Slavistische Beiträge ∙ Band 14
(eBook - Digi20-Retro)
Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.
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Edith Klum
Natur, Kunst und Liebe in der Philosophie
Vladimir Solov'evs
Eine religionsphilosophische Untersuchung
Slavistische Beiträge
U nter Mitwirkung von M. Braun, G öttingen • f Paul Dieb, München • J. H olt husen, Würzburg • E. Koschmieder, München • W. Lettenbauer, Freiburg/Br.
J. Matl, Graz * F. W. Neumann, Mainz • L. Sadnik-Aitzetmüllcr, Saarbrücken J. Schütz, Erlangen
HERAUSGEGEBEN V O N A. SCHMAUS, MÜNCHEN
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E D I T H K L U M
Natur, Kunst und Liebe
in der Philosophie Vladimir Solov’evs
Eine religionsphilosophische Untersuchung
Vorrede von Fedor Stepun
V E R L A G О Г Т О S A G N E R . M Ü N C H E N
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Bayerische Staatsbibliothek
Mönchen
( ф 1965 by Verlag O t t o Sagner/Mündien Abteilung der Fa. Kubon & Sagner, München
Herstellung: Karl Schmidle, Buch- und Offsetdruck, Ebersberg
Dem A ndenken meines lieben Vaters
Prof. Dr. Paul Eugen Böhmer
I N H A L T
Selte
V orrede von Fedor S t e p u n ... 7
E in f ü h r u n g ... 11
I 1. Untersuchungen über die H e rk u n ft d er S ophienlehre Solov’e v s ... 17
2. Das Chalkedonische C hristusbild und die M enschenlehre des O s t e n s ... 34
3. Existenz und Essenz (Das w a h rh a ft Seiende und die W e se n h e it)... 53
4. D er trinitarische P ro zeß in seiner D o p pelstellung . . . 71
5. Die A nthropologie Solov’e v s ...83
6. Die W eltseelen-Lehre Solov’e v s ... 98
R ü c k b l i c k ... 113
I I 1. In terp re tatio n des Aufsatzes: Die Schönheit in d er N a t u r ... 116
2. In te rp retatio n des Aufsatzes: D er allgemeine Sinn d er K u n s t ... 144
3. In te rp retatio n des Aufsatzes: D er Sinn der L i e b e ... 161
S c h l u ß b e t r a c h t u n g ... 216
A n m e r k u n g e n ... 223
L iteratu rv erz eic h n is... 321
Personen- und S a c h re g is te r...327
N a d i w o r t ... 333
Vorrede
V lad im ir S olov’ev gehört zu den bedeutendsten Erscheinungen des geistigen R u ß lan d s. Sein W erk fä llt in die letzten Ja h rz e h n te des neunzehnten J a h rh u n d e rts , die A usw irkung dieses Werkes in das zw anzigste . . . N ich t n u r u n te r den russischen, sondern auch den west- europäischen P hilosophen — dieser Begriff nicht im schulmäßig pro- fessoralen, sondern im w eiteren Sinne — h a t es n u r wenige gegeben, die genau dasselbe als Philosophen lehrten, was sie als Menschen leb- ten. D e r G ru n d b e g riff d er Solov’evschen Philosophie ist der Begriff d e r positiven A ll-E inheit, wie sie im Paradiese herrschte, solange d ort noch der Baum des Lebens blühte und nicht d er Baum der E rkenntnis vo n G u t u n d Böse, d er sein Blühen d er Schlange verd an k t. Alle gei- stesgeschichtlichen A rbeiten V ladim ir Solov’evs käm pfen m it Leiden- schaft gegen den R ationalism us in der Philosophie und fü r die Rück- führung der in sich geeinten und befriedeten Welt in den Schoß G ot- tes. So ist v o r allen D ingen seine K ritik an dem westeuropäischen D enken zu verstehen, die so manches Gemeinsame m it d er G edanken- w eit der Slavophilen hat. Das bekannte W o rt Iv an Kireevskijs, der Westen sei ein A tom ism us des Lebens und ein Rationalism us des D en- kens, k ö n n te m it gutem Recht als M o tto über den G esam tw erken Solov’evs stehen. H eiß en dodi die ersten wesentlichen A rbeiten: ״ Die Krisis der Philosophie des West ens״, ״Di e K ritik der abstrakten P rin- zipien", ״ D ie philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens“ .
