 Rabbuni! ... 78

5. Der Gott der Lebenden ... 91

5.1 … die Toten loben dich nicht ... 91

5.2 Todesvergötzung ... 100

5.3 Die Erde ist voll deiner Güte ... 106

6. Wer Christus heute für uns ist ... 117

6.1 Durch die Hölle gegangen ... 117

6.2 Eli! Eli! ... 123

6.3 Gottes unendlicher Schmerz ... 131

7. Die schönen Namen Gottes ... 136

7.1 Auf der Psalmenbrücke ... 136

7.2 Jesus der Jude ... 145

7.3 – und Israel? ... 149

Literatur ... 160

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Gewidmet den beiden Lehrerinnen:

Bruria Sela aus Ma’abaroth und Astrid Greve aus Siegen

aus deren Begegnung Freundschaft wuchs wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen,

der seine Frucht bringt zur rechten Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.

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1. Heiliges Land

1.1 An der Klagemauer

Die Kontrolle ist freundlich, nicht der rechte Glaube wird überprüft, nur soll niemand hier Zutritt haben mit einer Waffe – dann öffnet sich der Platz vor uns, unvergleichlich allen anderen Plätzen, die wir ken- nen – einladend im warmen Abendlicht; wir müssen erst einmal inne- halten, damit die Seele Zeit hat zu begreifen, wo sie ist, was dies für ein Ort ist, wir atmen tiefer, müssen uns für einen Augenblick setzen auf den Stufen der großen Treppe.

Wir lassen den Strom der Menschen an uns vorbeiziehen, die Männer meist mit eiligem Schritt, doch dazwischen auch fröhliche junge Fami- lien, schon die Jungen tragen an ihrer Kleidung die Zeichen ihrer Spiri- tualität, Gebetsriemen und Quasten; sie tragen sie offen, das lässt ihre Herkunft erkennen, aber ist es richtig, sie »orthodox« zu nennen?

Das Wort will sich so gar nicht fügen zu der heiteren Lebendigkeit, mit der sie den ganzen Platz beherrschen, es ist für alle ein einzigartiger Ort des Gebets, doch nicht unter schweigendem Ernst, sondern erfüllt von pulsierendem Leben – liegt darin das Geheimnis der Tora und ih- rer Gebote, dass sie gar nicht »Gesetz« sind, sondern »mein Lied«, das mich begleitet und das mich mit jedem Schritt spüren lässt, wie ich auf Gottes Wegen bin?

Ich merke: Meine Sinne und meine Seele sind überwach, ich nehme alles hier wahr wie in einem sensitivity training, das mir alles Ge- wohnte fragwürdig und brüchig erscheinen lässt: Die Heiterkeit, die diesen Platz des Gebets erfüllt, steht in so auffälligem Gegensatz zu dem bitteren ethischen Ernst, mit dem Kant uns Protestanten erfüllt hat – dass nur als wahrhaft gut gelten kann, was ich gegen meine Neigung tue; hierher sind alle aus innerster Neigung gekommen, fröhlich, etwas Notwendiges und Gutes zu tun.

Ohne Frage: All diese Füße – wer weiß, woher sie kommen – sind zielstrebig auf dem Weg zu der Mauer; sie wissen: Da ist der Ort für ihr Gebet, dort ist es gut aufgehoben, und es wird ein Gebet sein mitten aus ihrem Leben. Ist dies das Geheimnis der Tora: nicht nur mit dem Geist, auch mit Händen und Füßen Gottes Willen zu tun, mit den Fü- ßen IHN zu ehren, mit den Händen IHM Freude zu machen, ja: mit

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8 1. Heiliges Land

Händen und Füßen IHM zu danken – es muss eine einzigartige Erfah- rung sein, die sie so belebt.

