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9. Januar 2014: "Auf der Suche nach der integrativen Kraft. Zur Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Universität der Zukunft"

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1 Wilhelm Krull

„Auf der Suche nach der integrativen Kraft. Zur Rolle der Geistes- und Sozial- wissenschaften in der Universität der Zukunft“

Vortrag in der Universität Würzburg am 9. Januar 2014

Verehrter Herr Präsident Forchel, lieber Herr Professor Hasse,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Suche nach der integrativen Kraft ist vermutlich – ähnlich der Suche nach neuen Erkenntnissen – ein niemals ganz abzuschließender Vorgang; denn mit jedem Fund oder Befund stellen sich zugleich neue Fragen und Probleme, deren Lösung oftmals ungleich schwieriger erscheint als die zuvor geklärten. In gewisser Weise gilt wohl auch hier – wie in der Hochschul- und Forschungspolitik – der Satz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Albert Camus) Nicht immer sind es große Felsbrocken, die wir den Berg der Erkenntnis hinaufrollen, aber auch das Schleppen kleinerer Bausteine kann mitunter schon unendlich mühevoll erschei- nen.

Doch nun zunächst zum zweiten Teil des Titels meines Vortrags, den Geistes- und Sozialwissenschaften: Der südafrikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger J. M.

Coetzee spricht in einer der Elizabeth Costello-Lessons mit dem Titel „The Humani- ties in Africa“ über die besonderen Herausforderungen, denen die christlich-

abendländischen ebenso wie die hellenistischen Traditionslinien der Geistes- und Sozialwissenschaften im afrikanischen Kontext ausgesetzt sind. Genauer gesagt, bescheinigt Elizabeth Costellos Schwester Blanche anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch eine südafrikanische Universität den Humanwissenschaf- ten, die sie im Sinne der Rennaissance als „studia humanitatis“ apostrophiert, dass sie sich bereits „auf dem Sterbebett“ befänden und in ihrer Wertorientierung das Hu- manitäre völlig aus dem Blick verloren hätten: „The studia humanitatis have taken a long time to die, but now, at the end of the second millenium of our era, they are truly on their deathbed.“ (J. M. Coetzee: The Humanities in Africa. In: The Humanities in Africa: Elizabeth Costello. Eight Lessons. London: Wintage 2004. S. 123).

Bei ihren Zuhörern löst Blanche alias Sister Bridget mit ihrer Radikalkritik große Ver- wunderung, ja ein Gefühl der Undankbarkeit und der Verstörung aus. Auch noch beim anschließenden Mittagessen erscheint die Atmosphäre um sie herum geradezu vergiftet. Lediglich ihre Schwester, die Schriftstellerin Elizabeth Costello, gerät in eine

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intensive Diskussion mit Professor Godwin, der dezidiert daran festhält, dass die Humanwissenschaften das Herzstück einer jeden Universität bilden, they „remain the core of any university“ (ebd., S. 125). Dies bezweifelt Elizabeth Costello ganz ent- schieden. Sie hat vielmehr den Eindruck, dass die heutigen Universitäten vor allem im „money making“ ihre wichtigste Mission sehen, die zugleich die Humanwissen- schaften durch eine Art Selbstüberforderung in eine schwierige Position gebracht hat. Sie fragt, ob nicht von Anfang an viel zu große Hoffnungen und Erwartungen auf die Humanwissenschaften gesetzt wurden: „… that there has been something mis- conceived in the study of the humanities from the start? Something wrong with plac- ing hopes and expectations on the humanities that they could never fulfill?” (ebd., S.

125).

Die damit angesprochene zivilisatorische Funktion der Humanwissenschaften gilt auch heute noch als eine ihrer wichtigsten Daseinsberechtigungen. Zugleich mehren sich jedoch Zweifel, ob sich die Humanwissenschaften auch weiterhin im Sinne der

„litterae humaniores“ oder der „studia humanitatis“ begreifen können.

I. Krisenkonjunkturen, Statuspassagen und Risikolagen

Blicken wir nun auf die Innenansichten der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland, so ist man fast geneigt, sie mit einem Satz Gotthold Ephraim Lessings zusammenzufassen: „Klagen, nichts als Klagen!“ (so der Prinz in „Emilia Galotti“).

Von der Politik allzu lange vernachlässigt, schlecht ausgestattet, unterfinanziert und nahezu chancenlos im Wettbewerb um die großen Drittmitteltöpfe der Öffentlichen Hand (und damit weitgehend auch von den neuerlichen Segnungen der „overheads“) scheinen sie ein geradezu erbarmungswürdiges Dasein zu fristen. Drei Zitate aus den Geisteswissenschaften mögen hier genügen, um dieses krisenhafte Selbstbild zu illustrieren:

- „In vielen geisteswissenschaftlichen Fächern steht man bereits mit dem Rücken zur Wand. Weitere Kürzungen werden in manchen Bereichen unmittelbar zum Exitus führen“ (Hans-Joachim Gehrke: Erfolg auf wa- ckeligen Beinen. Was die Geisteswissenschaften fördert – und was sie bedroht. In: Forschung, 1/2008, S. 3).

- „Über den Geisteswissenschaften liegt nämlich ein wissenschaftsideo- logischer Fluch, den 1959 Charles Percy Snow, Physiker, Romancier und hoher britischer Staatsbeamter mit seiner Rede von den zwei Kul- turen, der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen (literarischen) Kultur in die Welt gesetzt hat. Er tat dies eher nebenbei, in einer Art Sonntagsrede und doch mit ungeheurer Wirkung, vor allem bei den Geisteswissenschaftlern. Diese Wirkung sagt denn vielleicht auch nicht so sehr etwas über den Wahrheitsgehalt der Snowschen Vorstellungen, als vielmehr etwas über die Nervosität und den Selbst-

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zweifel, die die Geisteswissenschaften ergriffen haben.“ (Jürgen Mittel- straß: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, Oldenburg 1989, S. 7).