Ein Mensch von w eitem umfangreichem Wissen w a r Solov’ev, ein Mensch von g ro ß er schöpferischer A k tiv itä t. Seiner Wissenschaft ge- nügte es nicht, das bereits E ntstandene zu begreifen, sondern es lag ihm d a ran , das K o m m ende m itzuform en. Ihm w a r von A nfang an ein prophetischer Z ug eigen. Sieben Ja h re v o r Ausbruch des russisch- japanischen Krieges h a t er nicht nur sein Kom m en vorausgesagt, son- dern auch den Sieg d e r J a p a n e r. Auch lebte er in der Angst, daß der chinesische O sten sich gegen E uropa wenden w ürde, was ja z u r Zeit geschieht. Besorgt w a r er (und es ist unsere heutige Sorge), auf wel- eher Seite R u ß la n d stehen w ürde: au f d er Seite Christi oder der von
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Xerxes. A uf dem T o te n b e tt h a t er ja auch fü r die Geschicke der Juden gebetet; er ahnte, was ihnen b e v o rstan d .
D ie eschatologisch b e to n te Geschichtsphilosophie Solov’evs h a t ihre künstlerisch vollkom m enste u n d philosophisch populärste D arstellung in den berühm ten ״ D rei G esprächen“ gefunden, an die die E rzählung vom Antichrist angeschlossen ist. D urch dieses W erk ist d er Theologe, der Religionsphilosoph un d d e r P ro p h e t in die breitesten Schichten des geistig interessierten E u ro p a gekom m en.
Viel weniger b e k an n t als die Geschichtsphilosophie S olov’evs ist seine Philosophie d er K unst, d ie in keiner großangelegten philosophi- sehen A rbeit zu finden ist, sondern in einer Reihe von A ufsätzen, K ritiken und in seinen eigenen G edichten gesucht w erden m uß. Als das philosophische Z e n tru m d e r selbstverständlich philosophisch aus- gerichteten Ä sthetik S olov’evs ist sein bekanntes Poem ״ D ie drei Be- gegnungen“ anzusprechen; gem eint sind die Begegnungen m it der Sophia, der Weisheit G ottes, die in d e r von Solov’ev beeinflußten L y rik d er Symbolisten (Iv a n o v , Belyj, Blok) vielfach als ״ ewige F reu n d in “ bezeichnet u n d d er Erscheinung des ״ Ewig-W eiblichen“
von G oethe angenähert w ird .
So viel über die Geschichtsphilosophie von Solov’ev geschrieben w urde, so k arg sind die U ntersuchungen über seine K unst- und Lie- besphilosophie, die bei ihm z u r Ä sth etik gehören. Das B udi von E dith K lum ist der erste großangelegte u n d in die letzten Tiefen d e r So- lov’evschen K om position hineinleuchtende Versuch, den erotisch- ästhetischen Teil des philosophischen W erkes darzustellen.
U m den Begriff d er Weltseele, w ie ihn Solov’ev in vielen V aria- tionen und in V erbindung m it seiner Erscheinung der heiligen Sophia denkt un d lebt, klarzustellen, h a t F ra u K lum in sechs K ap iteln auf das biblische, das patristische u n d das an tik e D enken ergebnisreich zurückgegriffen. D as P roblem des Erscheinens d er heiligen Sophia als der weiblichen G estalt ist von F rau K lum nur leicht b e rü h rt, n u r an- gedeutet; was methodisch durchaus berechtigt ist, denn die Frage, ob die Frauengestalt als ein dem Jenseits angehöriges Wesen zu verstehen ist oder nur als eine von diesen W esen Solov’ev gezeigte Vision oder gar H allu zin atio n , k a n n ja m it den M itteln der philosophischen A na- lyse nicht erm ittelt w erden. Sollte m a n wagen, diesem Problem sich zu nähern, so m üßte m an die Erlebnisse der Sophia־V erehrer und
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-A n b eter der Dichter des Sym bolism us analysieren. F ü r eine solche A usw eitung ihrer A rbeit h a tte F rau K lum keinerlei Veranlassung.
D ie K apitel von Teil II h a n d eln ü b e r die Philosophie der N a tu r, K u n st und Liebe. Die Solov’evsche P hilosophie der K unst ist selbst- verständlich keine form ale Ä sthetik, sondern eher eine M etaphysik d er K unst, die so manche Beziehungen zu P la to n hat. K unst ist nach Solov’ev die ״ V erkörperung d e r Id e e “, u n d die Idee w ird als etwas begriffen, was an und fü r sich ״ des Geistes w ürdig ist“ . Aus diesen A nsätzen sollte m it der Zeit ein größeres W erk über die K unst ent- stehen. Doch w a r es Solov’ev nicht v erg ö n n t, dies zu schreiben.