Und jedenfalls auch dies lebt aus dieser so einzigartigen Erfahrung:

eine Toleranz, die mich erstaunen lässt. Denn das ist allen, auch mir in diesem Augenblick, gegenwärtig: Oberhalb der Mauer weitet sich ein wunderbar ruhiges Areal mit zwei prachtvollen Moscheen, hier wohnt in majestätischer Ruhe der Islam, in seltsamem Gegensatz zu dem bro- delnden Leben am Fuße der Mauer – es war das Areal des Ersten (von Salomo erbauten) und des Zweiten (nach dem Exil erneuerten) Tem- pels, bis in die Zeit Jesu ein Ort der Sehnsucht und der Wallfahrten, ein Haus für die unruhige Seele – »Deine Altäre, Herr Zebaoth!« –, doch unangefochten (bis auf die Träume einiger Sektierer) darf sich hier heute der Islam als Religion eines höheren Friedens präsentieren.

Ich weiß, wie schnell sich der politische Konflikt auch dieser Orte be- mächtigen kann; ich weiß aber auch, dass vor dem Sechstagekrieg Is- raelis es sehr schwer hatten, auch nur den Fuß der Klagemauer zu er- reichen. Wer jetzt das Leben am Fuße der Westmauer des alten Tem- pels erlebt, kann ahnen, was es für Israelis bedeutete, den Zugang hier- her wieder zu öffnen; unvergesslich Rubingers Bild1: die Gesichter junger Soldaten, die auf einmal wehrlos überwältigt sind vom Anblick dieser Mauer. Hier von »Eroberung« zu sprechen, ist ahnungslos; das friedliche heitere Treiben, das sich mit dem Fuß der Mauer begnügt und das gesamte weite Areal der früheren Tempel widerspruchslos dem Islam überlässt, spricht eine andere Sprache, nicht die der Erobe- rer.

Ich sehe: Auch Menschen ganz anderer Art sind da, ehrwürdige Alte, einige mit schweren alten Büchern, man hat ihnen einen Stuhl an die Mauer gestellt; andere sind aus aller Herren Länder hierher gekom- men, noch im Touristendress, doch offenbar nicht nur als Touristen – was suchen sie hier? Was suche ich hier?

Ich zögere, weiß nicht, wie weit ich, ein Fremder, ja ein Deutscher, mich der Mauer nähern darf, werde angesprochen: You are a Russian?

– nehme mir eine Kippa, um wie die anderen selbstverständlich mei- nen Scheitel zu bedecken, begreife auf einmal auch, warum: Sie wirkt auf meine Seele wie ein Tallith – ja: von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir. Jeder Atemzug sagt mir: Hier ist alles anders als irgend sonst, dieser Ort ist einzig auf der Welt.

Sie mögen es nicht, wenn wir diese Mauer »Klagemauer« nennen; aber es ist ein so beredter Name, dass »Westmauer« dagegen ein leeres Wort bleibt. Denn Klage: Das ist die beherrschende Sprachform in den Psalmen, freilich eine ganz eigene, wohl einzigartige Form der Klage.

Die Klage ist hier eine ganz elementare, nicht mehr ableitbare Urform

1 Als Cover auf: David Rubinger, Israel durch mein Objektiv, Bonn 2010, im Buch S. 122.

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1.1 An der Klagemauer 9 der Sprache, es ist die wohl elementarste Weise, Gott zu rufen, zu ihm zu reden, nach ihm zu schreien, gleich weit entfernt von dem Reden der Theologen »über« Gott wie auch von der Larmoyanz unserer hoff- nungslosen Alltagsklage.

Mit Klage: mit dem Schreien eines hoffnungslos verlorenen Häufleins von Migranten, bis aufs Blut geschunden in Ägypten, fängt die Ge- schichte Israels an – und mit der ganz unerwartet in diese Klage ein- brechenden Antwort: ICH habe ihr Schreien und Weinen gehört! Wer denn kann so reden, dass Worte dieses Elend auffangen? Die »Klage- mauer« ruft sie in Erinnerung, und auf einmal begreife ich: Es sind eben diese Worte, die den Platz vor der Mauer in ein so einzigartiges Licht tauchen: ICH habe euer Schreien gehört.

Und da sind noch andere Worte: Hier ist der Ort, über dem ich meine Augen offen stehen lasse Tag und Nacht. Das Geheimnis des Ortes lebt in solchen Worten – ein Ort kaum beschreibbarer, doch erfahrba- rer Gegenwart. Doch was heißt: Gegenwart? Die jüdische Tradition hat ein verlässlicheres Wort dafür: schekhina – es meint ein bleibendes Hiersein, ein Wohnen. Niemand wagt zu behaupten, dass Gott hier wohne – doch es ist der Ort, an dem sein Name wohnt, SEIN Name, der sagt: Ich bin da!