- „Wo noch vor 15 Jahren die Rede- und Ideenschlacht tobte, gibt es heute als Geräusch nur noch die leise Klage der Hochschullehrer über die dürftigen Schreib- und Leseversuche einer sprachlos gewordenen Generation und den beflissenen Wortschwall von Studenten, deren ab- geleiertes Referat vom meditativen Geklapper der Stricknadeln beglei- tet wird, in der Hoffnung, dem geistigen Leben durch handwerkliche Nebentätigkeit noch einen Hauch von Sinn abzuringen.“ (Joachim Dyck, Stumm und ohne Hoffnung. In: Die Zeit 25/1985).

Von diesen Äußerungen ist nur die erste halbwegs aktuell, und zwar von dem Althis- toriker Hans-Joachim Gehrke aus der DFG-Zeitschrift „Forschung“. Die beiden ande- ren stammen aus den 1980er Jahren. Sie zeigen, dass laut klapperndes Klagen of- fenbar seit eh und je zum geisteswissenschaftlichen Handwerkszeug gehört.

Die Äußerungen von Joachim Dyck und Jürgen Mittelstraß fallen zeitlich ungefähr zusammen mit Odo Marquards Aufforderung an die Geisteswissenschaften, sich ge- rade nicht für zunehmend obsolet erklären zu lassen, sondern ihre „Unvermeidlich- keit“ durch die „Kompensation von Modernisierungsschäden“ der Natur- und Tech- nikwissenschaften unter Beweis zu stellen. Wörtlich hatte Odo Marquard 1985 vor der Westdeutschen Rektorenkonferenz gesagt: „Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.“ (S. 98) Während Mar- quard in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem historischen Gewordensein, der komplexen Gegenwart und einer nur in groben Zügen vorhersehbaren Zukunft einer naturwissenschaftlich-technisch geprägten Welt die wichtigste Aufgabe der Geisteswissenschaften sah und deshalb auch das Gespräch über die Disziplinen- grenzen hinweg suchte, gilt freilich nach wie vor für viele Geistes- und Sozialwissen- schaftler, dass sie einen solchen Brückenschlag tunlichst vermeiden. Dabei gilt zum einen die Devise „I am a philosopher, I have a problem for every solution“, und zum anderen dominiert bisweilen wohl immer noch der Hochmut, den dereinst der be- kannte Romanist Ernst Robert Curtius an den Tag legte, als er einen Ruf an die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, die heute nicht nur in den Ingeni- eurwissenschaften weltbekannte RWTH Aachen, mit der Begründung ablehnte, dort laufe er ja Gefahr, dass ihm womöglich eines Morgens der Ordinarius für Heizung und Lüftung auf dem Flur begegne und ihn – horribile dictu – mit „Herr Kollege“ be- grüße.

Das damit umrissene Oszillieren zwischen Hochmut und Verzagtheit, zwischen Un- entbehrlichkeitsgefühlen und Übernahmeängsten prägt seit geraumer Zeit insbeson- dere die Debatte um die Geisteswissenschaften im engeren Sinne, aber auch um große Teile der Sozialwissenschaften – und zwar nicht nur in Deutschland. Dabei geraten nur allzu schnell die besonderen Qualitäten und Kompetenzen der Geistes- wissenschaften aus dem Blick. Jenseits der vielfach vorherrschenden „Ge-

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kränktheitsrhetorik“ (Peter Strohschneider) muss es uns vor allem darauf ankommen, die Chancen und Risiken für die Geistes- und Sozialwissenschaften auszuloten, und zwar gerade angesichts des technologischen Wandels und der Globalisierungspro- zesse. Dies kann nur gelingen, wenn wir zugleich bereit sind, immer wieder neue Sichtachsen zu schaffen sowie über Zeiten und Grenzen hinweg zu lernen, getragen von der Überzeugung, dass gerade das Andersartige und das Vergangene im Ge- genwärtigen präsent sein müssen, wenn wir auf verantwortungsvolle Weise die Zu- kunft gestalten wollen.

„Unsere Zeit wird bestimmt durch organisierte Gleichzeitigkeit, mediale Flüchtigkeit und ständige Beschleunigung. Für diese ‚Beschleunigung der Geschichte‘ sind nicht mehr Dauerhaftigkeit, Linearität und Kontinuität typisch, sondern rascher Wandel. Die Einheit der geschichtlichen Zeit ist zerbrochen. Zeit aber, sagt der Philosoph Henry Bergson, kann nur vergehen vor dem Hintergrund dessen, was bestehen bleibt, oder mit einem Zitat von Eduard Herriot ausgedrückt: ‚Kultur ist das, was übrig bleibt, wenn man alles andere vergessen hat.‘“ (Klaus-Dieter Lehmann: Buch, Bild und Bib- liothek in Zeiten des Internet. In: Deutsche Stiftungen: Vielfalt fördern. Bericht über die 56. Jahrestagung vom 10. – 12. Mai 2000 in Weimar, Berlin: Bundesverband Deutscher Stiftungen, 2000, S. 192). Die von Klaus-Dieter Lehmann bei der Weima- rer Jahrestagung des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen im Jahre 2000 ange- sprochene Geschwindigkeit der Veränderung hat sich seither noch einmal drastisch erhöht. Viele der technischen Möglichkeiten, der Internet-Unternehmen und auch der Nutzungen elektronischer Kommunikationsmittel sind erst im Laufe der 1990er Jahre entstanden und haben sich seither rasant ausgebreitet. Wie man der Internetseite

„Did you know?“ entnehmen kann, verzeichnet alleine eine Kommunikationsplattform wie „Myspace“ inzwischen mehrere 100.000 Besucher pro Tag, auf „Youtube“ gibt es mittlerweile mehr als eine Milliarde Nutzer und bei Google belaufen sich die Internet- recherchen auf mehrere Milliarden – aber nicht etwa pro Jahr, sondern pro Woche.

Der weltweiten Buchproduktion scheint dies allerdings keinen Abbruch getan zu ha- ben; denn deren Zahl beläuft sich immerhin auf mehr als 3.000 neue Bücher pro Tag.

Es gehört zu den Paradoxien dieser Veränderungsdynamik, dass mittels Suchma- schinen und Plattformen immer mehr Materialien, darunter auch kulturhistorisch be- sonders wertvolle Quellen, geradezu ubiquitär verfügbar werden. Zugleich lösen sich jedoch die technischen Medien in immer kürzer werdenden Abständen ab. Indem die neuen Medien die Gleichzeitigkeit, Interaktivität und Offenheit des Zugangs fördern, eröffnen sie auch der Forschung ganz neue Möglichkeiten. Sorgen machen aber muss die Vernachlässigung der Dauerhaftigkeit der Dokumentationen: Kurzlebigkeit als Folge der schnellen Verfügbarkeit?