D en Abschluß der A rbeit von F rau K lum bildet die D arstellung d er kleineren Schrift von S olov’ev über den ״ Sinn d er Liebe“ . N i- kolaj Berdjaev, der als Religions- u n d Geschichtsphilosoph sich mit d er Z eit von Solov’ev wegen seines durch H egel beeinflußten R atio- nalismus entfernt hat, hielt die Schrift ü b er die Liebe fü r das Wesent- lichste, was dem russischen D e n k e r u n d M ystiker gelungen ist. M an k ann dieses U rteil auch d ann verstehen, w enn m an es nicht teilen w ürde; denn zweifelsohne ist das Poem das Persönlichste und Eigen- artigste, was Solov’ev uns geschenkt h a t. D ie tiefe Bedeutung besteht darin, d aß Solov’ev das A bsolute nicht w ie P lato n als Idee gedacht, sondern als eine G estalt des Jenseits persönlich erlebt und dieses E r- lebnis wiederum philosophisch gedeutet h a t. D ie Solov’evsche K on- zeption stellt der Weltseele die A ufgabe, die W elt in Einheit und Liebe zu G o tt zurückzuführen. D ie W eltseele m uß das aber in völli- ger Freiheit und nicht unter göttlichem Z w a n g vollbringen. Die Frei- heit d er Weltseele schließt in sich die M öglichkeit der A bw endung von G o tt; um diese Möglichkeit zu v errin g ern , schuf G o tt nach Solov’ev die Sophia, einen Schutzengel, d er d e r W eltseele hilft, ihre Aufgabe zum R uhm G ottes zu lösen. U n d alle w a h r h a f t Liebenden sind nach Solov’ev dazu berufen, diesem Schutzengel ein treues Gefolge zu schaffen. So erhält die erotische Liebe eine ausgesprochen religiöse Bedeutung.
Unserer Zeit sind diese G ed an k en m e h r als frem d, vielen sind sie sogar feindlich. Aber gerade diese F rem d h eit und Feindschaft birgt in sich H ilfsm ittel gegen die V erarm u n g unserer Liebeserlebnisse, wie sie von der ganzen modernen L ite ra tu r gezeigt w ird.
München
Fedor Stepun
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Einführung
Die Schönheit w ird die W elt erretten.
(K rasota spaset mir.)
Dostoevskij1 V la d im ir S o lo v ’ev gehört zu jenen seltenen Genien, in denen sich G läubigkeit u n d streng logische Spekulation gleichermaßen begegnen.
U n d wenn im O sten a u ß e r Origenes von A lexandrien (— 254) noch Evagrios P o n tik o s (— 399), Pseudo-Dionysios A reopagita (um 500) u n d M axim us C onfessor (— 663) es w aren, die als M ystiker der M eta- physik neue Im pulse gaben, so w a r es im Westen v o r allem Meister E ckhart (— 1327).2 Ih m a b er und jenen östlichen frühen Meistern ist S olov’ev k ongenial; er ist M y s t i k e r und M e t a p h y s i k e r zugleich.3 Es geht ihm wie jenen um die Einheit von G lauben und Wissen.4
Zudem ab er lä ß t ihn die Frage nach der H e rk u n ft und dem Sinn des Bösen nie ruhen, so d a ß w ir ihn auch als E t h i к e r ansprechen d ü rfe n ;5 und als solchen sehen w ir ihn ebenso wie als M ystiker und M etaphysiker in d e r T ra d itio n der großen M eister stehen, deren Linie sich zurückverfolgen lä ß t über die deutschen Idealisten, die hochscholastischen und scholastischen sowie altchristlichen und helleni- stisch-römischen D en k e r bis h in zu den großen Griechen, zu Sokrates, P lato n und Aristoteles.
D ie hier zu besprechenden Schriften ״ Die Schönheit in der N a t u r “ ,
״ D e r allgemeine Sinn d er K u n s t“ und ״ D er Sinn d er Liebe“ fallen in jene d ritte Schaffensperiode, w ährend welcher sich unser Philosoph zu r ״ Religion des H eiligen Geistes“ bekennt (1889— 1900).® Im Jah re 1889 schreibt er den A ufsatz über die ״ Schönheit in d er N a t u r “, 1890 denjenigen über den ״ Allgemeinen Sinn d er K u n st“ un d von 1892 bis 1894 jenen über den ״ Sinn d e r Liebe“ . Diese drei A bhandlungen be- deuten einen stufenweisen P ro zeß christlich-optimistischen W ieder- aufstiegs, dessen Ziel die fleischliche A uferstehung der Menschheit und ihre V erk läru n g ist.