Ich weiß auch: Diese Mauer hat Schreckliches gesehen, sie war ein Menschenalter nach Jesus die letzte Bastion jüdischer Kämpfer in ih- rem verzweifelten Abwehrkampf gegen den hoffnungslos überlegenen Feind, der ein Ende machen wollte mit den Juden in dieser Stadt. Jesus hatte sie noch anders wahrgenommen, er hat den Tempel einen Ort des Gebets für alle Völker genannt – und dieses Stück der Mauer ist es ge- blieben, allem zum Trotz. Noch immer ist sie, selbst von außen be- trachtet, ein ganz unvergleichlicher Ort des Gebets, der all das pulsie- rende Leben hier auf sich zieht, Leben, das so zum Gebet drängt – welch ein Bild!

Ich wage es und gehe an die Mauer, suche mir eine Stelle mit genü- gend Abstand zu den Nachbarn, aber das ist nicht leicht, spüre mit meiner Hand die Mauer, mit meiner Stirn – ich habe es noch nie so ge- wagt. Mein Nebenmann, ein junger Mann, spricht in großem Schmerz, küsst die Mauer, steckt einen Zettel in eine Fuge. Ich brauche kein Pa- pier, ich merke, ich rede wie noch nie – »wie ein Mann mit seinem Freunde redet« – stehe zugleich neben mir und staune über mich – muss an den alten Scherz denken, dass hier jedes Gebet einfach ein Ortsgespräch ist.

Was ist das für ein Ort, wie reich, überreich an Erinnerung! Was für Erfahrungen nehme ich von hier mit, Erfahrungen vieler Generationen, gesammelt in nur zwei Stunden! Wie lange werde ich brauchen, sie theologisch einzuordnen? Und was ist das für eine Grunderfahrung, die hinter allem steht?

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10 1. Heiliges Land

1.2 »Wir sind nicht religiös«

Wieder im Kibbuz, finde ich wenig Aufmerksamkeit für meine Erfah- rungen. »Wir sind nicht religiös!« sagen sie, diskret verwundert, dass Leute wie wir ihr ganzes Leben an so etwas wie Theologie verschwen- den. Dabei verfolgt mich der Eindruck, dass wir uns hier mit jedem Schritt auf dem Boden biblischer Tradition bewegen. Sie ist in allem gegenwärtig, auch im Alltäglichen. Die ganz normale regionale Se- kundarschule lässt in ganz unscheinbaren Vorgängen eine Pädagogik von einer so tiefen Menschlichkeit erkennen, dass wir uns wünschen, wir könnten auch nur ein paar Funken davon nach Hause in unsere Schulen mitnehmen. »Keine Stunde«, sagt die Schulleiterin, »darf ver- gehen, ohne dass unsre Jugendlichen etwas mitnehmen, das ihnen hilft zu leben!«

Ohne Frage: Es ist eine Grunderfahrung Israels, die diese Pädagogik prägt. Wer in Israel lebt, muss wissen: Hier kann jeder Tag für alle der letzte sein. Aber in unserem Kibbuz wird das nicht verwandelt in Ag- gression gegen die Feinde ringsum,2 sondern in ein bewussteres Wahr- nehmen jedes Tages, jeder Stunde. Der von den Gegnern angedrohte Tod ist in den Nachrichten jedes Tages präsent. Aber die Reaktion ist eine für uns erstaunliche Gelassenheit, und die ist nicht religiös moti- viert; die Bedrohung wird nicht beantwortet mit dem Ausblick auf ein anderes Leben nach dem Tode, sondern mit gesteigerter liebevoller Konzentration auf das Leben heute in diesem Land.