In der Tat bedeutet die digitale Revolution in der wissenschaftlichen Kommunikation und Dokumentation eine enorme Herausforderung, nicht zuletzt für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Digitale Volltext- und Datensammlungen ermöglichen ganz neue Zugänge und tragen dazu bei, dass neue Forschungsfelder entstehen, in de- nen etwa Methoden der Korpuslinguistik, des „Information Retrieval“ und des „Text or

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Data Mining“ verwendet werden. Ob darin nun gleich wieder die Gefahr einer „feindli- chen Übernahme“ gesehen werden muss und die Geistes- und Sozialwissenschaften sich „gegen falsche Ansprüche der Informatik“ zur Wehr zu setzen haben (vgl. dazu den Artikel von Jan Röhnert: Feindliche Übernahme? Die Geisteswissenschaften wehren sich gegen falsche Ansprüche der Informatik, aber setzten auf die „Digital Humanities“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Juli 2013, S. 9.), kann einstweilen dahingestellt bleiben. Klar ist jedoch, dass auch Projekte, die mit großen Daten- und Textmengen in Form von Makroanalysen operieren, einer kreativen und originellen Fragestellung bedürfen, um für Leser interessant zu sein. Intellektuelle Bevormundungen sind dabei weder in die eine noch in die andere Richtung hilfreich!

II. Verstehen, erklären oder provozieren – welche Möglichkeiten haben die Geistes- und Sozialwissenschaften heute?

Wer über die Geistes- und Sozialwissenschaften sprechen will, der begibt sich in ei- nen schier unübersehbaren Kosmos höchst vielfältiger Fixsterne, Milchstraßen und Planeten, dessen Vermessung nie ganz gelingen kann. Mit Blick auf mein heutiges Thema und den primär universitären Bezugsrahmen möchte ich es – mit dem uner- schütterlichen Mut zur Vereinfachung – gleichwohl wagen, drei Aufgabenfelder und ihre Anschlussmöglichkeiten an andere Wissenschaftsbereiche ins Zentrum zu rü- cken. Der größtmöglichen Einfachheit halber verknüpfe ich sie mit den Schlagworten:

„verstehen“, „erklären“ und „provozieren“.

„Verstehen“ wird im Laufe des 19. Jahrhunderts zur zentralen Kategorie für die Geis- teswissenschaften, und zwar spätestens seit Wilhelm Diltheys Schrift „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ (hier zitiert nach der Ausga- be im Suhrkamp Verlag von 1974). „Es ist die Richtung auf die Selbstbesinnung, es ist der Gang des Verstehens von außen nach innen.“ (S. 92), die laut Dilthey ein ganz wesentliches Element darin bedeutet, die „Menschheit zu bestimmen und von den Naturwissenschaften abzugrenzen.“ (S. 91) Mit dieser Vorstellung ist eng ver- bunden das verstehende Aneignen, Erschließen und Vermitteln vergangener Wis- sensbestände, also die Memoriafunktion, die Kunst der Interpretation und die Ver- mittlung von Einblicken in unsere eigenen und fremden Traditionen.

„Erklären“ ist vor allem eine Signatur für den Versuch der Sozialwissenschaften, aber spätestens seit Beginn der 1990er Jahre auch der Kulturwissenschaften, die sich von den traditionellen Geisteswissenschaften abwenden und versuchen, sich neu zu po- sitionieren und Terrain im Zwischenfeld der empirischen Wissenschaften zu beset- zen. Die empirische Ästhetik, für die gerade ein Max-Planck-Institut gegründet wor- den ist, belegt eine weitere Entwicklung, wie neue Synthesen von Geistes-, Sozial-, Kognitions- und Neurowissenschaften entstehen können. Aber auch die Linguistik mit ihren computer- und korpuslinguistischen Verzweigungen gehört in diese Domä- ne.

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„Provozieren“ oder gar „verstören“ klingt für manchen von Ihnen vielleicht etwas be- fremdlich, ja irritierend. Man könnte auch davon sprechen, dass hier vor allem das Erarbeiten fundamental neuer Sichtweisen und das Aufbrechen scheinbar selbstver- ständlicher Konsense, ja das Eröffnen kritischer Reflexionsräume, vielleicht sogar

„vorbeugendes Nachdenken“, also Kritik an neueren Entwicklungen, und insbeson- dere intellektuelle Herausforderungen der Zukunft im Mittelpunkt stehen. Im Fokus steht hier das radikale Infragestellen für selbstverständlich gehaltene Positionen. Ein jüngstes Beispiel könnte etwa die neueste Publikation von Thomas Nagel sein: „Geist und Kosmos – Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“, die bereits als das „meist gehasste Wissenschaftsbuch“

apostrophiert worden ist. Diese kritische, intellektuelle Debatten provozierende Funk- tion und die damit verbundene Herausforderung zu selbstständigem Denken ist in der Tat – nicht nur in diesem, sehr speziellen Fall – auf der Seite der Natur- und Technikwissenschaften nicht sonderlich willkommen. Dies spiegelt sich etwa in der folgenden Äußerung wider, die mir im Kontext der „Schlüsselthemen für Wissen- schaft und Gesellschaft“ schon des Öfteren begegnet ist: „Die Dinge werden ja nicht einfacher, wenn Geistes- oder Sozialwissenschaftler hinzukommen.“

Humanwissenschaftliches, historisch-philosophisches Arbeiten, darauf hat Theodor Litt bereits in seiner Schrift „Individuum und Gemeinschaft“ aufmerksam gemacht (vgl. Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie.