D em religionsphilosophischen System V ladim ir Sergeevič Solov’evs liegt der Johanneisch-Paulinische G edanke d er ״ im A rg en ״ liegenden W elt zugrunde, zu welchem sich auch Augustinus b ek an n te (1. Brief des Johannes 5, 19; Brief des Paulus an die G alate r 1, 4). Doch unter- scheidet sich die Solov’evsche Lehre insofern von der Augustinischen, a b er die W e l t s e e l e w iedereinführt und die N a t u r in den ,.Fall״ m ithineinzieht.7
D am it en tfern t e r sich von d er im abendländischen christlichen K ulturkreis herrschenden A nnahm e eines infralapsarischen Falles8 und steht m it seiner Lehre vom supralapsarischen Fall in d er östlichen T radition, zu welcher sich auch der deutsche M ystiker Jak o b Boehme und sein Kreis bekannten.® Solov’ev setzt ähnlich, w ie es P lato n getan h a tte und in christlich abgew andelter Weise Origenes u n d etw a tau- send Jah re später Meister Eckhart und dessen A nhänger tun werden, eine P r ä e x i s t e n z voraus.10 O hne diese V oraussetzung blieben für ihn sowohl die Freiheit des Willens als auch die Unsterblichkeit u n erk lärb ar.11
W ir können den W erdegang der W iederherstellung o d e r R eintegra-
‘ tiön der in d er Präexistenz gefallenen N a tu r u n d Menschheit m itvoll- ziehen d a n k der s t u f e n w e i s e inhaltsvoller w erdenden S c h ö n - h e i t d er sich manifestierenden oder sich offenbarenden I d e e des L o g o s.12 Es h an d elt sich im vorliegenden Falle um eine О n t о 1 o- g i e d e r S c h ö n h e i t , die so tief im mystisch-metaphysischen Bereich verw urzelt ist, d aß sie den R ahm en d er Ä sthetik überschreitet.
U nser Philosoph deutet dies •selbst an in d er E inleitung zu seinem Aufsatz ״ D ie Schönheit in der N a t u r “ : ״ Die Ä sthetik der N a t u r w ird uns die notwendigen G rundlagen geben fü r eine P h i l o s o p h i e d e r К и n s t.“ 18 — Es geht somit in diesen A bhandlungen w eniger um die form ale Bestimmung der Schönheit als um ihre inhaltliche, d. h. um ihren geistigen G ehalt.
W ir begegnen hier einer schichtgerecht aufsteigenden streng durch- gearbeiteten M e t a p h y s i k d er Schönheit, in welcher Verstandes- m etaphysik und V em unftm etaphysik aufeinandertreffen und bruch- los ineinanderübergehen.14 Es liegt bei diesem Aufstieg eine K onkor- danz d er Schichten v or: jede Schicht verm ag n u r so viel vom gött- liehen P rin zip aufzunehm en, wie es ihrem A ufnahm everm ögen ent- spricht. U n d so w ird je nach dem G ra d e d e r A ufnahm efähigkeit des
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den Logos verkörpernden M aterials die sich offenbarende Schönheit m e h r o d er weniger vollkom m en sein.15
D ie N a tu r au f ihrer untersten Stufe, d. h. die M aterie der un- belebten atom aren Welt, verm ag das logoshafte P rin zip n u r unvoll- kom m en aufzunehm en entsprechend d er K orrelation (sootnošenie) zwischen dem E m pfangenden un d dem Em pfangenen. U n d darum o ffe n b a rt sich das göttliche P rin zip , d er Logos, in stufenweisem A uf- stieg als die jeder Stufe gem äße Schönheit vom Mineralreich aufw ärts über Pflanzen- und Tierreich bis h in au f zum Menschen u n d schließlich Gottmenschen. Im M ineralreich begegnen w ir im durchlichteten D ia- m anten n u r dem Symbol d er w a h rh a fte n Schönheit, welche von So- lo v ’ev definiert w ird als vollkom m ene D urchdringung von Geist und M aterie oder M aterie und G eist.16
M it dieser Bestimmung d er Schönheit stehen w ir m itten in der M eta- physik. U n d unsere A ufgabe w ird es sein, diesen aufsteigenden Weg des sich in immer vollkom m enerer Weise als Schönheit m anifestieren- den o d er offenbarenden Logos zu verfolgen, beginnend bei d er äußer- sinnlich erfahrbaren Schönheit des E nhylon Eidos17 bis h in au f zu r geistig erfahrbaren Schönheit des E nhypostaton Eidos, welches auf seiner höchsten Stufe die M anifestation oder O ffen b aru n g des Logos als vollkom m ener w ahrer Schönheit in d er ihn verkörpernden Geist- M aterie bedeutet. Diese G eist-M aterie aber ist nichts anderes als die von S olov’ev als göttliche Weisheit verstandene nicht-empirische, ideelle unsterbliche Menschheit, welche er m it S o p h i a bezeichnet.18 W ir müssen uns diesen Aufstieg des Logos im Origenistischen Sinn vorstellen: der Logos steigt herab und v erw andelt sich in die M an- nigfaltigkeit d er Dinge, um die gefallene Vielheit heimzuholen. Die ökonomischen Abstiege des einen Logos in die sinnliche Vielheit lassen ihn selbst b u n t und m annigfaltig u n ter tausenderlei Formen erschei- nen.19 U n d so erscheint er a u f der untersten Stufe der N a tu r, im Be- reich des Unbelebten, als die dieser Stufe gemäße vollkom m ene Schön- heit im funkelnden Licht des diam antenen Facettenspiels.
