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07/08 | 2017 Juli/August | 6,90 €

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erzieh ungs kunst

07/08 | 2017 Juli/August | 6,90 €

Waldorfpädagogik heute

Mit

erziehungskunst spezial

zum Thema Mensch und

Maschine

und die Welt entdecken

Reisen

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A. Denjean: Reise zum Weltinteresse 5 J. Steingäßer: Die Welt von morgen.

Eine Familie auf den Spuren des Klimawandels 10 E. und Chr. Müller: Ein Jahr Neuseeland.

Waldorfschule mit Landwirtschaft 15

B. Hadamovsky: Segeln? Unbezahlbar! Ein Wirtschaftsabenteuer 19 B. Kafi: Wenn die Welt zu uns kommt 24

A. Laudert: Nach Diktat verreist 26

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S. Kiener und D. Schaarschmidt: Ein Garten für Kinder 32

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M. Birnthaler: Was ist eine gute Klassenfahrt? 36

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R. Lüscher-Rieger: Hameed Jirdo – der Märchenerzähler von Bersive 45

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P. Eimermacher: Leuchtturm in Asien. Waldorfpädagogen treffen sich in China 47 M. F. Schmidt und R. Patzlaff: Studie zur Schuleingangsuntersuchung 50

52

J. Siebeck: Vier um die Welt 52

56

W.-U. Klünker: Zufriedenheit wird zu Gelassenheit 56

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(in der Heftmitte zum Herausnehmen)

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erziehungskunst Juli/August |2017

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INHALT

Titel-Foto: altanaka / photocase.de

Mit erziehungskunst spezial

»

»

R

Vater+SohnU1_U2_U3_U4_EK07-08_2017_EZK Cover 09.06.17 14:50 Seite 2

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Wir sitzen auf unseren Koffern. Der Flug hat Verspätung. Menschenmassen an den Terminals und Sicherheitskontrollen. Die Kinder schauen dem Treiben zu. Rollierende Werbung für Fernreisen an den Wänden. Lena spricht mich an: »Warum tut fern weh?«. Sie muss das irgendwo gelesen haben. »Ist das wie beim Zahnarzt?«. – »Was tut weh beim Arzt?«, auch der kleinere Bruder meldet Interesse an. »Gemeint ist, dass ein Mensch sich so nach fernen Ländern sehnt, dass es ihm schon fast weh tut, so wie beim Heim- weh, nur umgekehrt, wenn man weit weg ist von zu Hause«, antworte ich. Doch die Erklärung ist nicht ausreichend: »Tut nah dann auch weh?« – »Ja, das kann sein, wenn man Sehnsucht nach jemandem oder etwas hat.« – »Komisch, warum will man dann immer gerade dort hin, wo es weh tut?«, ist die prompte Rückfrage. Ich überlege ein bisschen, da fällt mir ein Lumpenlied aus dem Elsaß ein und ich singe auf Allemannisch: »Dr Hans im Schnokeloch geht ahna, wo er will, Un wo er isch, do blibt er nit, Un wo er blibt, do gfallt's ihm nit, Dr Hans im Schnokeloch geht ahna, wo er will« und füge erklärend an: »So ist das: Manche Menschen möchten immer das, was sie gerade nicht haben oder machen.« Das Lied vom Hans hat sechs Strophen und wurde zum Urlaubshit. –

Heute wird privat und geschäftlich viel gereist. Reise ist Ausdruck von Weltbürgertum, ein Blick in jede Launch reicht. So verschieden die Länder sind, die Reisestationen und -unterkünfte ähneln sich, wie die internationalen Handelsketten. Man ist im globalen Dorf überall zu Hause. Erst jenseits davon und abseits der touristischen Pfade und Sightseeing-Touren eröffnen sich individuelle Zugänge und Begegnungen.

Auf die Reise begeben kann man sich überall hin, heißt es doch, sich einfach in Bewegung zu setzen:

Nach außen, in die nähere Umgebung zu Fuß, per Fahrrad, Auto oder Flugzeug. Oder nach innen zu sich selbst – vielleicht die abenteuerlichste Reisevariante, denn sie spiegelt all die Reisen, die uns auf ab- grundtiefe Berggipfel oder in knochentrockene Wüsten und zu der Erkenntnis führen: »Diese Reise ist nichts als mein Traum« (André Gide).

Entscheidend für die Reisequalität ist das Tempo, denn es bestimmt den Wahrnehmungsmodus:

Je schneller und weiter, desto oberflächlicher und punktueller, je langsamer und näher, desto tiefer und kontinuierlicher – letzteres ist eindeutig kindgemäßer, aber hilft auch manchem gestressten Erwachse- nen, wieder auf den Boden zu kommen und zu entschleunigen, wenn er Land und Leuten mit ihren Geschichten und ihrer Kultur direkt begegnet.

Wie eine Reise um die Welt, die Urian nicht weiter »verzählen« soll, ausgehen kann, schildert Matthias Claudius: »Und fand es überall wie hier, fand überall ein’n Sparren, die Menschen grade so wie wir, und eben solche Narren!« Dann sind wir doch fürs »Nahweh«.

‹›

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer

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EDITORIAL

2017 |Juli/August erziehungskunst

Nahweh

Liebe Leserin, lieber Leser!

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Du bist von der Menschenart, die sich leicht an einen Ort, nicht leicht an eine Bestimmung gewöhnen. Allen solchen wird die unstäte Lebens- art vorgeschrieben, damit sie vielleicht zu einer sichern Lebensweise gelangen. « Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre

Foto: andsa / photocase.de

»

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erziehungskunst Juli/ August|2017 Das Erleben des Anders-Seins der Anderen und der Welt

führt das kleine Kind ungefähr im dritten Lebensjahr zum ersten Ich-Erlebnis.Die vorherige Empathie des Kleinkinds nimmt nach und nach ab. Der Heranwachsende erlebt sich immer mehr in der Polarität von Sympathie (Zuwendung) und Antipathie (Distanzierung) und die neue Errungen- schaft der Empathie ist schwer zu erlangen. Verschiedene Phasen und Facetten des gelingenden oder misslingenden Strebens nach Weltinteresse und Empathie lassen sich un- terscheiden. Zunächst stößt man auf eine doppelte Spirale des Anders-Seins:

Das Fremd-Sein

Das Fremd-Sein entwickelt sich leicht und oft unbemerkt aus dem Anders-Sein, wenn man aus seiner Anschauungs- welt heraus etwas nicht unmittelbar nachvollziehen kann.

In der Comic-Serie Asterix leben die Gallier durch einen Wall aus Holzpfählen von den Römern getrennt. Jede Gruppe hat ihre eigene Identität und jedes Mal, wenn die Gallier eine Handlung der Römer nicht verstehen, heißt es:

»Die spinnen, die Römer!« Das ist das Erleben des Fremd- Seins. Durch das Fremde wird die eigene Identität attackiert.

Es ist mehr als das Anders-Sein.

Erleben der Distanz

Wenn ich Distanz zwischen mir und dem Fremden erlebe, entsteht die Frage nach dem Verhältnis zwischen uns. Dis- tanz kann zu der Empfindung eines Verlustes der eigenen Identität führen, so dass man kämpfen muss, um seine All- tagsidentität zu bewahren.