Wo sonst gibt es das, fragen wir uns, dass akute Todesdrohung päda- gogisch nicht harte autoritäre Strukturen erzeugt, sondern eine Päda- gogik, die die Freude am Leben intensiviert, ja das Glück zu leben nur umso deutlicher bewusst macht? Das Lebensgefühl bei den jungen Familien, die ich an der Klagemauer beobachtete, ist gewiss ein völlig anderes, aber das begreife ich: Israel, ja: typisch Israel ist das eine wie das andere, in der tiefen Liebe zum Leben. Wie kann diese Liebe zum Leben solchen Raum gewinnen in einem Volk, das wie kein anderes den Tod als ein kollektives unabwendbares Schicksal erfahren musste, den perfektionierten Tod mit dem grauenhaften Gesicht jenes »Meis- ters aus Deutschland«, dem Paul Celan diesen Namen gab?

Ich erstaune immer von neuem, wie diese Schule mit ihren Schülern umgeht: Zum Lehrplan gehört hier wie selbstverständlich der Tanz – nicht als Gesellschaftstanz, sondern als Weg, sich selbst in der Einheit von Leib und Seele genauer kennenzulernen, eine Sprache für die See- le zu finden, als Hilfe zur Stärkung des Selbst. Aber schon indem ich dies so schreibe, empfinde ich sehr scharf das Unangemessene meiner

2 Emek-Hefer galt von Anfang an als eine Oase guter Nachbarschaft zwischen Israelis und Arabern.

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1.2 »Wir sind nicht religiös« 11 Worte, ich bediene mich einer Terminologie, die im Grunde heidnisch ist und den Besonderheiten des Lebens in Israel nicht gerecht wird.

»Stärkung des Selbst« könnte auch als pädagogische Maxime für eine marktkonform arbeitende Pädagogik dienen, die gnadenlos die Schwa- chen von den Starken trennt – doch was sie hier tun, meint etwas ganz anderes, etwas zutiefst Menschliches:

Die Erinnerung an den Tod, den Meister aus Deutschland, lässt zwangsläufig an das Gas denken, das mit dem Einatmen den Tod bringt. Allein schon das Wort oder gar der Geruch von Gas lässt in Is- rael diesen ganzen Schrecken wieder anbranden. Ich vergesse nicht die Worte, mit denen Andre Schwarz-Bart seinen Erni Levy, den Letzten der Gerechten, in den Tod gehen lässt, wie Korczak umgeben von Kindern, die sich an ihn drängen: Er beginnt »mit aller Mildherzigkeit und aller Kraft seiner Seele laut zu schreien: Atmet tief, meine Lämm- chen, atmet schnell!«3 Es ist das teuflische Gegenbild zu dem Bild der Schöpfungsgeschichte, in dem Gott dem noch leblosen Menschen, aus Erde gemacht, seinen Lebensodem einhaucht – Gottes Atem als das innerste Geheimnis des Lebens.

Mir will es scheinen, als wäre die ganze Schule mit allem, was hier geschieht, getragen von dem Bewusstsein, wie kostbar in jeder und jedem Einzelnen das Geschenk dieses Atems ist, dem Gas entronnen, unendlich kostbar wie jedes Gesicht hier, das allem zum Trotz in die- sem Israel das Licht der Welt erblickt hat, einzigartig jedes Gesicht jeder Schülerin, jedes Schülers – in jeder Begegnung, in jedem Gesicht spiegelt sich die Weite des Alls und die Leidenschaft der Befreiung;

niemand, denke ich, kann hier zum Objekt der Pädagogik werden, so selbstverständlich ist in dieser Schule der Respekt vor dem Wunder des Atems und dem Geheimnis jedes Gesichts und vor der Würde je- des und jeder Einzelnen.

Wir erleben den Kibbuz als einen besonderen Ort, einen Ort tiefen Friedens; man kann aus dem Haus gehen und das Haus offen lassen und sicher sein, dass nichts passiert.

Unsere Gastgeber sind schon hier im Kibbuz geboren; wir fragen nach den Eltern, die sind aus dem südlichen Polen gekommen, sagt sie, aus Rumänien, sagt er, und wir mögen nicht mehr weiter fragen, auf ein- mal sind wir im Zentrum des Schmerzes:

Sie sind also aus dem Umfeld der Bukowina gekommen, erst jetzt, nach ihrer Verwüstung, haben wir wahrgenommen, welch eine einzig- artig blühende Oase jüdisch-deutschen Lebens diese Landschaft um Czernowitz war; sie kommen also dorther, wo auch Rose Ausländer und Paul Celan zuhause waren, und in ihren Versen fällt aus unserer Erinnerung auf einmal der ganze Schmerz dieser wahnwitzigen Zerstö-

3 Andre Schwarz-Bart, Der letzte der Gerechten, Paris 1959, Deutsch von Mir- jam Josephsohn, Frankfurt a.M. 1961, 395.

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12 1. Heiliges Land

rung über uns her – unsre Gastgeber mögen davon nicht reden, wir mögen nicht fragen; wir können es nur erahnen, etwa in solchen Zeilen von Rose Ausländer.