Leipzig und Berlin 1926.), bewegt sich in vielfältigen Wechselbezügen „von Erken- nendem und zu Erkennendem“ (S. 412). Das Erfassen der Wirklichkeit und ihres Gewordenseins „treibt schon der Wille, der sich der Zukunft entgegenstreckt; er fragt nach dem Sinn, in dem das Wirrsal des Erlebten und Erlittenen sich lichtet – und der Sinn, den er in ihm zu finden meint, ist in Wahrheit der Sinn, den er der werdenden Wirklichkeit zu verleihen entschlossen ist.“ (S. 412) Alle „methodische Besonnenheit“, ja „entsagungsvolle Sachlichkeit ihres Strebens“ (S. 413) vermag letztlich nichts da- ran zu ändern, dass das „ausübende Ich mitten inne steht in dem Gefüge der Wirk- lichkeit, die es in diesem oder jenem Teile der Erkenntnis aufzuschließen sich vorge- setzt. Das Leben, dessen das Subjekt hier kundig werden will – es muss in ihm selbst pulsieren, oder es wird nichts weiter herauskommen als seelenloser Notizen- kram.“ (S. 413)

Eingedenk der damit aufgezeigten Möglichkeiten und Grenzen geistes- und sozial- wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit kommt es immer wieder darauf an, das Fremde und das Vergangene für Gegenwart und Zukunft lebendig werden zu lassen und die Deutungskompetenz der Geistes- und Sozialwissenschaften für die Klärung wichtiger Schlüsselfragen zu nutzen. Solche – zumeist nur inter- oder transdisziplinär zu be- handelnden – Fragen stellen freilich besonders hohe Anforderungen an alle Beteilig- ten. Ihre Beantwortung ist in der Regel schwer planbar, sie kann meist nicht mit kon- kreten Zeitangaben und Resourcenanforderungen unterlegt werden und bereitet so- mit den sie tragenden Institutionen wie auch möglichen Forschungsförderern großes Kopfzerbrechen. Dennoch ist es immer wieder notwendig, sich genau auf diese

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Randbedingungen einzulassen, damit grundlegend neues Wissen uns bereichern kann. Dafür gilt es, auch institutionell auf möglichst phantasievolle Weise die ent- sprechenden Freiräume zu schaffen, damit die Kreativitätspotenziale sich voll entfal- ten können. In diesem Kontext – wie auch sonst im Leben! – kommt es dabei auf die richtige Mischung an. Ist etwa eine Forschungseinrichtung zu klein und fachlich zu homogen angelegt, fehlt es an fremddisziplinärem Anregungspotenzial. Wird auf der anderen Seite die Universität zu groß und zu heterogen, ergibt sich kaum noch die Gelegenheit zum persönlichen Austausch. Fachliche Enge schlägt so häufig in Mo- notonie um; allzu große Breite transformiert ein erwünschtes Maß an Diversität in unproduktive Heterogenität. In beiden Extremfällen erlahmt schließlich die intellektu- elle Kreativität und damit auch das Hervorbringen von grundlegend neuem Wissen.

Die Suche nach neuen Erkenntnissen bedarf daher eines kommunikativ verdichteten Nährbodens, um sich angemessen entfalten zu können. Innovations- und Risikobe- reitschaft gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, dem Vertrauen in die jeweiligen Kräfte und Kompetenzen sowie große Hartnäckigkeit im Verfolgen der einmal gesetzten Erkenntnisziele bilden die wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das Erreichen von wissenschaftlichem Neuland. Letzteres in noch weitaus höherem Maße als bisher zu ermöglichen, stellt zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine der größ- ten Herausforderungen für Universitäten wie für wissenschaftsfördernde Einrichtun- gen dar.

Dabei gilt es auch, neue Denk- und Interaktionsräume, etwa im Sinne eines gemein- samen künstlerisch-wissenschaftlichen Erkundens, zu erschließen und zugleich von einem offeneren Forschungsbegriff auszugehen, der sich beispielsweise sowohl durch ein begrifflich organisiertes, wissenschaftliches Vorgehen wie auch durch ein sinnlich organisiertes, künstlerisch-reflektiertes Erkennen manifestiert. Neue Kom- munikations- und Kooperationsformen entstehen dabei vor allem an der Schnittstelle von Erkenntnisprozessen durch und in der Kunst einerseits sowie wissenschaftlicher Forschung andererseits. Dabei erscheint es mir ganz wesentlich, die jeweilige Eigen- ständigkeit von Wissenschaft und Kunst zu beachten. Wissenschaft darf nicht zum bloßen Zulieferer von Themen und Fakten für die Kunst verkommen, die Kunst aber auch nicht zum bloßen Instrument der Illustration von wissenschaftlichen Erkenntnis- sen. Vielmehr muss es darum gehen, in der Begegnung von Wissenschaft und Kunst neue, explorative Reflexionsräume entstehen zu lassen, die für beide Domänen be- deutsame Entwicklungsperspektiven versprechen. Die Übergänge zwischen Wissen- schaft und Kunst oszillieren dabei häufig zwischen den „performativen Sätzen“ der Kunst und den eher „deskriptiven oder interpretatorischen Sätzen“ der Wissenschaft.

Aber auch in der Wissenschaft gibt es Bereiche, die mit den kreativen Prozessen in der Kunst und eher spekulativem Denken viel gemeinsam haben. Ein Ansatzpunkt für beide Bereiche kann sein, sich von den jeweiligen Untersuchungsgegenständen leiten zu lassen, also gerade nicht von den Methoden und Regeln der Institutionen und Disziplinen, die ansonsten den jeweiligen Alltag prägen. Offenheit für das Au- ßergewöhnliche ist hier auf allen Seiten geradezu eine Erfolgsvoraussetzung.

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Wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp gezeigt hat (an der Originalität und Qualität der im Folgenden dargestellten Forschungsergebnisse kann es meines Erachtens selbst dann keinen Zweifel geben, wenn die derzeit in den Medien kolportierte Mel- dung (vgl. Die Zeit vom 27. Dezember 2013, S. 41 f.), es handele sich bei der von Bredekamp und anderen Berliner Forschern für echt gehaltenen Publikation Galileo Galileis „Siderius Nuncius“ (der „Sternenbote“) um eine Fälschung), sind bereits die ersten Schritte hin zu neuen Erkenntnissen keineswegs nur in der Sphäre des ab- strakt-logischen Denkens zu verorten, sondern häufig von Versuchen begleitet, einen revolutionären Gedanken zunächst in Form einer Zeichnung – und sei sie auch noch so skizzenhaft – zu versinnbildlichen. Am Beispiel so überragender Denker wie Gali- lei, Hobbes, Leibniz und Darwin demonstriert er, dass ihre bahnbrechend-neuen Er- kenntnisse genauso aus der zeichnerischen Vergegenwärtigung des neu Gedachten wie aus der theoretischen Analyse und begrifflichen Definition entwickelt wurden.