Das Verlangen nach Identität wird zum Schutz vor Ände- rungen, die man nicht wünscht.

Vorsicht

In der Vorsicht taucht das Vorbeugende auf. Das Fremde und Gefährliche ist noch nicht vorhanden, aber es wird schon dagegen gehandelt. Szene auf dem Campingplatz:

Die Zelte stehen recht nah aneinander. Rechts ein altes nierderländisches Ehepaar; sie lesen in ihren Klappsesseln am Campingtisch. Links eine französische Familie mit Kin- dern. Die Kinder spielen »Boules«. Friedliche Stimmung.

Plötzlich wirft ein Kind seine Holzkugel zu weit, so dass sie unter dem Tisch der Niederländer zum Stillstand kommt.

Der alte Mann hebt die Kugel auf, lächelt das Kind an und sagt auf Französisch: »Ich werfe sie langsam zu dir; mal sehen, ob sie direkt vor deinen Füßen stehen bleibt, beweg dich nicht!« Aber es kommt nicht dazu. Die Mutter läuft zum alten Mann und sagt freundlich, aber mit kühler Stimme: »Geben Sie lieber mir die Boule. Jeder an seinem Platz, die Kinder spielen hier und Sie lesen dort.«

Eine Beziehung zwischen beiden Gruppen ist nicht er- wünscht. Wer weiß, was noch passieren könnte. Wir ken- nen diese Leute nicht! Eine bisher nicht sichtbare und nicht

geahnte Grenze tritt in Erscheinung.

In einer Zeit, in der das politische Leben von Themen wie Grenze und Abgrenzung, Verteidigung und Schutz beherrscht wird, erstaunt das Ergebnis einer aktuellen Umfrage nicht, nach der für junge Menschen im Augenblick oberste Priorität nicht Freiheit, Reichtum oder Wohlstand haben, sondern die Sicherheit hat.

Reise zum Weltinteresse

von Alain Denjean

Anders-Sein

Fremd-Sein Erleben der Distanz Vorsicht Angst Abwehr Isolation und Abschottung

Zuwendung Interesse Vertrauen Lernen

Sich überwinden, sich etwas aneignen Weltinteresse und Weltbürgertum

THEMA: REISELUST

Illustrationen: vectortatu / Fotolia

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THEMA: REISELUST

erziehungskunst Juli/ August|2017 Angst

In einer nordfranzösischen Strafanstalt für Jugendliche wurde von der Leitung beschlossen, mit einer Gruppe von jungen Kleinkriminellen einen zweitägigen Ausflug zu ma- chen. Die von zahlreichem Personal begleitete Gruppe sollte die Stadt Marseille besichtigen, dort übernachten und vor der Rückreise im Mittelmeer baden. Aber die Jugendlichen wollten von der Reise nichts wissen. Sie lehnten die Initiative geschlossen und entschieden ab. In einem Gespräch zeigte sich, dass die jungen Straftäter aus dem Norden große Angst hatten, in die Hauptstadt der französischen Mafia zu reisen.

Sie fürchteten, überfallen zu werden.

Abwehr

Prominente müssen sich fortwährend vor der Neugierde der Paparazzi wehren. Aber braucht nicht heute jeder von uns seine Privatsphäre? Früher hat im Dorf jeder alles über jeden gewusst. Heute braucht jede im Ich zentrierte Per- sönlichkeit ihren Eigenraum. Dieser Eigenraum hat viele Außenseiten: Anonymität, Rollläden, getöntes Glas, Pass- wörter, Augenbinde und Ohrstöpsel. Man möchte gerne Zeiten zurückgezogen und ohne Nachbar verbringen, um das zu denken und zu tun, was man will.

Isolation und Abschottung

Die letzte Stufe auf dieser Spirale des Anders-Sein, führt zum Abbruch der Beziehungen zur Umwelt und den Mit- menschen: Man ist mit sich selbst einsam, nicht im Sinne des Eremiten, der eine starke Beziehung zum Übersinn - lichen pflegt, sondern im Sinne des depressiven Menschen, der in sich selber gefangen ist.

All diese Stufen sind uns vertraut und wir werden durch viele Begebenheiten des Alltags mit ihnen konfrontiert. In all diesen Stufen des Anders-Seins ist etwas Berechtigtes

und auch Gesundes, wenn es nicht einseitig wird. In einem vom Ich geführten Leben muss aber auch die andere Seite, das Weltinteresse, entwickelt werden, damit das Ich in sei- nem labilen Gleichgewicht leben kann. Alle Menschen möchten das, aber man muss es lernen. In der Waldorf - pädagogik gehen Lehrer und Schüler den Weg des Interesses und der Empathie konsequent durch alle Altersstufen und Fächer hindurch. An einem Fach kann man die Etappen des Wegs exemplarisch beschreiben, weil dieses Fach – der Fremdsprachenunterricht – am engsten mit dem Anders- Sein und dem Fremdartigen zusammenhängt.

Zuwendung statt Fremd-Sein

Die neue Französischlehrerin schaltet in der Klasse einen CD-Spieler ein: sanfte Wellengeräusche, leise Brandung. Sie setzt sich vor die Klasse auf einen Stuhl und fängt an, mit den Armen zu rudern. Sie erzählt dabei auf Französisch, wie der elfjährige Jacques Cartier bei Ebbe am Strand von Saint Malo sich gerne in ein kleines Bootswrack setzte und von großen Reisen um die Welt träumte. Die Schüler sind ge- bannt. Das ist spannend. Sie wenden sich der Lehrerin zu und verstehen mehr, als sie durch ihren bloßen Verstand beim Lesen des fremden Textes verstanden hätten. – »Was habe ich da erzählt?«, fragt die Lehrerin. Schüler melden sich und wollen zeigen, dass sie alles verstanden haben. Der eine Schüler, der früher laut protestierte, wenn die frühere Lehrerin ein paar Worte auf Französisch sprach, ist einer der eifrigsten geworden. Er hat den Weg zur Zuwendung ge- funden. Wortschatz und Grammatik stehen zunächst nicht im Vordergrund: Er kann erleben.

Interesse statt Erleben von Distanz

Diese Lehrerin der Mittelstufe erzählt anschaulich und le- bendig, so dass die Schüler Erfolgserlebnisse haben und

Heute braucht jede im Ich zentrierte Persönlichkeit ihren Eigenraum. Man möchte

gerne Zeiten zurückgezogen verbringen, um das zu denken und zu tun, was man will.

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erziehungskunst Juli/ August|2017 sogar vergessen, dass in einer Fremdsprache gesprochen

wird. Außerdem variiert sie ständig ihren Unterricht.

Immer gibt es kleine Spiele, die keine didaktischen Spiele sind. Sie erntet bald das Schönste, was ein Lehrer ernten kann: Immer wieder kommen kleine Gruppen von Schü- lern am Anfang des Unterrichts und fragen: »Was machen wir heute?« Interesse steckt in der Frage. Die Antwort ist eigentlich nicht wichtig.

Diese Haltung gegenüber einer fremden Sprache wirkt sich, wenn sie zur Gewohnheit wird, positiv auf das soziale Verhalten der Klasse aus. Kommt ein Gast oder gar ein neuer Kamerad, so zeigen die Schüler spontan Interesse und Neugier dem Neuen gegenüber.