Im H inblick au f die sich hier offenbarende Schönheit handelt es sich um die naturwissenschaftlich zu verstehende M aterie,20 wobei sich, indem sie das äußersinnlich w ahrnehm bare Licht in funkelnder Weise zurückw irft, eine äußerliche gegenseitige D urchdringung von Licht und M aterie vollzieht. Im H inblick au f die w ah re Schönheit jedoch handelt es sich, wie w ir schon zeigten, um die geistige M aterie d er
ideellen unsterblichen Menschheit, wobei sich, indem sie ״ das w ah r- haftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet“,21 aufnim m t, eine innerliche gegenseitige D urchdringung von göttlichem Licht und menschlicher G eist-M aterie vollzieht.22
Metaphysisch gesprochen liegt in diesem K onkretum aus Logos und Sophia die höchste Form des E nhypostaton Eidos vor, das C om po- situm aus Existenz (suščee) und Essenz (suščnost*). D er hier vorlie- genden O ntologie der Schönheit entsprechend bedeutet dieses Com - positum die vollendete Schönheit; das aber ist der G o t t m e n s c h , d. h. der zw eite A dam oder überzeitliche Christus. In diesem Sinne ist das D ostoevskij-W ort zu verstehen, welches Solov’ev seinen A uf- sätzen über die Schönheit voranstellte: ״Die Schönheit w ird die W elt e rretten .“
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L T e i l Untersuchungen
über die Herkunft der Sophienlehre Solov’evs
Entscheidend fü r das philosophische W erk V ladim ir S. Solov’evs sollten seine mystischen Erlebnisse w erden, v o r allem diejenigen in London (1875) und in Ä gypten (1876). Von diesen Erlebnissen be- richtet sein G edicht ״ D rei Begegnungen1.״ D em neunjährigen K naben bereits w id e rfu h r das erste Erlebnis dieser A r t im Ja h re 1862. E r schildert hier zunächst einen Sonntagm orgen au f dem M oskauer Bou- levard. D o r t begegnet er a u f dem Wege z u r Kirche einem ihm be- k an n ten neunjährigen M ädchen in Begleitung der G ouvernante. Den Knaben h a tte eine frühe Leidenschaft zu dem kleinen Mädchen er- faßt, u n d er gesteht je tz t seine Liebe. A ber das Mädchen schweigt;
im K naben b re n n t die Q u a l der Eifersucht, er glaubt an einen Rivalen und trä u m t d avon, ihn zu fordern. D a n n aber in d e r Kirche w ährend der Liturgie schwindet ihm plötzlich die äußerlich sichtbare W elt:
eine überirdisch schöne — azurgolden um strahlte — Frauengestalt erscheint ihm, lächelt ihm zu un d verschwindet im Nebel. M it ihrem Entschwinden ab er ist zugleich auch seine Leidenschaft fü r jenes kleine Mädchen geschwunden, u n d seine Seele ״ erb lin d et“ nach dieser Vision für alles Irdische.
Zehn Ja h re sp äter begegnet dem nunm ehr N eunzehnjährigen die- selbe Vision. U nser Philosoph h a t dieses Erlebnis, das chronologisch die zw eite Begegnung ist, nicht in die ״ D rei Begegnungen“ aufgenom- men, sondern erst in späteren Jah re n in N ovellenform niedergelegt.2 D er A nnahm e F. Stepuns zufolge h a t er diese visionäre Begegnung m it den ihr vorhergehenden U m ständen darum nicht in die Dichtung aufgenommen, weil hier M ystik un d E ro tik in zu engem Zusammen- hang stehen; nicht etw a deshalb, weil dieses Erlebnis w eniger bedeu- tungsvoll fü r ihn gewesen w äre.8 U n d w ir dürfen uns wohl d er A n- sicht F. Stepuns anschließen, d er in d er Tatsache, d a ß noch der reife
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M ann dieses Erlebnis niederschrieb, ein Zeichen fü r die besondere Be- deutung dieser Begegnung sieht.
Die d ritte Vision dieser A rt (im Gedicht die zweite) sollte dem jungen M ann wenige J a h re später in London zuteil w erden. Im Früh- ja h r 1875 h a tte er die U n iv ersität gebeten, ihm eine einjährige Aus- landsmission zu bewilligen, d a er beabsichtigte, im Britischen M u- seum indische, gnostisthe und mittelalterliche Philosophie zu studie- ren.4 Nach erhaltener E rlaubnis verließ er R u ß lan d . D ie Vergegen- w ärtigung der besonderen U m stände dieser spirituellen Reise verm ö- gen vielleicht dazu beizutragen, die H e rk u n ft seines philosophischen Systems zu erhellen. London zog ihn besonders an, er arbeitete den ganzen Tag über in d er Bibliothek des Britischen Museums, das er fü r ״ ideal in allen H insichten“ erklärte.5 A m A bend pflegte er spiri- tistischen Sitzungen beizuw ohnen, die ihn jedoch enttäuschten, so daß er b a ld die H o ffn u n g verlor, im Spiritismus eine G ru n d lag e fü r seine Philosophie zu finden.® D a Solov’ev eine M etaphysik erstrebte, die sich nicht au f rein theoretische E rkenntnis gründet, brachte ihn diese Enttäuschung dazu, nach anderen M itteln zu suchen, um das Geistige im M ateriellen zu verw irklichen.7
In jenem Gedicht ״ D rei Begegnungen״ , das ein w ertvolles D oku- m ent im Hinblick au f seinen A ufenthalt in L ondon u n d Ä gypten ist, spricht er von den köstlichen sechs M onaten, die er im Britischen Mu- seum verbrachte. Seine Studien w aren völlig derjenigen gewidmet, die ihm schon zw eim al erschienen w ar. Wie er selbst sagt, deuteten ihm geheimnisvolle Mächte dasjenige an, was er über sie lesen sollte.