Erst indem Auge und Hand mitdenken, gewinnt so die neue Erkenntnis jene Klarheit und Präzision, ohne die kein wissenschaftlicher Durchbruch, keine wirklich neue Er- kenntnis möglich ist. Dies gilt selbst für einen zeichnerisch eher unbegabten Forscher wie Charles Darwin, vor allem, als er seinerzeit im Begriff war, sich zugunsten eines korallenartigen Evolutionsmodells von der bis dahin verwendeten Baummetapher zu verabschieden: „Die beiden Skizzen wirken künstlerisch wertlos, und Darwin hat zeit seines Lebens bedauert, dass er im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter wie etwa Hooker kein zeichnerisches Talent besaß. Dass er seinen epochalen Einschnitt den- noch visualisiert hat, beeindruckt umso mehr. Die Zeichnungen bezeugen, dass Darwins vielleicht riskanteste Idee im gleichsam tastenden Wechselspiel zwischen Notizen und Skizzen entstand, die trotz ihrer ungekünstelten Gestalt eine bezwin- gende Evidenz besaßen.“ (Horst Bredekamp: Darwins Korallen. Die frühen Evoluti- onsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte. Berlin 2005, S. 18)

Nun wissen wir alle, dass eine zündende Idee und einen guten Forschungsplan zu haben, heutzutage bei weitem noch nicht ausreicht, um das Vorhaben auch realisie- ren zu können. Fast nichts geht mehr ohne erfolgreich eingeworbene Drittmittel.

Doch vor einer uneingeschränkten Bewilligung der eingereichten Anträge sind schon auf vielfältige Weise die Gutachter davor, besonders solche, die sich selbst in ihrer Offenheit für wirklich originelle Ideen überschätzen, wie erst neulich ein ungenannt bleibender Herr, der rundheraus erklärte: „Ich bin ja immer für neue Ideen, aber von dieser habe ich noch nie gehört.“

III. Die Geistes- und Sozialwissenschaften in einer globalisierten und di- gitalisierten Welt

In einer sich immer rascher verändernden, vor allem von Digitalisierung und Globali- sierung geprägten Welt gewinnt die Frage, was Bildung ist und welcher Stellenwert ihr in unseren Hochschulen zukommt, radikal an Bedeutung. Versuche, sich an ad- ministrativ festgelegten Standards und zertifizierten Zugangsberechtigungen zu ori-

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entieren, erweisen sich gemeinhin schnell als unzureichend. Ein bloßer Rückgriff auf das klassische Bildungsideal, das für Wilhelm von Humboldt noch in der „harmoni- schen Ausbildung aller Fähigkeiten“ lag, verbietet sich in einer Zeit wachsender Spe- zialisierung nahezu aller Wissenschaftszweige und rasch voranschreitender Ausdiffe- renzierung der verschiedenen Teilsysteme unserer Gesellschaft ebenfalls. Zwar er- scheint der Wunsch nach „Bildung ohne Verfallsdatum“ (Christoph Oelkers), also nach ein Leben lang wirksamen Wissensbeständen, überaus verständlich. Zugleich wird jedoch immer offensichtlicher, wie wenig unser komplexer werdendes Wissen- schaftssystem in der Lage ist, ein in sich geschlossenes Set von Anforderungen und Qualifikationen zu benennen, das auch für die nächsten Jahrzehnte Bestand haben könnte.

In einem Umfeld, in dem große Datenmengen ortsunabhängig verfügbar und in ganz neuer Weise analysier- und systematisierbar werden, Forschungsprozesse sich neu formieren und Forschungsergebnisse transparenter sowie neue Formen der Zusam- menarbeit über Länder- und Disziplinengrenzen hinweg möglich werden, erscheint es für jede Universität unumgänglich, ein eigenes Forschungs- und Lehrprofil zu entwi- ckeln und sich zugleich mit der Frage auseinanderzusetzen, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel sie auf der jeweiligen Qualifikationsstufe ihre Studierenden ausbil- den will. Nach der gemeinhin nur formal vollzogenen Umstellung der Studiengänge auf die Bachelor-/Master-/PhD-Struktur stehen für die zweite Phase des Bologna- Prozesses eine grundlegende Curriculum-Reform und ein neues Ausbalancieren von Spezialisierung und Überblickskompetenz an. Dabei gilt es, dem schwierigen An- spruch gerecht zu werden, hochspezialisierte, international führende Forschung zu ermöglichen und zugleich die Studierenden mit dem notwendigen Überblickswissen sowie einer historisch und interkulturell fundierten Handlungskompetenz zu verse- hen, um die Welt von morgen phantasievoll und nachhaltig mitgestalten zu können.

Um dieses Ziel zu erreichen, erscheint es insbesondere für die Geistes- und Sozial- wissenschaften unumgänglich, sowohl die Anforderungen an Curricula für die künfti- gen Führungskräfte in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft als auch die Er- folgsvoraussetzungen für das Erzielen herausragender Forschungsergebnisse ge- nauer zu analysieren, in ihren Konsequenzen zu durchdenken und die entsprechen- den Inhalte, Strukturen und Prozesse neu zu konfigurieren. Insbesondere bei der Definition künftiger Ausbildungserfordernisse sind uns dabei amerikanische Spitzen- universitäten und Vordenker-Institutionen bereits vorausgeeilt, und zwar sowohl auf dem Feld der Anforderungen an die Studienanfänger und Bachelor-Absolventen als auch auf dem der strukturierten Doktorandenausbildung, das ich freilich nur kurz streifen kann.