Vertrauen statt Vorsicht

Vor öffentlichen Improvisationen hat verständlicherweise jeder eine gewisse Angst. Aber in der kleinen Öffentlich- keit des Klassenverbands wird es nach und nach anders, weil die Schüler spüren, dass sie zwar einer Herausforde- rung gegenüberstehen, dass aber der Lehrer da ist, um sie

vor jeder Blöße zu schützen. In einer sechsten Klasse soll ein Schüler allein vor der Klasse eine gelesene Geschichte mündlich und ohne Notizen zusammenfassen – aber neben ihm sitzt sein Freund mit Notizen, der helfen darf, wenn er ins Stocken gerät. Das beflügelt und jeder versucht, sein Minireferat ohne Hilfe zu schaffen. In der elten Klasse sollen die Schüler in sechs bis acht Zeilen das Porträt eines erfundenen Menschen schreiben: Aussehen, Alter, Her- kunft, Beruf, Hobby, Beziehungen … Dann liest einer sein Porträt der Klasse vor und die Klasse hinterfragt alles: »Du hast gesagt, dass er kein Auto hat. Warum nicht?«

Der Schüler muss spontan reagieren und plausible Gründe finden. Alle gegen einen: In der Stimmung des gegensei- tigen Vertrauens entstehen so die schönsten und lustigsten Unterrichtseinheiten – in der fremden Sprache.

Lernen statt Angst

In der Waldorfschule wird jeder Schüler öfter am Tag mit einem kleinen Kribbeln konfrontiert, das dadurch entsteht, dass er seine Selbstständigkeit, seinen positiven Ehrgeiz auf

Foto: Marie Maerz / photocase.de

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erziehungskunst Juli/ August|2017

die Probe stellen kann; das mögen Schüler, weil sie dadurch spüren, dass sie vorwärts kommen. Hat ein Schüler seine Hausaufgabe einmal nicht gemacht, so kribbelt es in ihm, wenn er sich vornimmt, es vor der Kontrolle zu gestehen.

Aber er aktiviert in sich selber die Kraft, es zu sagen. Denn bei diesem oder jenem Lehrer weiß er, wie er reagieren wird.

Der Lehrer wird ihn fragen, ob er kurz aus dem Klassen- zimmer gehen will, um nachzubereiten und wenn er zu- rückkommt genauso befragt zu werden, wie die anderen, nur etwas nachsichtiger. Das diskrete Augenzwinkern des

Lehrers, wenn dieser Schüler dann Fragen der Hausaufgabe – allerdings schwitzend – beantwortet, ist eine schöne Bot- schaft. Lernen statt Angst. Da ist schon der Übergang zur nächsten Windung der Spirale nach oben.

Sich überwinden, statt abwehren

Sich überwinden, sich etwas aneignen, statt Abwehr: Eine Pädagogik, die den Schülern Anlässe bietet, sich in winzi- gen Schritten immer wieder zu überwinden, rechnet mit der Zukunft des Schülers. Sie wendet sich an das, was in ihm steckt, aber noch nicht Realität geworden wird.

Foto: PolaRocket / photocase.de

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THEMA: REISELUST

erziehungskunst Juli/ August|2017 Weltbürgertum statt Abschottung

»Wozu lernen wir in der Schule Fremdsprachen?«, fragt ein Schüler. »Ich habe nicht vor, Deutschland zu verlassen und ich brauche keine Fremdsprachen für den Beruf, den ich er- lernen will.«

Bei einer solchen Frage wird der Lehrer aufhorchen und da- rauf achten, dass dies nicht der Beginn von Isolation und Abschottung ist. Auf der anderen Seite werden Inhalte be- sprochen, die zu einer ganz anderen Dimension des Menschseins führen. Ein Beispiel für viele andere Situatio- nen: In der elften Klasse lernen die Schüler die Hinter- gründe der Sprache, indem Wörter in Englisch, Französisch und Deutsch verglichen werden. Man nimmt sich das hoch- aktuelle Thema »Grenze, Abgrenzung« vor. Es entsteht – zunächst auf Deutsch – eine Liste: Grenze, Rand, Küste, Horizont, Strand, Ufer, Hecke, Zaun, Haut … Dann werden die entsprechenden Wörter in den anderen Sprachen ver- glichen. Grenze kommt aus dem Westslavischen »greniza«, ist verwandt mit »Grat« und bedeutet »Grenzgebiet«. Das englische »Border« kommt vom Lateinischen und Franzö- sischen »bord, bordure« und bedeutet »Rand«. Ein bildhaf- tes Wort für ein Inselvolk mit Marineerfahrungen. In einem Schiff ist man entweder an Bord oder ins Wasser gefallen.

Der Rand, die Küste, ist für ein Inselvolk eine klare Linie.

Im Französischen haben wir das Wort »frontière«. Es kommt vom Lateinischen »frons, frontis« – »Stirn« – und bedeutet »Ort, wo man die Stirn bietet«.

Bei einem Volk, das in Europa die meisten Kriege geführt hat, wird sofort der kulturelle Hintergrund sichtbar. »La frontière« ist der Rand, bis wohin man das Land erobert hat, und immer noch verteidigt. Dieses Wort »frontière« müsste man dann auf Deutsch in Bezug auf die Natur mit

»Marsch« (Verteidigung gegen das Meer durch Deiche) oder mit Mark (Mark Brandenburg) aus dem indogerma-

nischen »mrog« »Rand, Grenze« übersetzen. Man kann dann mit den Schülern die Geschichte Deutschlands in Bezug auf seine öst lichen Grenzen anschauen und sich fra- gen, welche Nuance in dem alten slawischen Wort

»Grenze« liegt? War diese öst liche Grenze nicht immer durchlässig, im Gegensatz zu »Marsch« und »Mark«?

Noch größere Zusammenhänge schließen sich auf, wenn man an die Kolonisierung Nordamerikas gegen die »feind- lichen« Indianer denkt. Jahr für Jahr schob sich die Grenze des kolonisierten Gebiets nach Westen. Eine eingreifende Realität für die Siedler. Wie nennt denn die nordamerika- nische Bevölkerung diese wandernde Grenze nach Westen auf Englisch? »Border« sagen die Schüler. Nein, diese Art Grenze hat in der amerikanischen Kultur den Namen:

»frontier«. Und die »frontier thesis« ist ein wichtiges Ele- ment der nordamerikanischen Kulturgeschichte.

Hier wird Weltinteresse und Weltbürgertum entwickelt. Die Kulturwelt ist vernetzt. Alles hängt mit allem zusammen.

Die Spirale des Anders-Seins nach unten entspricht unse- rem Alltag. Wir stehen in der Gefahr, in den Strudel der Cha- rybdis hineingesogen zu werden, bevor wir es bemerken oder etwas dagegen unternehmen. Die andere Spirale des Anders-Seins führt uns mit jeder Handlung etwas näher zu uns selber, zum werdenden Menschen in uns.

Beide Spiralen sind notwendig und das positive Umgehen mit diesem doppelten Strom nennt man in der Medizin Re- silienz.

