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Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung "Antje Wichtrey, Menschenrechte", 5. Juni 2019, Kassel. I. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - UNO

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Grund- und Menschenrechte aus sozialrechtlicher Sicht 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung - 70 Jahre Grundgesetz

Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, Kassel

Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung "Antje Wichtrey, Menschenrechte", 5. Juni 2019, Kassel I. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - UNO

An Grund- und Menschenrechten herrscht kein Mangel. Am 10. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschen- rechte". 1976 verabschiedete die UNO den Pakt über bürgerliche und politische Rechte so- wie den Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte. Für das geografische Euro- pa ist die Europäische Menschenrechtskonvention mit dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu nennen und für die Europäische Union die Grundrechtecharta, über deren Ein- haltung der Europäische Gerichtshof in Luxemburg wacht.

Antje Wichtreys Bilder illustrieren Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Diese enthält bürgerliche und politische Freiheitsrechte, ergänzt um soziale und kultu- relle Gewährleistungen. Schon ein Blick auf den ersten Artikel macht klar: die Vereinten Na- tionen knüpfen hier an große Vorbilder an. Art. 1 lautet: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen ei- nander im Geist der Brüderlichkeit begegnen."

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Grund- und Menschenrechte sind das Bekenntnis der staatlichen Gemeinschaft, dass der Staat nicht um des Staats willen da ist und dass der Einzelne nicht verfügbares Objekt staat- lichen Handelns ist.1 Für den Gesetzgeber, aber auch für Verwaltung und Justiz soll der ein- zelne Mensch im Mittelpunkt stehen. Die Formel, die das Grundgesetz dafür gefunden hat, ist ebenso ästhetisch wie pathetisch: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach- ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfol- genden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Bis zur Verkündung dieser vier Sätze des Artikel 1 des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 hat das deutsche Volk einen langen Weg zurückgelegt. Einen Teil der Wegstrecken möchte ich mit Ihnen beleuchten. Dabei komme ich an den Vorbildern,2 die auch für die Allgemeine Er- klärung der Menschenrechte von 1948 Pate standen, nicht vorbei. Mindestens drei dieser Paten feiern im Jahr 2019 ein Jubiläum:

 230 Jahre französische Menschenrechtserklärung von 1789

 170 Jahre Paulskirchenverfassung von 1849

 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung von 1919

 70 Jahre Grundgesetz von 1949

II. Die Idee der Menschenrechte - kurze Historie

1. Neuenglandstaaten und französische Menschenrechtserklärung

Gehen wir der Frage nach, wann, wo und weshalb sich die Idee der Grund- und Menschen- rechte entwickelt hat, stoßen wir relativ schnell auf die Neuenglandstaaten, insbesondere auf die Virginia Bill of Rights von 1776 sowie auf die französische Menschenrechtserklärung von 1789.

Zwar gab es auch schon frühere Dokumente wie vor allem die Magna Charta Libertatum von 1215; in ihr wurden Freiheitsrechte verbrieft und Herrschaftsrechte begrenzt.3 Dabei ging es aber immer darum, dass z.B. der Adel im Feudalstaat des Mittelalters dem Herrscher be- stimmte Privilegien abtrotzte und der absolute Herrscher aus seiner Machtfülle heraus, ein- zelnen Personen oder Gruppen (Adel) bestimmte Rechte verlieh oder einräumte.4 Es ging nicht um Freiheit von Herrschaft. Es ging um Zugeständnisse des Herrschers, um eine Kon- kretisierung seiner Herrschaft durch begrenzte und wieder revidierbare Selbstbeschränkun- gen.5

1 Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen; BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 – 1 BvL 19/63 –, BVerfGE 27, 1, 6; BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1970 – 2 BvF 1/69 –, BVerfGE 30, 1, 40, Rn. 121; BVerfG, Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –, BVerfGE 115, 118, 158 f., Rn. 133.

2 Vgl. B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 569 zur "genetisch indizierten historischen Ausle- gung" einzelner Grundrechte mit Blick auf frühere Verfassungen.

3 H. Hofmann, Die Entdeckung der Menschenrechte, 1999, S. 5.

4 B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 570.

5 B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 570; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl.

1994, S. 87.

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Menschenrechte, wie wir sie heute vor Augen haben und verstehen, sind demgegenüber nicht etwas, was der absolute Herrscher einzelnen Wenigen, Privilegierten gewährt. Men- schenrechte knüpfen an das Menschsein an, nicht an Stand oder Abstammung. Sie gelten ihrer Idee nach ausnahmslos für alle Menschen und sind allen Menschen "von Natur aus"

inhärent.

Eine positive oder gar positiv rechtliche Anerkennung ist für elementare Freiheits- und Gleichheitsrechte daher nicht erforderlich. Es gäbe diese Rechte auch dann, wenn sie nicht in der Verfassung stünden. Werden sie in Verfassungen aufgenommen und ausformuliert,

"liegt darin keine Schaffung, sondern lediglich eine Anerkennung dieser Rechte"

(D. Grimm)6. Schutzgut der Grundrechte ist unverfügbare Freiheit schlechthin, Freiheit ohne Zweckrichtung, Freiheit zum beliebigen Gebrauch (D. Grimm).