Im H erb st des Jahres 1875 bittet er sie, sich ihm wie ehemals zu offen- baren; un d sie gew ährt ihm die Bitte.
Alles ist azur-gülden erfüllt, W ieder s tra h lt sie v o r mir,
I h r einziges A ntlitz, allein ihr gehörig.8
Einem L ondoner F reund Solov’evs ist es zu danken, d a ß w ir N ä - heres über die Studien im Britischen M useum wissen. D ieser Freund, Ianjouil, fragte eines Tages unseren Philosophen, nachdem e r ihn stundenlang vertieft gesehen h a tte in ein kabbalistisches Buch, das m it bem erkenswerten Bildern versehen w ar, weshalb er im m er ein und dasselbe Buch lese. Solov’ev h a tte ihm hierauf g ean tw o rte t: ״ Es ist sehr interessant, in jeder Zeile dieses Buches ist m ehr Geist als in
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d e r ganzen europäischen W issensdiaft. Ich bin sehr glücklich, daß ich diese Ausgabe gefunden hab e.“9
E inem V orw ort, das Solov’ev etw a zw anzig Ja h re später (1896) zu einem A rtikel über die K ab b ala geschrieben hat, können w ir ent- nehm en, d aß er in der K a b b a la ein D enkm al erblickte, das nodi das G ep räg e einer alten hebräischen Ü berlieferung trage, ein D enkm al, das im Besitz gewisser biblischer W ahrheiten sei. O ffe n b ar zog ihn dabei besonders die Lehre über die E inheit von Form und In h a lt an.
W enn fü r die Griechen d er Dualism us der intelligiblen W elt und der W elt d er Erscheinung sich als unüberbrückbar erwies, so zeigte sich, d a ß es in der kabbalistischen Spekulation diesen Dualismus nicht gab, insofern nämlich als in der M aterie n u r die letzte Verwirklichung oder V erk ö rp eru n g des w ahren Wesens gesehen w urde. U n d wenn die Grie- chen den Ü bergang von d er intelligiblen W elt z u r W elt der Erschei- nung als E ntw ürdigung ansahen, so gewann in der K abbala hingegen dieser Ü bergang einen positiven Sinn, indem in eben diesem Übergang die vollkom m ene V erkörperung d er W ahrheit erblickt wurde. D a- durch gewinne die menschliche G estalt (Form) eine absolute universale G estalt (Form ). Diese biblische W ahrheit aber, die ganz im Gegensatz z u r griechischen Philosophie stehe, habe der Apostel Paulus in die christliche W elt übernommen. Solov’ev fügt abschließend hinzu: ״ Die E inheit vo n allem, was existiert, sofern es die V erkörperung eines einzigen und absoluten Inhaltes ist, ist der A usgangspunkt und das grundlegende P rin zip der K abbala, ein b ew u ß ter und systematischer A nthropom orphism us ist ihre V ollendung.“ 10
Nach D . Strćm ooukhoff ist es wahrscheinlich, d aß dies dieselben Ideen sind, von denen Solov’ev schon in London tief beeindruckt w ar und die sein Interesse fü r die kabbalistische Philosophie weckten. Von hier aus lasse sich verstehen, wie sich bei ihm die Synthese von Ver- n u n ft und O ffenbarung vollzogen h a t.11
Bis zu seiner Londoner Reise h a tte Solov’ev sich geweigert, das weibliche P rin z ip als positives P rin z ip aufzufassen, denn er w ar der Ansicht gewesen, daß diese Auffassung von den israelitischen Prophe- ten b ek äm p ft worden sei. N achdem er aber das weibliche Prinzip als positives P rinzip in den Büchern Salomos in jüdisch-theosophischer In terp retatio n gefunden hatte, scheute er sich nicht mehr, es ebenfalls als positives P rinzip anzunehm en; um so mehr, als ihm das weibliche Prinzip als strahlende Vision erschienen w ar. D ie Vision im Britischen
M useum scheine, wie D . Strém ooukhoff ausführt, seine dortigen For- schungen gekrönt zu haben und sie sozusagen zu legitimieren. Es sei nicht schwer, in der Solov’evschen Vision die G estalt der Sophia tou Theou d er salomonischen Sprichw örter zu erkennen, in denen, wie bekannt, die Weisheit personifiziert w erde.12