‹›

Zum Autor:Alain Denjean war Französisch- und Religionslehrer an der Waldorfschule Uhlandshöhe (Stuttgart) und Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Er berät die deutschen Waldorf- schulen in Sachen Fremdsprachenunterricht.

Sich überwinden, sich etwas aneignen, statt Abwehr – Pädagogik muss sich an das

Ungewordene im Schüler wenden.

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der Wetteraufzeichnung in die Geschichte eingehen. Diese Tatsache wird mir helfen, die folgenden Ereignisse in unse- rem Hühnerstall zu verstehen. »Emma hat ihre ersten Eier gelegt!« – unsere Tochter Hannah kommt aufgeregt aus dem rot getünchten Holzhäuschen heraus. »Vier Stück!« Ich folge Hannah in den Stall – und tatsächlich: Da sitzt der fed- rige Winzling und brütet. Unsere Zwerghennen sind Sai- Zuerst war das Ei

Ende Dezember 2011, in der Mitte Deutschlands. Ausge- sprochen milde und sonnige Wochen liegen hinter uns.

Mein Mann Jens und ich genießen ein Sonnenbad auf der Gartenliege. Was ich in diesem Moment noch nicht weiß:

Dieser Dezember wird als einer der mildesten seit Beginn

Seriöse Zahlen und fundierte wissenschaftliche Prognosen zum Klimawandel gibt es viele. Welche Lebensrealitäten und Zukunfts- perspektiven sich hinter diesen abstrakten Darstellungen verbergen, bleibt für Laien aber oft unbeantwortet. Welche Folgen hat der Klimawandel für die Zukunft unserer Kinder und wo liegen unsere eigenen Handlungsoptionen? Mit diesen Fragen im Gepäck begaben wir uns mit unseren vier Kindern Paula, Mio, Hannah und Frieda (damals zwölf, sechs, fünf und zwei Jahre alt) auf eine Weltreise – von Grönland bis nach Australien auf den Spuren des Klimawandels.

Die Welt von morgen

Eine Familie auf den Spuren des Klimawandels

von Jana Steingäßer

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sonleger und werden ohne künstliche Licht- oder Wärme- quelle gehalten. Im Dezember legen sie in der Regel keine Eier – und gluckig werden sie schon gar nicht. Was also ist in Emma gefahren? »Verrücktes Huhn!«, entfährt es mir.

»Es ist doch Winter!« Doch dann recherchiere ich und er- fahre, dass immer häufiger Tiere von den Auswirkungen des Klimawandels in ihrem Verhalten beeinflusst werden. Fein aufeinander abgestimmte Systeme und Abläufe geraten aus den Fugen. Die Ankunft der Zugvögel verschiebt sich. Der Kuckuck versäumt die erste Brut seiner Kollegen, die immer früher im Jahr Eier legen, und verpasst so die Zieheltern für seinen Nachwuchs. Klimawandel? In unserem Garten? Das Thema lässt unsere Familie nicht mehr los.

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THEMA: REISELUST

erziehungskunst Juli/ August|2017 Große Pläne

In uns setzt sich eine Idee fest, die sich zu einem umfang- reichen Projekt auswächst. Jens ist Fotograf und Fotojour- nalist. Ich habe Ethnologie studiert und arbeite seit einigen Jahren freiberuflich als Autorin und Journalistin. Unsere äl- teste Tochter Paula, zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, wei- hen wir in unsere Idee ein, den Spuren des Klimawandels zu folgen. Wir möchten Geschichten sammeln von Men- schen, Tieren, Pflanzen, ganzen Ökosystemen oder auch Wirtschaftszweigen, die sich nicht in einer fernen Zukunft, sondern schon heute mit den Auswirkungen von Klima- wandel arrangieren müssen.

Unsere Hoffnung ist, das unbeliebte Thema einem breiten Publikum zugänglich zu machen und auch diejenigen Menschen zu sensibilisieren, die sich des Themas mit all seinen Konsequenzen bisher nicht annehmen wollten. Für unsere Kinder bietet sich dabei die Gelegenheit, mit eige- nen Augen zu sehen und zu erleben, wie schön der Planet ist, auf dem wir leben, und warum wir uns dafür engagie- ren, eine möglichst große biologische und kulturelle Vielfalt zu erhalten.

Auf nach Ostgrönland

Unsere erste Reise führt uns nach Ostgrönland – im Winter.

Die Arktis gilt als Hotspot des Klimawandels. Nirgendwo sonst lassen sich die Auswirkungen schon jetzt so gut visuell dokumentieren wie dort. Trotzdem ist Jens erst einmal skeptisch. Ganz banale Elternfragen stehen unbe- antwortet auf unserer Liste: Gibt es Windeln vor Ort?

Wie können wir unsere Kinder vor den strengen Winter- temperaturen schützen? Wie transportieren wir sie warm und sicher in die kleinen Siedlungen am Inlandeis – ohne

Fotos: Jens Steingäßer

Paula und Mio umrunden einen kleinen See oberhalb der kleinen ostgrönländischen Siedlung Sermiligaaq.

Im Hintergrund treiben Eisberge durch den Fjord.

Sie haben sich aus dem Karale-Gletscher gelöst, der seit zwanzig Jahren deutlich an Masse verliert.

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erziehungskunst Juli/ August|2017

Straßennetz? Ich beschließe, Menschen zu kontaktieren, die dort leben. Robert Peroni, ein ehemaliger Extremsport- ler, Expeditionsleiter und Bergsteiger aus Südtirol wird mein erster Kontakt. Er lebt seit drei Jahrzehnten in Ost- grönland. Seine kleine Expeditionslodge »Utiili Aapalartoq«

wird unser Ausgangspunkt. Und Robert versichert uns:

»Es gibt kein besseres Reiseland mit kleinen Kindern als Ostgrönland!« Keine drei Monate später stehen wir am Check-In der Iceland-Air des Frankfurter Flughafens.

Wenn wir etwas aus unseren Reisen gelernt haben, dann ist es dies: Nicht mehr die Frage zu stellen, obetwas möglich ist, sondern wiewir es möglich machen. Die meisten unserer Befürchtungen stellen sich schon gleich nach unserer An- kunft in der ostgrönländischen Siedlung Tasiilaq als unbe- gründet heraus. Mio packt seinen Ball aus und schon sind unsere Kinder von einer Traube einheimischer Kinder um- geben. Weder sprechen unsere Kinder Ostgrönländisch oder Dänisch, noch ihre neuen Inuit-Freunde Deutsch oder Eng- lisch. Kommunikationsprobleme gibt es zwischen ihnen trotzdem nicht. Paula, Mio, Hannah und Frieda verbringen die Tage von morgens bis abends mit ihren neuen Freun- dinnen im Schnee. Sie beobachten die Jäger, wenn sie mit Beute im Fjord eintreffen, lernen das Eisangeln, füttern halb verhungerte Schlittenhunde, bestaunen Wale zwischen den Eisbergen, besuchen die kleine Schule in der Siedlung. Un- sere Kinder werden zu Türöffnern in eine Welt, die vielen zeitgleich vor Ort anwesenden Journalisten verschlossen bleibt.