Diese Idee der Menschenrechte bringt erstmals Art. 1 der "Virginia Bill of Rights" von 1776 prägnant auf den Punkt: "all men are by nature equally free". Kurze Zeit später folgt in Frank- reich im Zuge der Revolution die Déclaration des Droits de l´Homme et du Citoyen. Beide Ereignisse zeigen nach Dieter Grimm, dass Grund- und Menschenrechte das "Produkt der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts" sind und zum "Programm des mo- dernen Verfassungsstaates" gehören.7

Besonders deutlich wird dies in der französischen Menschenrechtserklärung. Sie wird am 26.

August 1789 mitten im revolutionären Geschehen mit missionarischem Wahrheitsanspruch8 von der Nationalversammlung verkündet. Sie soll als roadmap (Katechismus)9 für die dann 1791 verabschiedete Verfassung10 und weitere Gesetzgebung dienen. Insbesondere soll sich auch der Gesetzgeber bei der Erarbeitung der Verfassung an schon existente, naturge- gebene Grund- und Menschenrechte halten. Soweit, dass Gesetze verfassungswidrig sind, wenn sie dem nicht gerecht werden, gingen die Franzosen im Gegensatz zu den Neueng- landstaaten nicht.11

Die französische Menschenrechtserklärung stellt u.a. fest:

Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es (Art. 1).

Der Zweck jeder staatlichen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unver- jährbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Wi- derstand gegen Unterdrückung (Art. 2).

Der Ursprung jeder Herrschaft liegt wesensmäßig beim Volk…(Art. 3)

Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht scha- det…(Art. 4)

Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert und die Trennung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung (Art. 16).

6 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. 1994, S. 69.

7 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. 1994, S. 67; ähnlich B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 570.

8 H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 - 1949 - 1989, NJW 1989, 3177, 3182.

9 J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, in: JbÖR 39 (1990), S. 1, 7.

10 Dazu B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 573.

11 B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 574.

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Ähnliche Formulierungen finden sich bereits in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. In ihr erklären 13 englische Kolonien Nordamerikas, sie erachteten folgende Wahrhei- ten als selbstverständlich:

dass alle Menschen gleich geschaffen sind

dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestat- ten sind

dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören

dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten, etc.

Entsprechende Formulierungen nehmen die Neuenglandstaaten sodann in ihre neuen Staats- und Sozialordnungen auf.12 Den Auftakt dazu macht die Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776.13

Sowohl in Nordamerika als auch in Frankreich berufen sich die Akteure also auf einen natur- rechtlich-vorstaatlichen Geltungsgrund fundamentaler Rechte.14 Den Neuenglandstaaten geht es dabei darum, die Rechte der Siedler dem Zugriff des englischen Parlaments zu ent- ziehen. Begründung: dem Parlament des Mutterlandes ist es nicht möglich in Rechte einzu- greifen, die den in Amerika lebenden Menschen nicht nach englischem Recht verliehen wur- den oder verliehen werden müssen, sondern die den Siedlern naturgegeben sind.

Etwas anders liegen die Dinge in Frankreich. Dort müssen nach Beseitigung des ancien régime Leitlinien für die Umstellung der ständisch geprägten Ordnung auf die Maximen von Freiheit und Gleichheit ("egalitäre Staatsbürgergesellschaft"15) geschaffen werden, Leitlinien, an die sich künftig auch der revolutionäre Reformgesetzgeber und Verfassungsgeber halten soll. Nach G. Jellinek regelten die Amerikaner, was sie grundsätzlich bereits besaßen, wäh- rend es Frankreich darum ging, das zu gestalten, was man noch nicht besaß.16 Die Neueng- landstaaten sichern die Bindung des Gesetzgebers an die vorstaatlich-naturrechtlichen Men- schenrechte - wie später auch das Grundgesetz - zusätzlich durch eine speziell dafür ge- schaffene Verfassungsgerichtsbarkeit ab.17

12 Vgl. H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 - 1949 - 1989, NJW 1989, 3177, 3178.

13 Dort heißt es: Art. 1: Dass alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind und bestimmte an- geborene Rechte besitzen, die sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen kön- nen, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, nämlich das Recht auf den Genuß des Lebens und der Frei- heit, auf die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum, das Streben nach Glück und Sicherheit und das Erlan- gen beider. Art. 2: Dass alle Gewalt im Volke ruht und folglich von ihm abgeleitet ist, ... Es folgen sodann, wie auch in der französischen Menschenrechtserklärung weitere einzelne Freiheits- und Gleichheitsrechte; B.

Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 572.

14 J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, in: JbÖR 39 (1990), S. 1, 39. In der frz. Menschenrechtserklärung im Sinne eines "sä- kularen Vernunftrechts", in der Federal Bill of Rights von 1789 ein "christlich/biblisch geprägtes Naturrecht";

ders., S. 40: "Freiheit gilt dem religiösen Naturrecht letztlich als ein moralischer Status, dessen calvinistischer Unterzug Pflicht des Menschen gegen sich selbst, aber auch gegenüber anderen bedeutet, sich nicht von innen oder außen zerstören zu lassen."

15 H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 - 1949 - 1989, NJW 1989, 3177, 3181.

16 G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895/1904), in: Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 1, 66; J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechts- erklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, in: JbÖR 39 (1990), S. 1, 6.