Mit einem umfangreichen Essay-Band und weiteren Veröffentlichungen hat die Car- negie Foundation for the Advancement of Teaching seit 2006 eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass unter den Bedingungen der Digitalisierung des Wissens und der damit verbundenen Beschleunigungsprozesse in nahezu allen Bereichen des Lebens auch eine Revision herkömmlicher Muster der Doktorandentätigkeit un-

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erlässlich ist. George E. Walker, der Direktor der Carnegie-Initiative, hat die Lage wie folgt schonungslos beschrieben: „When half of today’s doctoral students drop out and many who do persist find that they are ill-prepared for the work they choose, it’s time that all doctoral programmes face fundamental questions about purpose, vision and quality.“ Es gilt laut Carnegie Foundation vor allem, eine neue Balance zwischen der für den jeweiligen Erkenntnisfortschritt notwendigen Spezialisierung und der für künf- tige Führungsaufgaben ebenso wichtigen Überblicks- und Urteilskompetenz – ge- paart mit ausgeprägten kommunikativen Fähigkeiten – zu finden. In dem Konzept der Stewardship – also dem Erwerb von Überblickskompetenz, Forschungsfähigkeiten und Führungsqualitäten – hat die Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching versucht, die vielfältigen Anforderungen zu bündeln: Ein Steward of the Discipline muss zugleich ein hervorragendes Überblickswissen über die Entwicklung und die neuen Tendenzen in seiner jeweiligen Disziplin haben sowie auch in der La- ge sein, kreativ neues Wissen zu generieren. „The doctorate should signal a high level of accomplishment in three facets of the discipline: generation, conservation, and transformation. A Ph.D. holder should be capable of generating new knowledge and defending knowledge claims against challenges and criticism, conserving the most important ideas and findings that are a legacy of past and current work, and transforming knowledge that has been generated and conserved by explaining and connecting it to ideas from other fields. All of this implies the ability to teach well to a variety of audiences, including those outside former classrooms.” (Chris M. Golde:

Preparing Stewards of the Discipline. In: Envisioning the Future of Doctoral Educa- tion. Hrsg.: Chris M. Golde, George E. Walker, and associates. San Francisco, 2006.

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Wenn wir Bildung als einen Prozess begreifen, in dem jeder Einzelne prinzipiell die Chance bekommt, sich selbst zu entdecken und im jeweiligen historischen Kontext zu verorten, sein je eigenes Potenzial zu entfalten und damit auch die jeweiligen Möglichkeiten in der Welt zu erschließen, dann ist zugleich klar, dass die Verbindung der verschiedenen, gleichermaßen Fach- wie Führungskompetenzen vermittelnden Ausbildungsgänge mit einer umfassenden Kultur der Kreativität die große Aufgabe der Zukunft sein wird. Für deren Ausgestaltung liegen bislang erst wenige, eher bruchstückhafte, oft nur einzelne Aspekte beleuchtende Untersuchungen und Über- legungen vor. So hat z. B. Rogers Hollingsworth zum Verhältnis von Diversität der Methoden und Disziplinen in führenden Forschungseinrichtungen und Hochschulen einerseits sowie zum Ausmaß an Intensität der Kommunikation und fruchtbringenden Interaktionen andererseits festgestellt, dass vor allem mittelgroße Hochschulen und Forschungseinrichtungen die besten Voraussetzungen anbieten, um eine Durchbrü- che begünstigende Forschungskultur zu gewährleisten. Der folgende Versuch einer Systematisierung von Erfolgsvoraussetzungen kann daher nur vorläufigen Charakter haben. Er erscheint mir jedoch geboten, um die Debatte über die kreative Universität der Zukunft voranzubringen. Damit eine inspirierende Atmosphäre – gerade auch für Studierende und den wissenschaftlichen Nachwuchs – geschaffen werden kann, soll- ten folgende sieben Bedingungen erfüllt sein:

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- Kompetenz und die Freiheit, diese stetig weiter zu entwickeln;

- Mut, nicht nur der jeweiligen Forscherpersönlichkeit, sondern auch der Hochschulleitung, für die getroffenen Entscheidungen geradezustehen;

- Originalität und Innovationsbereitschaft gepaart mit einem hohen Maß an Geduld und Fehlertoleranz;

- Kommunikationsfähigkeit im Sinne umfassender, auch das genaue Hinhören einschließender Interaktivität;

- Vielfalt als Resultat einer behutsam aufgebauten Diversität, ohne in all- zu große Heterogenität zu verfallen (wie in vielen Massenuniversitäten);

- Ausdauer und Entschlossenheit, das gesteckte Ziel zumindest auf lan- ge Sicht auch zu erreichen;

- Offenheit für den glücklichen Einfall (Serendipity), der zwar durch ein in- tellektuell herausforderndes Umfeld begünstigt wird, sich planerischen Absichten aber weitgehend entzieht.

Hochschulabsolventen müssen heute sowohl über solide Fachkenntnisse als auch über das nötige Überblickswissen verfügen, um die Welt von morgen phantasievoll und nachhaltig mitgestalten zu können. Dieser doppelte Anspruch stellt hohe Anfor- derungen nicht nur an die Studierenden, sondern auch an die Universitäten, die – nicht zuletzt angesichts des sich verschärfenden weltweiten Wettbewerbs um die größten Talente – neue Curricula entwickeln müssen, die eine zeitgemäße, den komplexen und bisweilen komplizierten Erfordernissen des 21. Jahrhunderts gerecht werdende universitäre Bildung ermöglichen.

IV. Wie und wo kann sich die integrative Kraft der Geistes- und Sozial- wissenschaften entfalten?

In den Universitäten stehen nach wie vor einzelwissenschaftliche Referenzsysteme mit Blick auf Qualitätssicherung, Zertifizierung durch Verleihung akademischer Gra- de, Reputation, Stabilität des Umfeldes und nicht zuletzt Karriereaussichten im Vor- dergrund. Sie bilden gewissermaßen die Organisationsformen des Wissens in unse- ren Hochschulen. Wenn überhaupt, dann wird in dem Versuch, eine neue Balance – zwischen der notwendigen fachwissenschaftlichen Profilierung des einzelnen einer- seits sowie der ebenso notwendigen Bündelung von Forschungs- und Lehrkapazität andererseits – herzustellen, zumeist nur eine weitgehend berührungsfreie, additiona- le Interdisziplinarität praktiziert. Die Anstrengung, ein gemeinsames methodisches Vorgehen zu vereinbaren, gar gemeinsame Publikationen hervorzubringen, wird un- ter Kosten-Nutzenerwägungen zumeist gar nicht erst unternommen. Sie gilt sogar häufig als ausgesprochen karriereschädlich.