Wasser kommt in Grönland nicht aus dem Wasserhahn, sondern es ist die Aufgabe der Kinder, Nachschub am be- heizten Silo in der Dorfmitte zu holen. Auch unsere Kinder ziehen mehrfach täglich leere Kanister an Seilen durch den Schnee, um unsere Vorräte aufzufüllen. Die Toilette ist ein Blecheimer und die Gemeinschaftsduschen im »servicehus«

sind jedes Mal, wenn wir sie nutzen wollen, geschlossen (einmal fanden darin Wahlen statt). Zum Ostergottesdienst in der kleinen Siedlung Tiniteqilaaq ziehen wir die Kinder auf Expeditionsschlitten durch den Schnee – und stehen dann vor verschlossenen Türen: Das Wetter ist so gut, dass die Pfarrerin beschlossen hat, erst einmal jagen zu gehen.

Dass es hier nur zwei Sorten Gemüse im Supermarkt gibt (und das auch nur solange der Vorrat reicht und bis die Ver- sorgungsschiffe wieder durchs Packeis kommen), dass wir uns auf acht Quadratmeter Innenraum in unserer Hütte zu- sammendrängen, dass der Höhepunkt des Tages das Beob- achten der Jäger beim Zerlegen der Tagesbeute wird, stört unsere Kinder nicht. Auf unseren Reisen erleben wir immer wieder, dass sie sich für aus Erwachsenensicht ganz banale Dinge begeistern können. Ob eine Kiesgrube in Finnland, eine Felskuppe voller Krebse an der südafrikanischen Küste oder eine verlassene Bärenhöhle in Schwedens dichten Wäl- dern – ihre Fantasie ist so angeregt, dass sie über Tage hin- weg in ihre Kinderwelt eintauchen.

Spätestens nach unserer Ankunft in dieser kleinen ostgrön- ländischen Siedlung stehen wir vor der Frage, wie wir die drastischen Auswirkungen des Klimawandels mit unseren

Im südlichen Namibia erkunden wir nahe Keetmans- hoop einen Köcherbaumwald zu Fuß. In Südafrikas Norden schrumpft die Population dieser Riesenaloe wegen steigender Hitze und andauernder Trockenheit.

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erziehungskunst Juli/ August|2017 Kindern thematisieren. Kommen die Jäger ohne Beute

heim, dann gehen die Hunde leer aus, und auch viele ihrer neuen Freunde gehen mit knurrendem Magen ins Bett.

Manche der Hunde verhungern vor unseren Augen an den Ketten. Warum gehen nicht alle Familien auf Jagd? Warum kommen viele ohne Beute zurück? Die Meereisbedeckung geht immer weiter zurück. Dann können die Männer nicht mit ihren Hundegespannen zur Jagd rausfahren. Nur wer ein Boot hat, kommt in den Fjord hinaus. Die dunkle Mee- resoberfläche absorbiert vermehrt Sonnenwärme, was wie- derum die Eisschmelze beschleunigt. Was die Wissenschaft als Eis-Albedo-Rückkopplung bezeichnet, bekommt vor den Augen unserer Kinder existenzielle Relevanz mit Auswir- kungen auf alltägliche Lebensbedingungen.

Keine einfache Lösung

Die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Akteure welt- weit und mit ihren Interpretationen des Klimawandels stellt unsere Vorstellungen an manchen Stellen ordentlich auf den Kopf. In den Sommerlagern samischer Rentierhirten im schwedischen Lappland wird uns klar, dass der Klima- wandel in Verbindung mit anderen Faktoren wahrgenom- men werden muss, weil er oft als Verstärker bereits bestehender Probleme wirkt. Unsere samischen Ge- sprächspartner lassen uns sehr anschaulich erleben, wie steigende Instabilität und Unvorhersehbarkeit des Wetters, das Verschieben von Vegetationsgrenzen oder das Auftauen

von Permafrostböden sich auswirken, wenn Herden nicht mehr in andere Landstriche ausweichen können, da diese von Bergbauprojekten, Wasserkraftanlagen, Nationalstra- ßen, Bahngleisen oder großen Städten eingenommen sind.

Die Herausforderungen, denen sich Sami in Schweden durch den Klimawandel stellen müssen, können nicht ge- trennt betrachtet werden von Bergbau, Wasserkraft oder Siedlungsdruck. Wenn ihre Herden die Sommerlager ver- lassen und in die Winterweidegebiete ziehen, bleiben ihnen mittlerweile nur noch schmale Korridore in der von Men- schen umgestalteten Landschaft. Seit zehn Jahren sind die Seen auf diesen Migrationsrouten nicht mehr mit einer tra- genden Eisschicht überzogen. Die Folge: Ganze Herden bre- chen auf diesen natürlichen Migrationsrouten ein und ertrinken.

Von der Krise zum konkreten Handeln

Nicht alle Erlebnisse und Erkenntnisse, die wir als Familie machen, sind für uns leicht zu verarbeiten. Der Verlust bio- logischer Vielfalt, die Dezimierung von Arten, die rück- sichtslose Zerstörung von Lebensräumen – nach zwei Jahren stürzen uns diese Tatsachen in eine echte Krise.

Besonders Paula leidet unter einer Hoffnungslosigkeit, der sie nur schwer entkommt. Für uns bedeutet das, den Fokus zu verschieben – weg von den bestehenden Problemen und hin zu der Frage, wo unsere Handlungsoptionen

liegen.

Platz für sechs Personen samt Ausstattung, einen Hund und umfangreiche technische Ausrüs- tung zu finden war nicht leicht.

Für eine zehnwöchige Reise nach Lappland befestigen wir einen Bauwagen auf der Pritsche eines alten Feuerwehrmobils.

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THEMA: REISELUST

erziehungskunst Juli/ August|2017

So gesehen bietet die Auseinandersetzung mit einem Thema wie Klimawandel auch eine Chance, die großen Herausfor- derungen unserer Zeit zu bündeln und anzugehen: Wie ver- hindern wir ein beispielloses Artensterben? Welche Möglichkeiten gibt es, die steigende Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen? Wie lässt sich eine Wirt- schaftsweise etablieren, die nicht auf grenzenlosem Wachs- tum über Leichen hinweg aufbaut? Für Paula wird es wichtig, Vorbilder auch außerhalb der Familie zu finden, an denen sie sich für ihr eigenes Leben orientieren kann. In Australien treffen wir Shani Graham, die gemeinsam mit allen Nach- barn ihre »Hulbert Street« in ein Musterbeispiel nachhalti- gen Lebens verwandelte und jetzt Menschen in ganz Australien berät, wie sie ihren ökologischen Fußabdruck ver- ringern können. In Island lernen wir einen Piloten kennen, der seine Fluggesellschaft verkaufte und sich jetzt der Frage annimmt, wie arktische Nationen nachhaltig dem wachsen- den wirtschaftlichen und geopolitischen Interesse an ihrer Region und deren Bodenschätzen begegnen können. Paula stellt ihre drängendsten Fragen an den Philosophen und Autor Jostein Gaarder, der ihr Mut macht, sich zu engagieren.