17 1803: Supreme Court.

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Sowohl die Bill of Rights als auch die französische Menschenrechtserklärung enthalten um- fassende Kataloge von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Irritierend dabei ist aus heutiger Sicht allerdings, dass man damals offenbar keinen größeren Widerspruch zwischen den Aussagen dieser fortschrittlichen und wegweisenden Grund- und Menschenrechtsdokumente einerseits und der Rechtlosigkeit von Sklaven oder der Zurücksetzung von Frauen sah. "All men" war nicht jeder Mensch schlechthin, sondern der weiße Mann. Und auch in Frankreich hatte man trotz "egalité" kein Problem damit, das Wahl- bzw. Stimmrecht an Besitz und die Höhe der Steuerzahlung zu koppeln.18

2. 1848 und die Paulskirchenverfassung

In Deutschland bleibt es zunächst bei der alten Ordnung des Ständestaates. Allerdings neh- men u.a. die Häuser Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt nach der franzö- sischen Juli-Revolution von 1830 als Reaktion auf Unruhen und Aufstände im eigenen Land ebenfalls Grundrechte in ihre Verfassungen auf. Sie kommen damit Wünschen und Forde- rungen ihrer Bevölkerung nach. Dabei handelt es sich aber nicht um die Anerkennung un- veräußerlicher Menschenrechte, sondern um positiv-rechtliche partielle Zugeständnisse und eine mehr oder weniger freiwillige Selbstbeschränkung19 absoluter Macht.

So verfährt nach der 1848iger-Revolution auch die Paulskirchenverfassung.20 Die National- versammlung vermeidet den Ausdruck Menschenrechte. Vielmehr spricht die Paulskirchen- verfassung von den Grundrechten des deutschen Volkes.21 Sie verzichtet auf einen aus- drücklichen naturrechtlichen Ansatz22 bzw. lässt die menschenrechtliche, urrechtliche oder positivrechtliche Grundrechtsherleitung dahingestellt.23 Die Verfassung verbürgt aber allen Deutschen die wesentlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte:

Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich (§ 137) Die Freiheit der Person ist unverletzlich (§ 138) Die Wohnung ist unverletzlich (§ 140)

Das Briefgeheimnis ist gewährleistet (§ 142)

Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern (§ 143)

Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit (§ 144) Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei (§ 152)

Es steht jedem frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will (§ 158)

Das Eigentum ist unverletzlich (§ 164)

Daneben gewährt die Paulskirchenverfassung wie später die WRV und das GG - anders als insbesondere die französische Menschenrechtserklärung weitgehende Assoziierungsfreiheit.

18 H. Hofmann, Die Entdeckung der Menschenrechte, 1999, S. 14; ders., Die Grundrechte 1789 - 1949 - 1989, NJW 1989, 3177, 3182; J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, in: JbÖR 39 (1990), S. 1, 9: keine Geltung für französische Kolo- nialbevölkerung.

19 H. Maurer, Idee und Wirklichkeit der Grundrechte, JZ 1999, 689, 691; B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 575 f.: "Grundrechte mussten durch neue Gesetze verwirklicht werden, hatten aber gegenüber der Gesetzgebung keine rechtliche Bindungswirkung."

20 H. Maurer, JZ 1999, 689, 691 f.; Allg. Einführung bei M. Jäkel, Jura 2019, 231 ff.

21 H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 - 1949 - 1989, NJW 1989, 3177, 3178 f.

22 so H. Maurer, Idee und Wirklichkeit der Grundrechte, JZ 1999, 689, 691.

23 so J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinig- ten Staaten und Deutschland, in: JbÖR 39 (1990), S. 1, 16 Fn. 79 mwNachw.

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Neben dem Recht der Deutschen Vereine zu bilden (§ 162) bleiben Sonderassoziierungen wie Kirchen, Gemeinden und Gliedstaaten zulässig. Kühne sieht darin die "Wiege des mo- dernen Pluralismus".24

Die Grundrechte der Frankfurter Paulskirche werden im Dezember 1848 zunächst in einem eigenen Gesetz im Reichsgesetzblatt verkündet und 1849 auch in die Paulskirchenverfas- sung aufgenommen.25 U.a. weil der nach der Verfassung gewählte Kaiser Wilhelm IV. die Kaiserkrone ablehnte, war streitig, ob die Paulskirchenverfassung je wirksam wurde. Der Deutsche Bund hebt sie deshalb zur Beseitigung letzter Zweifel an ihrer Geltung am 23. Au- gust 1851 ausdrücklich auf.

Was in der Zeit der Reaktion nach 1850 bleibt, ist ein gewisser Schutz durch Gewährleistun- gen in den Landesverfassungen26 und die Vorbildfunktion der Paulskirchenverfassung für Weimar.

Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 vom 16. April 1871 verzichtet auf einen Grundrechtekatalog.27 Sie überlässt die Bestimmung der Rechte des Einzelnen dem "einfa- chen Recht", das politische Freiheit unterdrückt aber wirtschaftliche Freiheit fördert. Es setzt nach den Vorstellungen des Liberalismus auf ein freies Spiel der Kräfte, das von selbst zu einer gerechten Ordnung der Gesellschaft führen werde. Die "invisible hand" funktioniert aber nicht. Schrankenlos gewährleistete Privatautonomie bringt nur wenigen Wohlstand und bereitet den Boden für einen modernen Kapitalismus. Dessen sozial prekäre Folgen können die Bismarck´schen Sozialgesetze nur zum Teil auffangen.