D a n k seinen kabbalistischen Studien w ird S olov’ev schließlich zu einem t h e o s o p h i s c h e n System geführt, das sehr ähnlich seiner D arstellung von der K abbala ist. E r steht som it in der esoterischen T radition, die von M. E. D erm engham als ״ occidentale“ bezeichnet w ird ; diese T rad itio n ״ est essentiellement la C ab ale judéo-chrétienne“ , die der T rad itio n des buddhistischen O rients entgegengesetzt ist.13
D e r Vision im Britischen Museum sollte sehr b ald eine w eitere fol- gen. Es verlangte Solov’ev danach, das visionäre Frauenbildnis ganz zu sehen. U n d nachdem er einen inneren R u f vernom m en hatte, un- ternahm er eine geheime Reise nach Ä gypten. E r beschreibt dieses E r- lebnis in den ״ D rei Begegnungen“ und in anderen Versen. Zunächst h ä lt er sich in K airo auf, w o ihm der mysteriöse Befehl zuteil w ird , sich nach Theben zu begeben. In langschößigem Gehrock und im Z ylinder macht er sich au f den Weg, w ird jedoch von Beduinen, die ihn für Schaitan, — den Teufel in Person — halten, überfallen un d in d er W üste liegen gelassen. E r verbringt eine N ach t unter dem Ster- nenhimmel und sp ü rt sich am anderen M orgen beim Erwachen von R osenduft umgeben: wieder erscheint ihm die Vision der überirdisch schönen Frau, seiner ״ ewigen G e fä h rtin “ . Aus ihren Augen strö m t das Licht des ersten Schöpfungstages; doch ist die Welt, deren E n t- stehung unser Philosoph in visionärer Schau erlebt, nicht diejenige, von d er die Genesis berichtet: ihr fehlen Z eit un d Raum . ״ M it einem einzigen Blick um fängt Solov’ev, was w a r un d ist und kommen w ird . In einer A rt mystischer Allvereinigung erschaut er das blaue M eer, die fernen Flüsse, die W älder und die Schneegipfel d er Berge. A ll das lebt m it- und ineinander in einer seligen U m arm u n g als G anzes un d Grenzenloses. — Diese kosmisch-mystische E inheit d er U rla n d sd ia ft ist aber nicht als eine A rt P an o ram a zu verstehen, welches die heilige Sophia ihrem auserw ählten Freund zeigt, sondern als die S e e l e d e r W e l t in G estalt einer vollkom m enen fraulichen Schönheit. — Nach einem Augenblick, der vielleicht eine E w igkeit dauerte, erlosch die Vision und verschwand. U ber die W üste legte sich lautlose Stille.
A ber in seiner Seele hörte Solov’ev den G lockenklang der frohen Bot-
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schaft, in d er betenden Seele kündigte sich d er Sieg über den Tod a n .“ 14
O h n e an d er W ahrheit dessen zu zweifeln, was dichterisch in den
״ D rei Begegnungen“ beschrieben w ird, h ä lt Strém ooukhoff es für d e n k b ar, d aß außerdem auch ganz konkrete Anlässe Solov’ev bestimmt h a tte n , nach Ä gypten zu reisen. E r selbst h a t sowohl in London als auch in Ä gypten interessante G rü n d e fü r seine so plötzliche Abreise aus L ondon angegeben. ״ G eister“ hätten ihm, wie er sich M. M. Ko- valevskij anvertraute, das V orhandensein einer kabbalistischen Ge- sellschaft in Ä gypten en th ü llt und ihm versprochen, ihn d o rt einzu- führen. Dasselbe berichtete er Melchior de Vogüé, den er in K airo kennengelernt hatte. D em zufolge suchte er in Ä gypten ״ une tribu où des initiés conservaient, lui av ait-o n dit, certains secrets de la Cabale, certaines traditions maçonniques, héritées directem ent du roi Salo- mo n 15.״
W ie Strém ooukhoff glaubt, h a tte Solov’ev gehofft, in Ägypten die Lösung eines mehr oder weniger genau bestim m baren Problems zu finden.16 Ein N otizbuch des Philosophen gibt einigen Aufschluß darüber. D o rt findet sich eine flehentliche Bitte um ״ Enthüllung des großen Geheimnisses“.17 N ach L oukianov ist diese Bitte in London geschrieben zu der Zeit, d a S olov’ev seine ״ ewige G e fä h rtin “ anflehte, sidi ihm ganz zu offenbaren.18 D o rt heißt es zu Beginn der Bitte: ״ Im N am en des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes — Ain-Soph, Jah, Soph — J a h “ . Im Folgenden w erden G ötter, D äm onen und alle Lebenden beschworen, ihre K rä fte zu vereinen, um die reine Taube von Z ion einzufangen. U n d sich an die Weisheit G ottes wendend, fleht er die göttliche Sophia an, dieses Bild d er Schönheit und Macht Gottes, diesen strahlenden Leib der Ewigkeit, diese Seele der Welt, diese K önigin der Seelen, in uns hinabzusteigen un d unseren Augen in sichtbarer G estalt zu erscheinen: ״ V erkörpere dich in uns und in der W elt, indem du die Fülle d er Z eitalter w iederherstellst“, au f daß G o tt ״ alles in allem “ sei.1*