Im Zeitalter einer an den führenden Fachzeitschriften des jeweiligen Gebiets orien- tierten Vermessung der Wissenschaft mag diese fachspezifische Antrags- und Publi- kationsstrategie gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs auch eine durchaus verständliche Haltung sein, zumal die Zeitzyklen der Forschungsförderung mit ihren

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immer noch vorherrschenden zwei- bis dreijährigen Förderzeiträumen eine enge Fo- kussierung geradezu befördern. Hier gilt es jedoch, der Falle der Kurzatmigkeit zu entkommen, gegenzusteuern und mittel- bis langfristige Perspektiven zu eröffnen, um damit zugleich bei den Wissenschaftler(inne)n den Mut zur Risikobereitschaft und zum Überschreiten disziplinärer Grenzen zu fördern. Wenn die Geistes- und Sozial- wissenschaften ihren Beitrag zur Beantwortung der „großen Fragen“ leisten und nach außen hin sichtbar machen, stellen sie damit zugleich ihre hohe wissenschaftliche Qualität und gesellschaftliche Bedeutung unter Beweis. Dabei möchte ich insgesamt fünf Stufen der Integration unterschiedlicher Methoden und Fachdisziplinen unter- scheiden:

- Die bloße Agglomeration von Methoden und Fragestellungen aus ver- schiedenen Disziplinen ist die häufigste Form der Bündelung unter- schiedlicher Perspektiven bei der Betrachtung ein und desselben Ge- genstandes; sie führt nur selten dazu, dass übergreifend neue

Sichtachsen entstehen. Multidisziplinäre, zumeist auch additionale in- terdisziplinäre Vorgehensweisen sind in weiten Teilen der Wissenschaft heute die Regel; denn sie ermöglichen es den Forscherinnen und For- schern, in ihren jeweiligen disziplinären Journalen zu publizieren, eine allein schon unter karrieretechnischen Aspekten wichtige Vorausset- zung dafür, Kolleg(inn)en für eine entsprechende Projektkonstellation gewinnen zu können.

- Fachkenntnisse, z. B. die Integration sinologischer Kompetenz in ge- sellschaftswissenschaftliche Forschungsvorhaben, anderer Ex-

pert(inn)en nutzen, um zu genaueren Analysen zu gelangen; dies ist im Zeitalter der Globalisierung eine Grundvoraussetzung in vielen Geistes- und Sozialwissenschaften, um überhaupt international vergleichend ur- teilsfähig zu werden.

- Entwicklung unterschiedlicher Methoden- oder Fachkompetenzen in ein und derselben Person; dies ist die wohl aufwendigste und mit Blick auf ihre Tragweite zugleich auch stets beschränkte Form der Entwicklung von Urteilsfähigkeit. Sie kann jedoch im Einzelfall zu überragenden Publikationsergebnissen führen, wenn die Kunst der Selbstbeschrän- kung beherrscht wird.

- Inter- und transdisziplinäre Aggregation von Kompetenz in einer For- schergruppe, die ein komplexes Vorhaben gemeinsam erkunden möch- te und dabei sowohl thematisch als auch methodisch und organisato- risch eine Integration der verschiedenen Aspekte zu realisieren ver- sucht.

- Projekt- oder problemgetriebene Bündelung von Kompetenzen. In den auf diese Weise verfolgten Projekten zeigt sich gewissermaßen wie in einem Brennglas eine Fülle von Spannungsfeldern, die nur schwer auf- zulösen sind. Dazu gehören u. a. die Heterogenität der zu untersu- chenden Phänomene bei gleichzeitig hohem methodischen Kohärenz- anspruch des Projektverbundes, die Spannung zwischen geradezu mik-

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roskopischer Detailversessenheit einerseits und universalistischem Er- kenntnisanspruch auf globale Welterklärung andererseits sowie nicht zuletzt die Tendenz zu disziplinärer Selbstgenügsamkeit in den einzel- nen Teilprojekten und großer Neigung zu epistemischer Unbeschei- denheit, wenn es um die Formulierung der übergeordneten Erkenntnis- ziele geht.

Die integrative Kraft der Geistes- und Sozialwissenschaften erwächst häufig erst aus der intensiven Beschäftigung mit einem komplexen Problem, einem Forschungsfeld, das nur inter- oder gar transdisziplinär bearbeitet werden kann. Zugespitzt formuliert:

Erst die Sogwirkung des komplexen Gegenstandsbereichs schafft die Voraussetzun- gen dafür, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften ihre integrative Kraft voll ent- falten können.

V. Ein Blick nach vorn – jenseits der Zumutungen des Alltags

Der Nobelpreisträger Eric Kandel hat sich in seinem 2012 auf Deutsch erschienen Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“ mit der Frage befasst, was das Wien der vorletzten Jahrhundertwende zu einem „Kreissaal moderner wissenschaftli- cher Ideen“, zu einer „Brutstätte künstlerischer Kreativität“ machte. Für Kandel ist es vor allem die intellektuelle Symbiose von herausragenden Künstlern, Wissenschaft- lern und Musikern, die die damalige „Kulturhauptstadt Europas“ (Eric Kandel. Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Ge- hirn von der Wiener Moderne bis heute. München 2012. S. 26.) so erfolgreich mach- te. Wie damit schlaglichtartig noch einmal deutlich wird, bedürfen neue Ideen eines kommunikativ verdichteten Nährbodens, um sich entfalten zu können. Innovations- und Risikobereitschaft gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, dem Vertrauen in die jeweiligen Kräfte und Kompetenzen sowie großer Hartnäckigkeit im Verfolgen der einmal gesetzten Erkenntnisziele bilden die wichtigsten Erfolgsvoraus- setzungen für das Erreichen von wissenschaftlichem Neuland.

Offenheit für den fachübergreifenden Dialog, entschlossenes Einbringen der eigenen Expertise in transdisziplinäre Arbeitskontexte, vor allem aber die Fähigkeit zum ge- nauen Hinsehen, intensiven Wahrnehmen und detaillierten Analysieren des jeweili- gen Gegenstands gepaart mit einer ausgeprägten Weltläufigkeit, Imaginationskraft und Zukunftsorientierung, gehören zu den individuellen Erfolgsvoraussetzungen kre- ativer Forscherpersönlichkeiten. Letztere werden wir in noch weitaus höherem Maße benötigen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bestehen. Ihnen müssen sich sowohl die kreativsten Forscherinnen und Forscher als auch die führen- den Köpfe in Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft stellen, wol- len wir den nachfolgenden Generationen nicht einen Scherbenhaufen unbewältigter Probleme, zertrümmerter Hoffnungen und uneingelöster Versprechen hinterlassen.