III. Weimarer Reichsverfassung

Die ungeklärte soziale Frage, ein verlorener Krieg, ein am Boden liegendes und in sich poli- tisch zerrissenes Land bilden die Ausgangslage, in der sich das deutsche Volk Ende 1918 Gedanken über seine künftige Verfassung machen muss. Die äußeren Umstände, unter de- nen die WRV erarbeitet wird, sind dramatisch. Nach ungeordneter Auflösung der Kriegsfron- ten und dem Kieler Matrosenaufstand herrschen in Berlin chaotische Zustände. Am 9. No- vember 1918 ruft Philipp Scheidemann eine sozialdemokratische und zwei Stunden später Karl Liebknecht eine sozialistische Republik aus. Am 19. Januar 1919 finden unter erstmali- ger Beteiligung von Frauen Wahlen zur Nationalversammlung statt. Angesichts der Unruhen in Berlin muss die Nationalversammlung nach Weimar ausweichen, wo am 12. Februar Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten gewählt wird und die Beratungen für eine Verfassung beginnen. Parallel zu den Beratungen der verfassungsgebenden Nationalversammlung lau- fen die Friedensverhandlungen mit den Siegermächten, die am 9. Juli 1919 zum Versailler Vertrag führen. Am 14. August 1919 schließlich tritt die WRV in Kraft.

Die WRV ist eine moderne Verfassung, die sowohl in ihren Kompetenzvorschriften wie im Grundrechtsteil deutlich die Handschrift der Sozialdemokratie trägt. Sie ist eine Antwort auf das Marktversagen der liberalen Rechtsordnung des Kaiserreiches in der sozialen Frage.

24 J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, in: JbÖR 39 (1990), S. 1, 20, 22.

25 RGBl. 1849, S. 101.

26 H. Maurer, Idee und Wirklichkeit der Grundrechte, JZ 1999, 689, 691

27 Bundes-Gesetzblatt 1871, S. 63 ff.

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Freiheit und Gleichheit der liberalen Ordnung des Kaiserreiches hatten zu einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit krassem Wohlstandsgefälle und einem Arbeiterproletariat oh- ne nennenswertes Eigentum geführt.28 Hierauf musste und wollte die WRV eine Antwort ge- ben.

Sie greift daher einerseits die bereits in der Paulskirchenverfassung angelegten klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte auf und formuliert z.B. folgende Rechte:

Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätz- lich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. (Art. 109)

Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zu- lässig. (Art. 114)

Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck und Bild oder in sonstiger Weise frei zu äu- ßern. (Art. 118)

Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleich- berechtigung der beiden Geschlechter. … Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. (Art. 119)

Die Kunst, die Wissenschaft und die Lehre sind frei. (Art. 142)

Die Weimarer Verfassung reagiert aber auch mit sozialen Grundrechten auf die trotz der Bismarck´schen Sozialgesetzgebung ungelösten Probleme des Industriezeitalters im libera- len Ordnungsstaat. Bereits in ihrer Präambel spricht die WRV neben "Freiheit und Gleichheit"

und "innerem Frieden" auch von "gesellschaftlichem Fortschritt". Der Vertragsfreiheit und Eigentumsgarantie werden Grenzen gesetzt,29 indem z.B. Art 151 WRV bestimmt: "Die Ord- nung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit und dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen". Unter der Über- schrift "Wirtschaftsleben" wird das "Eigentum gewährleistet" (Art. 153 WRV), aber auch be- tont: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Wohl."

Art. 161 gibt dem Reich die Gesetzgebungskompetenz zur Schaffung eines umfassenden Versicherungssystems "zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten". Der An- schluss an die Bismarck´sche Sozialgesetzgebung ist unverkennbar.

Art. 155 WRV nennt das Ziel, "jedem Deutschen eine gesunde Wohnung, allen deutschen Familien, besonders kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirt- schaftsheimstätte zu sichern". Nach Art. 145 sind der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen unentgeltlich. Und nach Art. 163 soll jedem Deut- schen die Möglichkeit gegeben werden "durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu er- werben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt". Andererseits heißt es in Art. 163 Abs. 1 WRV: "Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, sei- ne geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfor- dert."

28 dazu H. Heller, Staatslehre, Schriften Bd. 3, S. 208.

29 so M. Stolleis, Die soziale Programmatik der Weimarer Reichsverfassung, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl. 2018, S. 195, 206.