Überraschend konsequent

Unsere Kinder sind fasziniert von der Vielfalt und Schönheit unserer Erde. Wir erahnen, dass sich hier ein Schatz zu for- men beginnt, der sie ihr Leben lang begleiten kann. Mio staunt über die Tiere und Pflanzen Südafrikas und kann sein Glück kaum fassen, als er in der Kalahari einer Löwin zum Greifen nah kommt. Hannah weint hemmungslos, als wir Ostgrönland verlassen und schmiedet Umzugspläne für die ganze Familie – in die Arktis. Paula entdeckt in Lappland beim Paddeln ihre Skandinavien-Liebe und Frieda erinnert sich zu Hause daran, »wie cool« das Schwimmen mit Pin-

guinen ist, wie man die Spuren von Skorpionen liest und dass die Alpenüberquerung zu Fuß für sie der schönste Teil der Weltreise war. Jedes Kind entwickelt seine eigene Vor- stellung davon, was die schönsten Erlebnisse, die beeindru- ckendsten Ziele und die größten Herausforderungen waren.

Genauso landen wir alle bei ganz unterschiedlichen Ideen, wie wir den Nachhaltigkeitsgedanken in unseren Alltag in- tegrieren können: vom müllfreien Haushalt über eine vegane Ernährung, alternative Mobilitätsformen, nachbarschaftliche Solidarität, bis hin zu der Frage, wie wir uns auch in globa- len Zusammenhängen politisch engagieren können. Eines gilt für uns alle sechs gleichermaßen: Bei jeder Rückkehr sehen wir unsere Heimat, den Odenwald, mit neuen Augen.

Unsere Sinne sind geschärft. Aber nicht allein das ist der Grund, warum unser neues umweltjournalistisches Groß- Projekt zum Thema »Wasser« in Europa stattfinden wird.

Ausschlaggebend dafür ist auch das Veto unserer Tochter Paula. Als wir die Option in den Raum stellen, den Umgang mit der Ressource Wasser am Beispiel des amerikanischen Doppelkontinents zu bearbeiten, rechnet sie kurz nach. »Das sind mindestens 36 Langstreckenflüge. Was für eine Um- weltschweinerei. Da mache ich nicht mit!« Mit einer so er- folgreichen Wirkung unseres Projektes hatten nicht einmal Jens und ich gerechnet.

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Jana und Jens Steingäßer stehen für Vorträge, Präsentationen der Multimedia-Reportage, Workshops und Diskussionsrunden in Schulen zur Verfügung, sowohl im Rahmen des Unterrichts als für die gesamte Schulgemeinschaft. Kontakt: info@reiselbor.de;

zudem stellt die Deutsche Klimastiftung interessierten Schulen ihre Wanderausstellungen »Gradwanderung« und »Klimaflucht«

zur Verfügung; www.deutsche-klimastiftung.de

Literatur:J. u. J. Steingäßer: Die Welt von morgen – Eine Familie auf den Spuren des Klimawandels, 220 S., ca. 200 Abb., National Geographic Verlag, Hamburg 2016

Unsere Kinder sind fasziniert von der Vielfalt und Schönheit unserer Erde. Wir erahnen, dass sich hier ein Schatz zu formen beginnt, der sie ihr Leben lang

begleiten kann.

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erziehungskunst Juli/ August|2017 Neuseeland ist in vielerlei Hinsicht überwältigend. Gerade

auf der Südinsel erfährt man ein umfassendes Gefühl von Freiheit und Glück.Wir denken, es liegt neben der weitge- hend unberührten Natur an der äußerst geringen Bevölke- rungsdichte sowie der damit verbundenen Tatsache, dass es so gut wie keine Staus im Straßenverkehr gibt. Die meiste Zeit hat man nicht einmal jemanden vor oder hinter sich und man kann so gut wie überall mal eben stehen bleiben, um etwas anzuschauen oder ein Foto zu machen. Gelegen- heiten gibt es dafür jede Menge.

Am Rückflugtag war uns daher schon klar, dass das nicht unser einziger Neuseeland-Besuch bleiben würde. Es war weit mehr als das typische »Ich will hier nicht weg«-Gefühl, das man häufig bei Urlauben erlebt. Nach einem weiteren Urlaub, Anfang 2010, bei dem wir ausschließlich die Nord- insel bereisten, wollten wir schließlich 2012 zusammen mit unseren Töchtern, die damals sechs und acht Jahre alt waren, ein ganzes Jahr wagen. Wir starteten mit dem Ziel, Neuseeland nicht mehr nur als Touristen zu sehen, sondern selbst zu erfahren, wie es ist, dort zu leben – inklusive Häus- chen in der Kleinstadt, Schulbesuch der Kinder in der loka- len kleinen Waldorfschule, und allem, was sonst noch dazu gehört. Einfach nur, um eine andere Lebensweise zu erfah- ren, und eventuell auch, um unseren zentraleuropäischen Lebensstil einmal aus einer entfernteren Perspektive wahr- zunehmen. Im Nachhinein betrachtet war es die beste Zeit unseres Lebens, denn als Familie sind wir dabei deutlich enger zusammengewachsen. Dieses Neuseelandjahr zeigte uns aber vor allem, mit wie wenig man letztlich auskommt.

Wir hatten jeder nur einen Reisekoffer und Handgepäck, und erstaunlicherweise fehlte es uns an nichts. Das gemie- tete Ferienhaus war bereits möbliert und ein einfaches Auto wartete bei der Ankunft am Flughafen in Christchurch auf uns.

Das Leben an der Waldorfschule in Neuseeland

Wir wohnten in einer Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern namens Motueka (Maori: Motu = Insel, Weka = Buschhuhn) ganz im Norden der Südinsel. Wir sind hier eher zufällig ge- landet. Von Motueka wussten wir bis dahin noch nicht viel, außer dass es zwischen dem berühmten Abel Tasman Na- tional Park mit seinen goldenen Stränden und dem weit grö- ßeren Kahurangi National Park liegt. Dort herrscht ein entspannter Lebensstil, es gibt 40 Prozent mehr Sonnen- stunden übers Jahr als in Salzburg, kaum Frost im Winter, wenig Regen im Sommer.

Der Höhepunkt unseres Neuseelandjahres war ganz klar die Waldorfschule mit ihrer starken Elterngemeinschaft, die uns sofort herzlich willkommen geheißen und integriert hat.

Schulbeginn ist um 9 Uhr und die meisten Kinder werden von ihren Eltern direkt zur Schule gefahren, da die Distan- zen doch etwas größer und öffentliche Verkehrsmittel Man- gelware sind. Doch so entsteht immer ein reges Treiben vor dem Schulgebäude, bei dem man sich mit anderen Eltern austauschen und neue Freundschaften knüpfen kann.

Ebenso beim »Pick up« der Kinder um 15 Uhr. Mittwoch- vormittags trifft sich immer die Puppenbastelgruppe zum

Angefangen hat alles mit einem vierwöchigen Flitterwochen-Urlaub Ende 2005. Liege und Schirmchen am Strand waren uns immer schon zu eintönig und langweilig. Wir wollten reisen, etwas erleben und lokale Kultur kennenlernen. Nach einigen Roadtrips in ver- schiedenen Teilen der Welt stand Neuseeland ganz oben auf unserer Wunschliste: viel Grün, wilde Küsten, unberührte Natur, endlose Weiten und natürlich die Vulkane. Da mussten wir hin!