Wir stehn vor verriegelten Türen.

Es war unser Haus. Es war

unser Garten mit feingekämmtem Haar.

Es war Mutterduft, es war.

Wir kehren um, gehen schräg den giftigschwarzen Weg ins Getto.4

Sie sind entronnen, wir wissen nicht, wie – aber aus eingestreuten Halbsätzen der Erinnerung setzt sich ein Bild ihres Exodus zusammen:

Wie sie aufgebrochen sind aus dieser Heimat, die keine mehr sein soll- te – wir dürfen nicht nach den Erinnerungen fragen, die sie mitnah- men, dürfen den unerträglichen Schmerz nicht wieder heraufbeschwö- ren – Paul Celan hat ihn beschrieben wie ein wildes Tier:

SCHWARZ

wie die Erinnerungswunde, wühlen die Augen nach dir in dem von Herzzähnen hell- gebissenen Kronland5

Was muss das für ein Aufbruch gewesen sein, aus einer verlorenen, so geliebten Heimat in eine völlig ungewisse Zukunft, ohne irgend eine Verheißung, was für eine Mühsal dieser Weg, ganz anders noch als der Weg durch die Wüste, den die Vorfahren gingen, nach ihrem Exodus, aus Ägypten und später noch einmal aus Babylon hierher.

Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, wie sie da unterwegs waren, nach Süden, zunächst wohl nur, weil gar kein anderer Weg mehr offen war – doch aus den zögernd hervorgeholten Erinnerungen wird noch anderes offenbar: Ihr Antrieb war vor allem anderen der Zorn über das Erlittene; sie waren beseelt von dem gleichen Willen wie später auch die Aufständischen im Warschauer Ghetto: endlich den Deutschen zu zeigen, dass sie nicht Opfertiere sind, ihnen wehrlos ausgeliefert, son- dern fähig, ihnen schmerzhaft und blutig zu widerstehen; sie sind auf- gebrochen mit dem brennenden Wunsch, ihnen endlich offen zu be- gegnen mit der Waffe in der Hand und dem ganzen Zorn ihrer Seelen.

In Europa ist das nicht mehr möglich; so weichen sie immer weiter aus nach Süden, und abermals kommt Ägypten ins Spiel: Denn dort an der

4 Rose Ausländer, Geisterweg; in: Fäden ins Nichts gespannt, Frankfurt a.M.

1991, 94.

5 Paul Celan, Schwarz, in: Atemwende, Frankfurt a.M. 1982, 53.

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1.2 »Wir sind nicht religiös« 13 Küste Nordafrikas sind die Deutschen schon wieder am Werk, sich alles zu unterwerfen, mit nur einer Handvoll Elitetruppen, die sich Af- rika-Korps nennen; sie sind immer weiter auf dem Vormarsch, doch hier, in den Wüsten Ägyptens, soll es endlich gelingen, ihre Offensive zu stoppen, sich ihnen so entgegenzuwerfen, dass sie an diesem Wi- derstand scheitern. Sie fühlen sich dabei wie ein letzter Stoßtrupp, auf dem Weg, die Ehre der untergegangenen polnischen Armee wieder- herzustellen.