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Für Michael Stolleis ist das soziale Element in der WRV "überall gegenwärtig" und erkenn- bar, dass die Mehrheit des Volkes einen "aktiven helfenden Staat" wollte, einen die gesell- schaftlichen Kräfte aktivierenden und die Demokratie stützenden Sozialstaat (S. 208 f.). Die- ter Grimm zieht aus der Aufnahme sozialer Grundrechte den Schluss, dass die WRV "die wirtschaftliche Freiheit dem Grundsatz sozialer Gerechtigkeit unterordnet (D. Grimm).30 Und bereits in der Weimarer Republik prägt Hermann Heller den Begriff vom "sozialen bzw. so- zialistischen Rechtsstaat".31

Die WRV hatte, was ihren Grundrechtsteil angeht, zweifellos Potential. Sie konnte dieses aber bis zur sog. nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 nicht nachhaltig in reale Poli- tik umsetzen; zur Herstellung einer ausgewogenen Sozialordnung fehlte die Kraft, politisch wie ökonomisch. Die weit verbreitete Meinung, die Grundrechte hätten in Weimar keine Rolle gespielt bzw. sie seien "leer gelaufen", weil es sich um bloße Programmsätze gehandelt ha- be, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit spricht den Freiheitsrechten wie Freizügigkeit, Freiheit der Person, Unverletzlichkeit der Wohnung, Briefgeheimnis, Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Religi- onsfreiheit, Justizgarantien und Eigentum, denjenigen Rechten also, "die ihren Weg ins Grundgesetz gefunden haben" (H. Dreier), durchaus unmittelbare Geltung zu.

Das Reichsgericht teilt diese Ansicht und prüft insbesondere Eingriffe des Gesetzgebers in das Eigentumsrecht an der Eigentumsgarantie, wenn es die seltene Gelegenheit dazu er- hält.32

Allerdings sind zahlreiche Grundrechte der WRV mit zum Teil weitreichenden Gesetzesvor- behalten versehen. Daraus folgt aber nicht ihr "Leerlaufen", sondern die rechtsstaatliche Ga- rantie, dass Eingriffe in Eigentum und Freiheit nur durch oder auf Grund eines Gesetzes stattfinden dürfen. Allerdings, und das ist ein schwerer Wermutstropfen, kennt die Weimarer Staatsrechtslehre noch keine "Schranken-Schranken-Dogmatik", sodass bei eröffnetem Grundrechtseingriff auch keine Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden und es so zu ganz einschneidenden Grundrechtseinschränkungen kommen kann (H. Dreier). Ein Gegengewicht dazu stellt die Lehre von den Institutsgarantien dar, die schon in der Weimarer Zeit zur Ein- schränkung der Eingriffsmöglichkeiten des Gesetzgebers insbesondere für das Eigentum und die Ehe entwickelt wird.33 Daraus folgt: Auch bei erlaubtem Grundrechtseingriff darf das entsprechende Rechtsinstitut nicht aufgelöst oder faktisch ausgehöhlt werden.

Anders liegen die Dinge bei jenen Artikeln des zweiten Hauptteils der WRV, die als Verfas- sungsaufträge an den Gesetzgeber einzustufen sind, so etwa Art. 157 WRV, der ein einheit- liches Arbeitsrecht fordert. Gleiches gilt für die Familienförderung oder den Mutterschutz, Lehrmittelfreiheit oder Art. 163 Abs. 2 WRV, der die Unterhaltssicherung für Arbeitslose ver- langt. Zwar ist der Gesetzeber prinzipiell auch an diese Aufträge gebunden, es bedarf aber des politischen Willens und entsprechender Wirtschaftskraft, hier etwas auf die Beine zu stel- len. Daran fehlt es weitestgehend. Und auch die Staatsrechtslehre entwickelte - abgesehen

30 D. Grimm, HdSt I, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 65.

31 H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, 1930; ders., Staatslehre, 1934 (4. Aufl. 1970); W. Fiedler, JZ 1984, 201; B.

Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 577.

32 H. Dreier, Grundrechtsrepublik Weimar, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2. Aufl.

2018, S. 175, 177 f. mit zahlreichen Nachweisen zur Rspr. und Literatur der Weimarer Zeit; B. Pieroth, Geschich- te der Grundrechte, Jura 1984, 568, 577.

33 B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 577.

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von Hermann Heller - keine großen Anstrengungen, den sozialen Rechtsstaat verfassungs- theoretisch zu stützen.34

Die wirtschaftliche Entwicklung der Weimarer Republik führt bis 1923 zu einer Hyperinflation.

Und nach kurzer Erholungsphase - wir nennen sie die "goldenen 20iger Jahre" - folgt 1929 die Weltwirtschaftskrise, die den Beginn vom Ende der Weimarer Republik einläutet. Ausge- rechnet ein sozialpolitisches Thema, die Sanierung der 1927 auftragsgemäß eingeführten, aber schon kurze Zeit später insolvent gewordenen Arbeitslosenversicherung leitet den Sturz der letzten parlamentarischen Regierung unter Reichskanzler Müller ein. Die Regierung kann sich 1930 weder auf eine Erhöhung der Steuern noch auf eine Streichung oder Kürzung von Sozialleistungen einigen. Notverordnungen werden zur Regel. Der Aufstieg der NSDAP nimmt seinen Lauf und in der "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933 schließlich werden elementare Grundrechte der WRV lapidar - "bis auf weiteres außer Kraft gesetzt".35

IV. 1949 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Rund vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation, einem Krieg mit 65 Millionen Kriegs- toten und unglaublichen und unfassbaren Verbrechen, trat am 23. Mai 1949 in Westdeutsch- land das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft.