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Dabei gilt es zum einen, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den nötigen Freiraum zu verschaffen, um mit großem Weitblick an die Fragestellungen herange- hen zu können, zum anderen gilt es jedoch auch aufseiten der Forscherinnen und Forscher, den Mut zu unabhängigem Denken und ein hohes Maß an Immunität ge- gen die Versuchungen jeglicher Gesinnungsethik aufzubringen.

Für die Geistes- und Sozialwissenschaften kommt es in der Universität der Zukunft entscheidend darauf an, dass sie ihre genuinen Fragestellungen und ihre integrati- ven Fähigkeiten für die Beantwortung der „großen Fragen“ aktivieren. Ihre Funktiona- lisierung als Akzeptanz beschaffende oder Legitimation verschaffende Kompetenz- bereiche, wie sie etwa die „Horizon 2020“ Pläne auf EU-Ebene vorsehen, sind kein zukunftsträchtiger Weg. Ich selbst habe dies erst neulich in einem Statement für die Konferenz „Horizons for Social Sciences and Humanities“ Ende September 2013 in Vilnius wie folgt zusammengefasst: „If we want to meet the enormous societal chal- lenges ahead of us, it will be indispensable to make use of the integrative capacity of the Social Sciences and Humanities in a much more effective and inclusive manner than we have done so far. It is essential for the respective disciplines not to fall into the trap of becoming a ‘service industry’ for problem-solving in science and engineer- ing, but to autonomously develop their own, genuine research questions which can prominently contribute to the resolution of societal problems in subsequent partner- ships.”

Wie real diese Gefahr der nahezu ausschließlichen ökonomischen Funktionalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht nur in Europa, sondern auch in den USA bereits ist, hat Martha Nussbaum in ihrem Buch „Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities“ (Princeton und Oxford 2010) an zahlreichen Beispielen ver- deutlicht. Parallel zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sieht sie eine „laut- lose Krise“ am Werk, die wichtige Grundlagen universitärer Bildungsarbeit zerstören könnte: „Getrieben vom Gewinnstreben der eigenen Volkswirtschaft vernachlässigen Gesellschaften und ihre Bildungssysteme genau die Fähigkeiten, die benötigt wer- den, um Demokratien lebendig zu erhalten. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden die Nationen überall auf der Welt bald Generationen von nützlichen Maschinen pro- duzieren statt allseits entwickelter Bürger, die selbstständig denken, Kritik an Traditi- onen üben und den Stellenwert der Leiden und Leistungen anderer Menschen be- greifen können. Die Zukunft der Demokratie steht weltweit auf der Kippe.“ (S. 89 f.)

Das klingt fast wie ein fernes Echo der Kritik Elisabeth Costellos am allzu kommerzi- ellen Zustand unserer Universitäten und auch – mit Blick auf die Bildungsziele – wie eine der großen Sorgen, die Theodor Litt immer wieder umgetrieben haben, nämlich die nach der vollen Entfaltung der Begabungen eines jeden Menschen (statt bloß funktionaler Ausbildung) und des Wachsens an vielfältigen Begegnungen, die „ge- staltbildend und gestaltverwandelnd am Relief meines Selbst“ (S. 37) mitmodellieren.

Gerade im Zeitalter der vielfältigen, weltumspannenden Begegnungen mit den „An- deren“, dem „Fremden“ mag die von Theodor Litt gegen Alfred Rosenberg ins Feld

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geführte „unerschütterliche Wahrheit“ in besonderer Weise für uns alle gelten:

„wachsen, reifer werden kann ich nur im Umgang mit dem, was nicht nur ‚ein ande- res‘, sondern auch ‚anders‘ ist als ich. Denn nur was mir nicht gleich ist, kann sein, was ich noch nicht bin, und haben, was mir abgeht.“ (Theodor Litt: Der deutsche Geist und das Christentum. Leipzig 1997. S. 43) Zu dem damit angesprochenen

„Wachsen“ eines jeden Menschen können und müssen die Geistes- und Sozialwis- senschaften in besonderer Weise beitragen, wenn die Zivilität unserer Welt gesichert werden soll.

Dass die Geistes- und Sozialwissenschaften gerade in Form von Begegnungen (und auch sonst) anderen Disziplinen durchaus einiges voraus haben können, verdeutlicht zum Schluss die folgende kleine Geschichte: Eine wahrhaft interdisziplinär zusam- mengesetzte Wandergruppe, die einen Mathematiker, einen Experimentalphysiker und einen Sozialwissenschaftler dabei hat, kommt in einen Ort, in dessen Mittelpunkt – wie das meistens so ist – eine Kirche steht. Sie geraten in einen Disput darüber, wie hoch wohl der exorbitant große Kirchturm sei. Da sich dies nicht so einfach ent- scheiden lässt, versucht jeder auf seine Weise herauszufinden, wer Recht hat. Der Mathematiker entfernt sich 20 m weit, misst den Winkel und errechnet anschließend die Höhe. Der Experimentalphysiker – offenbar der Sportlichste von allen – klettert bis zur Spitze des Kirchturms hoch, lässt einen Stein herunterfallen und misst die Zeit, die der Stein unterwegs gewesen ist, um daraus die Höhe zu errechnen (ob mit oder ohne Taschenrechner, ist nicht überliefert). Da wundert es vermutlich kaum je- manden, dass der Sozialwissenschaftler als erster die Lösung präsentiert. Nur wie hat er das geschafft? Nun, ganz einfach, durch ein Experteninterview. Er hat nämlich beim nahegelegenen Pfarrhaus geklingelt und den Pfarrer gefragt.

Im Zeitalter von Internet und Google mag diese Geschichte fast archaisch anmuten, sie zeigt uns aber dennoch, wie wichtig persönliche Kommunikation und Interaktion sein kann, um zu Erkenntnissen zu kommen. In diesem Sinne freue ich mich auf den Austausch und die Diskussion mit Ihnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Referenzen

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