Tatsächlich kam die deutsche Offensive dann an der Grenze Ägyptens zum Stehen; und ich bin sicher, dass der Zorn der Entronnenen dazu beigetragen hat; mein Bruder war dort als deutscher Soldat und ist bei el Alamein schwer verwundet worden. Doch die Eltern unserer Gast- geber kamen gar nicht mehr bis nach Ägypten; und das gibt ihrer Ge- schichte eine unerwartete neue Wendung:

Auftauchend aus dem tiefen Schmerz ihrer schwarzen Erinnerungs- wunde finden sie hier an der Küste des Mittelmeeres unversehens ein Stück Land, das offenbar alles zu heilen verspricht, das vom Frieden redet und zum Bleiben auffordert, all ihren Plänen zum Trotz; sie fin- den andere, die schon vor ihnen ankamen, auch als Entronnene, und hier geblieben sind und jetzt hier wohnen, und so entschließen auch sie sich zum Bleiben – in der hebräischen Sprache ist es ein und dasselbe Verb, das vom Bleiben und vom Wohnen redet.

Was war es, das den Wunsch, hier zu bleiben, dann doch so stark wer- den ließ, dass er den anderen, zornigen überwinden konnte, endlich den Deutschen mit Waffen in der Hand alles heimzuzahlen? Ob nicht doch neben dem Zorn von allem Anfang an noch ein anderes Motiv verborgen ihren verzweifelten Aufbruch bestimmt hat: die Suche nach einem Ort, an dem sie endlich endlich Ruhe finden könnten? Und ob sie an diesem Ort nicht doch eben die Verheißung wahrgenommen ha- ben, die bei ihrem Aufbruch noch schwieg: dass sie, die jahrtausende- lang immer wieder Vertriebenen, Gejagten, hier Fuß fassen könnten, dass ihre tiefe Sehnsucht nach Heimat, nach verlässlichem Bleiberecht, hier Erfüllung finden könnte?

Sie sagen: Wir sind nicht religiös! Aber was ist das, das ihnen dieses Stück Land auf einmal so beredt macht, dass sie all ihre Pläne aufge- ben und einfach nur bleiben wollen? Es muss ein Ort sein, der ihnen wie kein anderer auf der Erde verspricht, zuhause zu sein. Es muss die Erinnerung sein, die ihnen sagt: Es ist ein Land, das schon einmal für ihr gejagtes und vertriebenes, fast verdurstetes Volk ein unaussprech- lich geliebtes Zuhause wurde. Wahr ist: Es liegt ein Exil von fast zwei- tausend Jahren dazwischen. Aber ist dies nicht dennoch ihr Land, einstmals ihnen verheißen als Heimat nach langem Wüstenzug – jetzt noch einmal neu entdeckt?

Denn das gehört offenbar zur Didaktik der Verheißung: dass die Erfah- rung der Erfüllung Bilder von früheren Erfüllungen braucht, um wirk-

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14 1. Heiliges Land

lich begriffen zu werden: als Erfüllung einer tiefen, jahrhunderte-, ja jahrtausendealten Sehnsucht. So erst vermag die Seele die Erfüllung zu begreifen. Und mir wird klar, dass hier die Schwäche unserer christli- chen Hoffnung liegt: dass ihr Ziel so ganz und gar transzendent formu- liert wird, eben: religiös; ins Unaussprechliche abgehoben, alle Erwar- tungen übersteigend – unvorstellbar, unbegreiflich –, und darüber ver- liert die Hoffnung ihre Wurzeln in der Seele, die sich gegen den An- sturm der Hoffnungslosigkeit nur mit tiefen Wurzeln in konkreten far- bigen Bildern behaupten kann.

Gegenüber dem Judentum wird von christlicher Seite gern damit ar- gumentiert, dass die Bindung Israels an dieses Land eine Schwäche sei, vergänglich wie alles Irdische, während wir Christen an keine irdi- schen Orte gebunden seien und hier keine bleibende Stadt mehr haben.

Doch jetzt wird es mir immer deutlicher, dass gerade diese Diesseitig- keit des Judentums seine Stärke ist. Es geht ja nicht um eine dogma- tisch fixierte Beziehung Israels an ein bestimmtes Stück Land, sondern um eine emotionale Bindung, die so vital ist, dass sie nicht nur zwei- tausend Jahre Exil überdauert hat, sondern weit mehr: die auch heute noch stark genug ist, unter den Entronnenen das unbeschreibliche Grauen der Schoah aufzufangen. Ich verstehe: »Religiös« ist das nicht, aber dahinter muss eine Erfahrung stehen, die noch tiefer reicht als die religiöse.