Das GG reagiert auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und beseitigte staatsorga- nisatorische Schwächen der WRV. Es greift nach den Erfahrungen des nationalsozialisti- schen Terrors und eines blinden Rechtspositivismus den naturrechtlichen Ansatz36 auf und bekennt sich in Art. 1 Abs. 1 GG zur unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenwürde.

Diese wird vor allem durch das "allgemeine Freiheitsrecht und das allgemeine Gleichheits- recht entfaltet" sowie durch weitere Einzelgrundrechte weiter konkretisiert.37 Die Sprache ist insoweit ebenso klar wie apodiktisch:

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Die Freiheit der Person ist unverletzlich.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.

Auch bei den Gewährleistungen wird das GG nicht episch:

Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

34 B. Pieroth, Geschichte der Grundrechte, Jura 1984, 568, 577.

35 RGBl I S. 83; § 1 lautet: "Die Art 114, 115, 117, 118, 123 und 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reichs werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, der Vereins- und Versammlungs- freiheit, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchun- gen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür be- stimmten gesetzlichen Grenzen zulässig".

36 anders C. Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 373: "Die Menschenrechte sind nicht universal und a priori dem Staate vorgegeben; es sind Rechte, zu denen sich das deutsche Volk durch den Parlamentarischen Rat in dem Kapitel des Grundgesetzes, das überschrieben ist "Die Grundrechte", bekannt und die es damit zum Bundesge- setz erhoben hat."

37 H. Maurer, JZ 1999, 689, 693.

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Die Grundrechte sind kraft Verfassung unmittelbar geltendes Recht und begründen subjekti- ve, einklagbare Rechtsansprüche bzw. Abwehrrechte. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, diese Grundrechte auszugestalten, zu respektieren und zu schützen.38 Der in ihnen enthaltenen Menschenrechtskern ist nach Art. 19 Abs. 2 GG unantastbar und unterliegt wie Art. 1 GG der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG.39

Auf die Aufnahme sozialer Grundrechte, wie z.B. ein Recht auf Arbeit oder auf Wohnung, verzichtet das GG anders als die WRV bewusst. Carlo Schmid führt dazu in seinen Erinne- rungen aus:40

"Auch gegen die von vielen gewünschte Einführung sogenannter sozialer Grundrech- te, an denen die Weimarer Verfassung so reich gewesen ist, habe ich mich energisch gewehrt, waren sie doch nichts anderes als Programme oder Tautologien oder Kenn- zeichnungen der Zustände, die bei vernünftigem Umfang mit den klassischen Grund- rechten aus den politischen Auseinandersetzungen hervorgehen sollten.

Soziale Grundrechte könnten nur abstrakt und in Wunschform von uns heutigen an jene, die auf uns folgen werden, oder als Inhalt eines Sollens formuliert werden. Der konkrete Inhalt müsste von Fall zu Fall von dem Gesetzgeber festgestellt werden; er wird also in Funktion der Stärkeverhältnisse des jeweils befassten Parlaments defi- niert werden.

Ist eine Mehrheit für eine Veränderung gesellschaftlicher Zustände, dann wird sie entsprechende Gesetze beschließen; ist sie es nicht, dann helfen auch - wie die Ge- schichte der Weimarer Republik ausweist - noch so progressive soziale Grundrechte im Text der Verfassung nicht; aber vor dem Volk wird die Verfassung unglaubwürdig werden. Worauf es ankommt, ist, dass die im Grundgesetz vorgesehenen Verfah- rensregeln den Weg zum Fortschritt nicht blockieren, sondern öffnen."

Aus heutiger Sicht darf vermutet werden, dass sich bei der Auslegung sozialer Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht das Gewicht innerhalb der drei Gewalten deutlich zu Lasten des Gesetzgebers und damit des Demokratieprinzips verschieben würde,41 denn der Spielraum wäre bei sozialen Grundrechten ungleich größer als bei der Auslegung klassi- scher Freiheitsrechte.

V. Rechtsprechung und Soziale Sicherung in Deutschland

1. Soziale Sicherung in Zahlen

Der Verzicht auf soziale Grundrechte wird dadurch relativiert, dass das GG den Gesetzgeber in Art. 20 und 28 GG auf das Sozialstaatsgebot verpflichtet. Die Bundesrepublik ist ein de- mokratischer und sozialer Rechtsstaat und der Gesetzgeber damit aufgerufen, die Gesell- schafts- und Wirtschaftsordnung sozial gerecht zu gestalten.42

38 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 6 III 1, Rn. 208.

39 H. Maurer, JZ 1999, 689, 693.

40 C. Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 373 f.

41 K. Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions- und Leistungsstaat, DVBl. 1971, 674, 677.

42 BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 –, BVerfGE 123, 267, 362, Rn. 257 (Lissabon-Urteil): "Das Sozi- alstaatsprinzip begründet die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (vgl. BVerfGE 59, 231 <263>; 100, 271 <284>). Der Staat hat diese Pflichtaufgabe auf der Grundlage eines weiten Gestaltungsfrei- raumes zu erfüllen, weshalb bislang nur in wenigen Fällen konkrete verfassungsrechtliche Handlungspflichten aus dem Prinzip abgeleitet wurden. Der Staat hat lediglich die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwür-

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Mit welchen Mitteln und Maßnahmen dies im Einzelnen geschieht, ist Sache des demokra- tisch gewählten Gesetzgebers. Dieser hat in den letzten 70 Jahren unzählige Gesetze zur Erfüllung des Sozialstaatsgebots erlassen. Die makroökonomische Bilanz in Sachen Sozial- systeme ist imposant und Spiegelbild des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland seit 1949. Die in den Sozialsystemen bewegten Summen sind enorm.