Ein Jahr Neuseeland

Waldorfschule mit Landwirtschaft

von Eva und Christian Müller

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erziehungskunst Juli/ August|2017 Fotos: Eva und Christian Müller

Träumen am Meer – und bei der Heu- und Trauben- ernte sind die Kinder immer dabei.

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erziehungskunst Juli/ August|2017 gemeinschaftlichen Nähen, Filzen, Häkeln und Stricken von

Waldorfpuppen, Tieren und anderen Spielgegenständen, die dann größtenteils bei den jährlichen Frühlings- und Herbst- Festen verkauft werden.

Bei diesen »School Fairs« geht es vorrangig um die Kinder, für die allerlei Spiele und Aktivitäten organisiert werden:

vom Kistenstapel-Klettern bis zum Besuch im Feenland.

Dabei ist für die Kleinen auch immer Gelegenheit, zwischen den Auftritten lokaler kleiner Bands auf der Bühne das ei- gene musikalische Talent zu zeigen.

Unterricht auf Englisch

Vor unserem Neuseelandjahr hatten wir große Sorgen, wie es unseren Kindern in der Schule in einem fremden Land in anderer Sprache gehen würde. Als Vorbereitung hatten wir daher zuvor sechs Monate lang Aupairs aus Australien, Ka-

nada und Schottland, die mit den Kindern Englisch üben sollten – was leider kaum klappte, da die Kinder damals zu klein waren, um die Relevanz dieser Aktivitäten zu begrei- fen. Aber die ganze Sorge war ohnehin überflüssig. In den ersten drei Wochen in der Schule in Neuseeland lernten sie weit mehr Englisch, als in den sechs Monaten zuvor.

Zu unserer Überraschung leben in der Nelson/Tasman Re- gion viele Deutsche, so dass in jeder Schulklasse mindes- tens drei Kinder zumindest einen deutschsprachigen Elternteil haben und Neuankömmlingen Starthilfe geben.

Integration wird hier vorbildlich gelebt. Nach wenigen Monaten konnten unsere Kinder dem englischen Unterricht vollständig folgen und bald wurde Englisch so selbstver- ständlich wie Deutsch. Auch dank der hervorragenden Waldorf-Lehrer, die die individuellen Fähigkeiten jedes ein- zelnen Kindes fördern.

Farm-Waldorfschule Motueka

Nach unserem Besuch 2012 konnte die Schule ein 13,6 Hek- tar großes Grundstück erwerben, auf dem sie einen neuen Schulcampus mit angeschlossener biologisch-dynamischer Farm errichtete. Da der Schulbetrieb fast ausschließlich über die Elternbeiträge finanziert wird, ist so ein Projekt sofort umsetzbar. Und doch wird Hilfe von allen Seiten benötigt.

Die Motueka Rudolf Steiner School lädt daher alle Interes- sierten herzlich ein, vor Ort oder auch aus der Entfernung tatkräftig mitzuhelfen, um diesen Traum eines neuen Schul- campus mit angeschlossener Landwirtschaft so bald wie möglich vollständig umzusetzen.

Die Schule ist stets bemüht, für internationale Gastschüler, die zwischen einem halben und einem ganzen Jahr nach Neuseeland kommen möchten, entsprechende Plätze be-

reitzustellen.

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Die International Student Group der Waldorfschule in Mo- tueka unterstützt gerne tatkräftig bei der Organisation eines Auslandsjahres und steht jederzeit für Fragen bereit.

Über uns

Wir sind mit unseren zwei Mädels Anna und Verena ein gutes Jahr nach unserem Neuseeland-Abenteuer dauerhaft von Salzburg nach Motueka ausgewandert und genießen jeden Tag auf unserem typisch neuseeländischen »Lifestyle Block«: einer kleinen Hobby-Farm auf einem Hektar Hü- gelland mit Meerblick, mit einem halben Dutzend Schafen, zwei Ziegen, um die zwanzig freilaufenden Hühnern und einem großen Obst- und Gemüse-Garten, in dem ein signi- fikanter Teil unseres Essens mittlerweile biologisch ange- baut wird. Unsere Erfahrungen zur Organisation eines solchen Jahres haben wir auf unserer Homepage www.Ein- Jahr.kiwi gesammelt. Das Portal ist dazu gedacht, Familien, die Ähnliches vorhaben, einen einfachen Leitfaden für ein Auslandsjahr an die Hand zu geben, und dadurch Hem- mungen vor dem ersten Schritt zu nehmen.

‹›

Links:www.motuekasteinerschool.nz; www.EinJahr.kiwi

Die Motueka Steiner School

Ausgewandert: Familie Müller hat sich entschieden, dauerhaft in Neuseeland zu bleiben

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erziehungskunst Juli/ August|2017 Als ich vor zwei Jahren zu meiner nächsten großen Reise

nach unserer Familienweltumseglung von 2005 bis 2010 aufbrach, träumte ich von der Umrundung Kap Horns.

Aber die Fahrt, die in Flensburg begann, endete bereits in Dänemark. Die Erkenntnis, dass alle Meere vermessen, alle großen Reisen bereits gemacht wurden, und nirgends mehr wirklich unentdeckte Regionen auf dieser Erde zu finden sind, und damit jede Reise bloße Wiederholung sein würde, traf mich recht unsanft.

Einige Zeit dümpelte ich frustriert und planlos in dänischen Gewässern vor mich hin. Freunde kamen zu Besuch, aber auch fremde Menschen fanden ihren Weg zu mir an Bord.

Angeregt durch die vielfältigen Besucher, entschloss ich mich dazu, ein wirklich neues Abenteuer zu wagen. Ich wid- mete mein Weltumseglerboot zu einem sozialen For- schungsschiff um, an Bord dessen wir die unbekannten Gewässer zukünftiger Wirtschaftsformen bereisen würden.

Verschenkte Arbeit

Was geschieht, wenn ich meine Arbeit nicht mehr zu einem vorher festgelegten Preis verkaufe? Das war meine Aus- gangsfrage für dieses Experiment. Hintergrund ist die Idee, dass sich die Welt nach unseren Annahmen und Vorstel- lungen formt. Wenn wir also die Vorstellung als Gesellschaft haben: Arbeit ist die Bedingung für Einkommen, dann er- halten wir bestimmte Ergebnisse. Hinter dieser Annahme steckt die Angst, dass ein Mensch, dem wir erst das Geld geben, danach keine Motivation mehr hat, noch für uns zu arbeiten. Dahinter steht desweiteren die Annahme, Men- schen seien per se faul und würden nichts zu einer Gesell-

schaft beitragen, wenn es nicht den Zwang zum Geldver- dienen gäbe. Würden wir also ein bedingungsloses Grund- einkommen einführen, ginge niemand mehr zur Arbeit und die Gesellschaft versänke im Chaos.

Meine Gegenthese lautete: Einkommen ist die Bedingung für Arbeit. In dem Vertrauen darauf, dass der Mensch als sozia- les Wesen seinen individuellen Beitrag zur Welt leisten wird, wenn wir ihm die Freiheit in Form von Vertrauen (= Geld) schenken. Da ich nicht daran glaubte, dass mir Menschen einfach so meinen Lebensunterhalt schenken würden, um meine These zu erproben, wählte ich folgenden Umweg: Ich habe meine Arbeit verschenkt, indem ich ihr den Preis ge- nommen, und gleichzeitig die Frage gestellt habe, ob sich die Menschen freiwillig an meiner Lebenssicherung und den Kosten des Projekts beteiligen würden.