Immer wieder bin ich erstaunt, mit welcher heiteren Gelassenheit unser Gastgeber, er ist Ingenieur und für die Wasserversorgung im Kibbuz verantwortlich, von der Entstehung und von der Zukunft dieses Kibbuz spricht. In ihm ist noch lebendig, was die Eltern erlebten, auf dem Weg dem Todfeind entgegen, als sie hier ein Stück Land fanden, schön

»wie eine Blume in Saron«, und wie das jetzt ihr Herz gewinnt, ein wunderbares Stück Erde im Herzen des Landes, das doch einmal ihrem Volk zugeeignet war, als Heiliges Land, Eretz Jißrael – und so bleiben sie hier, gar nicht mehr weit von Jerusalem; zu Füßen des Gebirges Ephraim am Meer – gewiss doch auch mit dem Satz im Ohr: »… ist Ephraim nicht mein geliebtes Kind?«

Er ist ein überzeugter Kibbuznik geblieben, überzeugt von der Idee einer sozialistisch organisierten Lebensgemeinschaft; er sieht nüchtern, wie fremd sich diese Idee heute in einer total vom Markt dominierten Gesellschaft ausnimmt, und strahlt doch eine Überlegenheit aus, die nur aus einer größeren Gewissheit kommen kann: Die Gründung die- ses Kibbuz an dieser Stelle in diesem Land, endlich ein Stück Heimat für die Entronnenen, die ihre schwere schwarze Erinnerungswunde noch lange mit sich tragen werden, war genau das Gebotene und Not- wendige, und das wird es bleiben, was auch immer geschieht – was ist das für eine Gewissheit?

Es gibt ein Fest, an dem für uns mehr noch als an anderen die Identität Israels hängt, ein Fest der Sehnsucht und der Hoffnung: das Passafest,

(16)

1.3 Erwählt – doch wozu? 15 das an die Grunderfahrung der Befreiung und die Wunder der Bewah- rung erinnert und daraus neue Hoffnung gewinnt. Wir fragen vorsich- tig nach dem Passafest – ob und welchen Raum es hier noch hat – und erfahren, dass selbstverständlich auch in einem nicht-religiösen Kibbuz das Passa gefeiert wird. Es gibt dafür eine eigene Haggada. Und offen- bar ist niemand hier der Meinung, dass mit der erklärten Distanz zum Religiösen das Passafest seinen Sinn verlöre.

Zum Abschied bekommen wir ein besonderes Geschenk, eine sehr schöne Metallarbeit, als Schmuck an die Wand zu hängen, besser noch an die Eingangstür der Wohnung. Erst bei genauerem Hinsehen erken- nen wir die kunstvoll ausgesägten hebräischen Buchstaben, die mit uns gehen sollen: Sie werden uns, sooft wir sie anschauen, die Worte sa- gen, die als das Grundbekenntnis Israels gelten: Sch`ma Jißrael – Hö- re, Israel, ER unser Gott ist einzig!

1.3 Erwählt – doch wozu?

Sie sind keine Zionisten, jedenfalls halten sie Abstand zu der Parole, dass hier ein Volk ohne Land auf ein Land ohne Volk getroffen sei – sie sagen, es gehöre zum Ruhm ihrer Region, dass hier von Anfang an gute Nachbarschaft zwischen Arabern und den jüdischen Einwande- rern geherrscht habe; und ich begreife, wie schwer es ist, mit dem Schicksal umzugehen, das dieses Volk verfolgt: Immer erscheinen sie als Eindringlinge, auch wo sie aus unsäglichem Elend kommen; als Entronnene brauchen sie endlich einen Ort, an dem sie Ruhe finden nach allem und Trost, und wissen doch: Sie werden, wohin sie auch kommen, selbst in diesem Land, als Fremde angesehen, als Migranten, nicht hier geboren, ohne Heimatrecht.

Wer so kommt, hat erst einmal gar keine Chance, sich bodenständig zu fühlen; alle anderen Völker fühlen sich als Kinder des Landes, in dem sie jetzt wohnen, aus diesem Boden geboren und gewachsen, mit ih- rem Blut ihm verhaftet. Wir kennen diesen Blut-und-Boden-Mythos aus unserer deutschen Vergangenheit zu genau und erschrecken, wo immer wir Ähnliches hören. Israel konnte ihm nie verfallen, von allem Anfang an, schon in der Geschichte der Väter, waren sie in der schwie- rigen Rolle der erst später Dazugekommenen.