 2018 wurden in den Systemen der Sozialversicherung rund 648 Mrd., für steuerfinan- zierte Sozialleistungen nochmals rund 185 Mrd. Euro ausgegeben.

Der Etat des BMAS macht 2018 mit rund 139 Mrd., fast 40 % des gesamten Bundes- haushalts aus.

Fasst man steuer- und beitragsfinanzierte Leistungen zusammen, machen sie rund 30 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Oder anders ausgedrückt: in Deutschland wird fast jeder dritte Euro für Soziales ausgegeben.

Auf jeden Deutschen entfielen 2018 durchschnittlich mehr als 12.000 Euro an Sozial- leistungen.

Das gesamte Steueraufkommen von Bund und Ländern betrug 2018 rund 637 Mrd.

Es lag damit 11 Mrd. unter dem Volumen der Sozialversicherung von 648 Mrd. im selben Jahr.

Der Schwerpunkt sozialer Sicherung liegt eindeutig auf konsumtiven Leistungen. Investitio- nen in Bildung und Maßnahmen, die Sozialsysteme nachhaltig zu gestalten sowie Eigenver- antwortung43 zu stärken, kommen trotz der gigantischen Summen, die im Sozialstaat bewegt werden, aus meiner Sicht zu kurz.

Das verfassungsrechtliche Gerüst des GG für soziale Sicherung ist dürr. Es fehlt - anders als für das Finanzwesen - an einer Sozialfinanzverfassung. Und es fehlt an einer nachfolgende Generationen schonenden Nachhaltigkeitsklausel.

Die "Beinfreiheit" des Gesetzgebers ist demgemäß enorm. Das BVerfG fällt ihm nur selten in den Arm. Eher ist zu beobachten, dass das BVerfG den Gesetzgeber in Sachen Sozial- staatsprinzip zu mehr Großzügigkeit auffordert. Bereits im 1. Band seiner Entscheidungen führt das Gericht aus, dass weder Art. 1 Abs. 1 noch Art. 2 Abs. 2 GG ein Grundrecht des Einzelnen auf gesetzliche Ansprüche auf angemessene Versorgung durch den Staat be- gründen, "das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates" könne nur der Gesetzge- ber tun; dieser sei aber verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität, insbesondere dazu ver- pflichtet, sich um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen. 44

Das BVerfG ist allerdings nicht nur "Hüter der Verfassung" - übrigens ein Begriff, den bereits das Reichsgericht für sich in Anspruch genommen hat. Das BVerfG entwickelt aus den

diges Dasein seiner Bürger zu schaffen (vgl. BVerfGE 82, 60 <80>; 110, 412 <445>). Das Sozialstaatsprinzip stellt dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, mit welchen Mitteln diese Aufgabe im Einzelnen zu verwirk- lichen ist."

43 Dazu vgl. BVerfG, Beschluss vom 03. April 2001 – 1 BvL 32/97 –, BVerfGE 103, 293, 307, Rn. 50: "Das Ziel, Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat auf Grund des Sozialstaatsprinzips Verfassungsrang (vgl. Art. 20 Abs.

1 GG). Der Abbau von Arbeitslosigkeit ermöglicht den zuvor Arbeitslosen, das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu verwirklichen, sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren."

44 BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1951 – 1 BvR 220/51 –, BVerfGE 1, 97.

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Grundrechten ganze Rechtsgebiete, wie z.B. aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und Art. 2 Abs. 1 GG den Datenschutz oder aus Art. 5 GG das Recht des Rundfunks.45 Und auch bei der Auslegung der Grundrechte im Lichte des Sozialstaatsprinzips beweist das BVerfG Kreativität.

2. Die Auslegung der Grundrechte durch das BVerfG

Durch das Sozialstaatsgebot sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einem "sozial an- gereicherten Verständnis der liberalen Grundrechte" legitimiert (D. Grimm).46 Dazu einige wenige Beispiele:

Der Staat kommt, will er seinen Bürgern durch Daseinsvorsorge, Sozialleistungen etc. den Gebrauch der Grundrechte ermöglichen und Chancengleichheit schaffen, nicht ohne ent- sprechende Grundrechtseingriffe aus. Dem Sozialstaat, insbesondere der Sozialversiche- rung ist Geben und Nehmen immanent. Ordnet das Gesetz Versicherung- und Beitrags- pflichten sowie Steuerpflichten an, liegt darin ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Dieser muss erforderlich, geeignet und verhältnismäßig sein. Zwar sind diese Eingriffe nicht allein durch das Sozialstaatsprinzip gerechtfertigt.47 Insofern gelten die allgemeinen Eingriffsschranken des Vorbehalts des Gesetzes sowie spezifische Gewähr- leistungen des jeweiligen Grundrechts. Spätestens auf der Ebene der Verhältnismäßigkeits- prüfung jedoch kommt das Sozialstaatsprinzip ins Spiel.