Keine Preise – was nun?

Wie sieht nun nach elf Monaten Forschungsreise das Er- gebnis aus? Meine schlimmste Befürchtung, dass sich aus- schließlich Teilnehmer aus der Fraktion »Geiz ist Geil« und der »Schnäppchenjäger« bei mir an Bord versammeln wür- den, hat sich nicht bestätigt. Es sind aber deutlich mehr Menschen als ich erwartet hatte mitgefahren, die sich nicht finanziell am Projekt beteiligt haben.

Gleichzeitig ist eine Gruppe von Menschen aufgetreten, mit der ich nicht gerechnet hatte: Menschen, die selber nicht mitreisten, aber das Projekt finanziell unterstützt haben.

Diese haben zu knapp einem Viertel der Gesamtsumme an bisher geschenktem Geld beigetragen! Auf die Frage, warum sie sich beteiligen, ohne einen offensichtlichen Gegenwert

Segeln ? Unbezahlbar!

Ein Wirtschaftsabenteuer

von Ben Hadamovsky

Ben Hadamovsy ist leidenschaftlicher Segler und erprobt einen neuen Einkommensbegriff, denn er bietet seine Arbeit kostenlos an und wartet, was den Mitreisenden der Törn Wert ist.

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zu erhalten, kamen Antworten wie diese: »Was für ein ver- rücktes, mutiges Projekt … Gut, dass mal einer damit an- fängt, Arbeit und Einkommen zu trennen. Das möchte ich unterstützen… Die Entkoppelung von Geld und Segeln ge- fällt mir sehr gut. Dein Experiment ist genial und faszinie- rend. Die Spannung auszuhalten, nicht zu wissen, wie verläuft der Sommer, sich der Frage zu stellen, ist mein Pro- jekt nur dann gelungen, wenn es sich finanziert, das Ganze gedanklich zu begleiten und mit der Welt zu teilen, das ist mutig. … Zu wissen, dass jemand so etwas umsetzt, ist auch ein Gewinn für mich.«

Insgesamt haben sich bisher 60 Menschen am Projekt be- teiligt. Davon waren 42 Menschen auch zu einer der Expe- ditionen an Bord. Zu einem ausgeglichenen Budget fehlte

Bewegend war zu erleben, wie die Verunsicherung durch den fehlenden Preis

die Menschen aus ihrer Reserve gelockt hat und immer wieder ein überraschender Moment der Freiheit entstand.

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erziehungskunst Juli/ August|2017 allerdings noch ein Drittel. – Dennoch nicht schlecht für

eine Unternehmens-Neugründung.

Doch gab es auch Bedenkenträger: »Warum gehst du so ein Risiko ein? Warum nicht einfach eine Wanderung machen, wo finanziell nicht so viel auf dem Spiel steht?« Und über- raschend viele waren trotz der auf der Homepage veröffent- lichten Zahlen nicht in der Lage, für sich daraus einen angemessenen Beitrag abzuleiten. Das kam auch als Vor- wurf an mich: »Wenn ich gewusst hätte, wie teuer so eine Schiffsreise eigentlich ist, wäre ich vielleicht nicht mitge- fahren. Nun muss ich meinen Beitrag noch mal überden- ken…« Und auch das Argument kam immer wieder:

»Warum sollte ich für etwas zahlen, wenn ich es auch um- sonst bekommen kann?« Andere haben mir dagegen vor-

geworfen, dass ich sie mit den Zahlen überhaupt belästige.

Wäre es nicht konsequenter gewesen, nicht zu sagen, wie hoch mein Einsatz ist? Geld und Preis bieten offensichtlich Sicherheit und Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Es war auch unbequem zu merken, was alles an die- sem Thema dranhängt: Konditionierungen, Schuldgefühle, Frust, Neid, faule Kompromisse, und immer wieder Le- bensträume, die um der vermeintlichen Sicherheit willen, die uns das Geld zu bieten scheint, verschoben oder ganz aufgegeben wurden.

Bewegend war jedoch zu erleben, wie die Verunsicherung durch den fehlenden Preis die Menschen aus ihrer Reserve gelockt hat und immer wieder ein überraschender Moment der Freiheit entstand. »Oh, jetzt ist es an mir, zu entscheiden,

Fotos: Ben Hadamovsky

Essen ist wichtig an Bord – und intensive Gespräche.

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was du bekommst ...« Plötzlich waren die Menschen nicht mehr nur bei sich und ihrem Vorteil, sondern stellten die Frage nach den Bedürfnissen ihres Gegenübers – eine im heutigen Geschäftsleben immer noch ungewohnte Übung.

Beunruhigend war auch die Erkenntnis, wie stark wir da- rauf konditioniert sind, jeden als Konkurrenten zu betrach- ten, von dem es gilt, unseren Vorteil abzutrotzen und wie fremd uns der Gedanke einer auf Brüderlichkeit und ge- genseitiger Verantwortung basierenden Wirtschaft (noch) ist. Insofern hat sich die Phoenix mehr und mehr zu einer schwimmenden Mini-Universität entwickelt.

Der philosophische Diskurs entbrannte auf jeder der 15 ein- wöchigen Reisen. Wo auf den Nachbarbooten im Hafen die Gespräche häufig lautstark in Bierseligkeit versanken, kreis- ten bei uns an Bord die intensiv und leidenschaftlich ge- führten Debatten um die Themen Arbeit und Einkommen, Gerechtigkeit, Selbstwert unabhängig von Arbeit, verdräng- ten Lebensträumen, und Fragen und Sorgen um die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Erde. Egal ob Student oder Staatsanwalt, Journalist oder Wissenschaftler, Kamerafrau oder Headhunter, arm oder reich – wie ein roter Faden

waren die Gespräche durchzogen von der alle verbindenden Sehnsucht nach einer anderen, menschlicheren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Einer Ordnung, in der jeder sei- nen Impulsen unabhängig von finanziellen Zwängen folgt und das tut, wofür sein Herz wirklich brennt.

‹›

Zum Autor:Ben Hadamovsky ist Künstler, Publizist und Welt- umsegler. Wer sich noch auf einen der wenigen freien Plätze für 2017 bewerben möchte, findet ihn unter: www.hadamovsky.de

Die Menschen waren nicht mehr nur bei sich und ihrem Vorteil, sondern stellten die Frage nach den Bedürfnissen ihres Gegenübers – eine im heutigen Geschäftsleben immer noch ungewohnte Übung.

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Dr. Klaus Lederer Dr. Mark Terkessidis

Antonch Dr. Reinhard J. Voß

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Jan Gildemeister

Benedikt Kaleß

Prof. Dr. Frieder Otto Wolf P

Kessler Prof.Dr. Véronique Zanetti Anneliese Buntenbach Georg Restle

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Gemeinschaft auf Zeit hart am Wind (Foto: Miguel Furtado Vieira) 15_16_17_18_19_20_21_22_23_EK0708_2017_EK 09.06.17 15:30 Seite 22

Referenzen

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