Wir wissen, dass in den Vätergeschichten kollektive Erinnerungen zur Sprache kommen, nicht Erlebnisse einzelner historischer Personen;

Israel identifiziert sich ganz mit Jakob, der auf dem Weg zurück in das Land seiner Herkunft beim Überschreiten der Grenze, an der Furt des Jabbok, aus dem Dunkel angefallen wird von einem überhaupt nicht greifbaren Feind und mit ihm einen Kampf auf Leben und Tod beste- hen muss (1. Mose 32).

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16 1. Heiliges Land

Wäre dieser Text nicht so alt – er gehört zum Urbestand des Buches Genesis –, könnte er als Gründungsmythos des Staates Israel gelten:

Beide ringen miteinander verbissen die ganze Nacht hindurch, fast schon war Jakob unterlegen, das wäre sein Ende gewesen; sie können voneinander nicht lassen, noch als der Morgen heraufzieht, und mitten in diesem erbitterten Ringen sagt Jakob: Ich lasse dich nicht, du seg- nest mich denn! Da lassen sie ab voneinander, es ist offensichtlich ein Kampf um den Segen, und nach dem Kampf empfängt Jakob, jetzt weiß er sich neu gesegnet, diesen Namen: Israel.

Die Geschichte ist unerschöpflich; sie erzählt nicht nur von kollektiven Erfahrungen, uralten und gegenwärtigen, sondern in gleicher Intensität auch von Erfahrungen, die einzelne in der Begegnung mit Gott ma- chen; Luther etwa hat sie so verstanden, aber auch die moderne tiefen- psychologisch arbeitende Exegese (Drewermann). Sie bleibt, nicht zu- fällig an der Furt des Grenzflusses lokalisiert auch politisch aktuell:

Sie erzählt von dem Kampf beim Überschreiten einer überaus schwie- rigen Grenze: eine Zugangs- und Schlüsselgeschichte für die Selbster- fahrung Israels – in biblischer und in heutiger Zeit.

Kaum war von der UNO die Gründung des neuen Staates beschlossen und sein Name Israel öffentlich ausgerufen, da fielen von allen Seiten die Armeen der arabischen Nachbarn über den jungen Staat her, der noch kaum Gelegenheit hatte, Atem zu schöpfen, um ihm so rasch wie möglich den Garaus zu machen. Dass Israel dem standhielt und diesen konzertierten Angriff überlebte, wenn auch mit schweren Verlusten, bleibt ein Wunder. Überall im Lande gibt es Orte des Erinnerns, die davon erzählen.

Mir gehen auch Bilder noch nach, die von der Vertreibung der jüdi- schen Bewohner aus dem jüdischen Viertel von Jerusalem (im Mai 1948) erzählen; wie lange schon waren sie dort zuhause, ganz selbst- verständlich, im Einzugsbereich der Klagemauer; jetzt werden sie nach zäher Verteidigung von der militärisch weit überlegenen Arabischen Legion vertrieben, unter Führung britischer Offiziere. Die Bilder zei- gen, wie sie ausziehen: nur mit dem, was sie auf dem Leibe und im Handgepäck tragen können.

Jakob/Israel auf der Flucht vor dem Zorn des Bruders (1. Mose 27ff.):

Er weiß, er ist nicht der Erstgeborene, er hat sich den Segen des Erst- geborenen erlistet. Das ist Israels Geschick schon in biblischer Zeit, und es ist seither so geblieben: Wo immer sie hinkommen, sind andere da, die prall und unbefangen das Erstgeburtsrecht für sich in Anspruch nehmen. Nicht einmal dass sie Abrahams Kinder sind, ist davon aus- genommen: Nicht Isaak, Jakobs Vater, sondern Ismael ist Abrahams Erstgeborener, der Stammvater der Araber. Und ganz einzigartig ist:

Das erzählen sie selbst von sich, so sehen sie sich selbst, von jeher so, in ihren ureigensten uralten Überlieferungen.

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