Das BVerfG gestattet es dem Gesetzgeber deshalb z.B. den Personenkreis derer, die pflichtversichert und beitragspflichtig sind und somit zur Solidarität mit anderen verpflichtet werden, so zu bestimmen, dass leistungsfähige Solidargemeinschaften zustande kommen:

Starke Schultern sollen größere Lasten tragen als schwache. Das Sozialstaatsgebot kommt ohne verordnete Solidarität nicht aus. Dies gilt - wie der 12. Senat entschieden hat - auch für sog. Honorarärzte in Krankenhäusern, die nicht anders als angestelltes Krankenhausperso- nal arbeiten.

Aus der mit Beiträgen verbundenen Zwangsmitgliedschaft folgt auf der anderen Seite, dass bei Differenzierungen im Leistungsbereich eine verschärfte Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfindet. So lässt sich aus GG Art. 2 Abs. 1 in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie gerechtfertigt sind.

Im sog. Nikolausbeschluss hat das BVerfG entschieden, dass es mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversi- cherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode aus-

45 H. Maurer, JZ 1999, 689, 694.

46 D. Grimm, HdSt I, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 66; E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpre- tation, in: Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115.

47 vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 1970 – 1 BvR 307/68 –, BVerfGE 29, 221, 236, Rn. 47: der Ausschluß selbstverantwortlicher Eigenvorsorge - Aufhebung JAE-Grenzen in der Rentenversicherung und damit Versiche- rungspflicht auch für "besserverdienende Angestellte - wird nicht schon vom Sozialstaatsprinzip gefordert. K.

Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions- und Leistungsstaat, DVBl. 1971, 674, 678.

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zuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.48

Aus den zahllosen Entscheidungen zum allgemeinen Gleichheitssatz sei nur eine herausge- griffen: Mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG ist es nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit ne- ben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinan- zierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbei- trag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.49 Ob das auch für die Rentenversicherung gilt, wird uns Karlsruhe wohl noch in diesem Jahr verraten.

Aus dem Bereich der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG ist erwähnenswert die Entscheidung zur Verfassungsgemäßheit einer Altersgrenze für die Zulassung von Vertragsärzten als Steue- rungsmaßnahme zur Kostendämpfung.50. Die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von hinreichendem Gewicht, der Regelungen der Berufsausübung und auch der Berufswahl rechtfertigt. Ebenfalls an Art. 12 GG hat das BVerfG die Einführung des Basistarifs in der privaten Krankenversicherung geprüft.51 Es ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ein- führung des Basistarifs im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot des Art 20 Abs. 1 GG gewich- tigen Gemeinwohlbelangen dient und sie geeignet und erforderlich ist, um den Krankenversi- cherungsschutz des betroffenen Personenkreises sicherzustellen.

Den Höhepunkt der Sozialstaats-Rechtsprechung stellt aber wohl die Entscheidung des BVerfG zu den Hartz-IV-Regelsätzen aus dem Jahr 2010 dar. Das Gericht hat in dieser Ent- scheidung aus der Menschenwürde - Art. 1 Abs. 1 GG - iVm dem Sozialstaatsprinzip einen subjektiv öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Gewährung eines soziokulturellen Existenzmi- nimums hergeleitet: Das BVerfG führt wörtlich aus:

"Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet al- le staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen.

Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfül- lung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tra- gen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leis- tungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individu- ellen Menschen schützt und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstüt- zung gesichert werden kann."52

2012 hat das Gericht aus demselben Grund die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asyl- bewerberleistungsgesetzes als evident unzureichend angesehen und es dem Gesetzgeber

48 BVerfG, Beschluss vom 06. Dezember 2005 1 BvR 347/98 , BVerfGE 115, 25.

49 BVerfG, Urteil vom 03. April 2001 – 1 BvR 1629/94 –, BVerfGE 103, 242.

50 BVerfG, Beschluss vom 20. März 2001 – 1 BvR 491/96 –, BVerfGE 103, 172.

51 BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2009 – 1 BvR 706/08 –, BVerfGE 123, 186

52 BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175, 222 f., Rn. 134.

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zudem untersagt, bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen pauschal nach dem Aufenthaltsstatus zu differenzieren.53

Betrachtet man das GG, das Handeln des Staates im Bereich Soziales und nimmt man die Rechtsprechung der Sozialgerichte sowie des BVerfG hinzu, kommen wir heute dem zeitlo- sen Verfassungsauftrag des Art. 151 der Weimarer Reichsverfassung doch ziemlich nahe:

dass die Ordnung des Wirtschafslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen muss.

Der Staat tut heute viel, um die materiellen und bildungsmäßigen Voraussetzungen effekti- ven Gebrauchs der Grundrechte54 zu schaffen. Er möchte seine Bürger mitnehmen und dort abholen, wo sie sind. Ob sie tatsächlich mitkommen und mitgenommen werden wollen, bleibt auch im Sozialstaat der Freiheit jedem Einzelnen überlassen.

53 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 –, BVerfGE 132, 134.

54 K. Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions- und Leistungsstaat, DVBl. 1971, 674, 677.

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