D aß Solov’ev sich gerade an die U fe r des N ils begeben habe, wie derm aleinst A braham , könne nach S trém oukhoff d a ra u f zurückgehen, daß sich a u f ägyptischem Boden die M ehrzahl jener Lehren entwickelt habe, die in d er A ntike von der Sophia handelten. Möglicherweise habe I s i s , die ägyptische Sophia, unseren Philosophen dorthin ge- zogen. V or allem aber glaubt Strém ooukhoff, d a ß die theurgische
K unst es gewesen sei, die Solov’ev in Ä gypten gesucht habe.20 Spä- terhin w erde er auch großes Interesse fü r die ägyptische Theosophie bezeigen, die (nach Solov’ev) zahlreiche Beziehungen zu der alexan- drinischen Theosophie und zu d er christlichen Lehre h at.21
Z u r Zeit seines ersten A ufenthaltes in Ä gypten aber habe ihn vor allem die ägyptische K unst interessiert, weil die Religion und die K unst Ägyptens sich au f die Idee des ewigen Lebens gründen; in Ä gypten werde das Leben als Vereinigung des geistigen Prinzips mit dem der M aterie verstanden insofern, als die M aterie das weibliche P rin zip sei. ״ Das Leben ist eine V erkörperung des Geistes oder eine Vergeistigung der M aterie.“22 D e r Mensch solle in d er M aterie das geistige P rin zip verkörpern. Eben dieses sei das Ziel d er ägyptischen Kunst, der Totenzerem onien und selbst des Ackerbaus; nämlich den Tod zu besiegen und die Toten w ieder auferwecken zu wollen. Hoch- stes Ziel für den Ä gypter aber sei das ewige Leben, w eshalb es nicht schwer zu verstehen sei, d aß die ״ apokatastasis ton p án to n “ eine aus- gesprochen ägyptische Idee sei.
Strém ooukhoff hält es fü r wahrscheinlich, d a ß Ideen solcher A rt es w aren, die Solov’ev nach Ä gypten führten; auch k ö n n te es sein, d a ß er etwas über diese geheimnisvolle K u n st durch einige w ürdige Eift- geweihte h ä tte erfahren wollen.23
In einem Brief an seine M u tte r äußert er sich darüber, d a ß es un- möglich sei, dasjenige zu finden, um dessentwillen er nach Ä gypten gekommen sei.24 Strém ooukhoff deutet dies so, d aß es sich um das N icht-Auffinden einer Geheimgesellschaft handelte. D ie Frage genau zu beantw orten, an welche Geheimgesellschaft Solov’ev dabei hat denken können, scheint uns nicht möglich. Zum mindesten aber ver- sucht Strém ooukhoff a u f die Möglichkeit einer A n tw o rt hinzuw eir sen. E r stützt sich hierbei a u f den Rom an von A. F. Pisemskij ״ Die F reim aurer“, zu welchem Solov’ev einige Ja h re nach seinem A uslands- au fen th alt das notwendige freimaurerische M aterial geliefert h a t.25 D o rt w ird eine gewisse Tafel von Sm aragd e rw äh n t, die im Tempel zu M emphis aufgestellt sei und die G ru n d lag e d er theosophischen Lehre betreffe, einer Lehre, die von den Freim aurern aufbew ahrt w orden sei. D e r V erm utung Strém ooukhoffs zufolge h a n d elt es sich hierbei jedoch nicht um die Tafel von S m aragd: ״ II s’agit probable- ment de la table de Memphis (et non pas de la table d ’ém eraude) qui a u rait contenu l’enseignement fondam ental sur l’identité de ce qui se tro u v e en bas et en h a u t.“26
Gewissen Überlieferungen zufolge hätten Geheimgesellschaften in Ä g y p te n Logen organisiert, die sich m it Alchimie beschäftigten. U n d v o n diesem Blickpunkt aus erscheint Strém ooukhoff Solov’evs W all- f a h r t nach Theben charakteristisch, da nämlich dieses Gebiet einst- m als ein Z entrum der Alchimie gewesen ist; zwei der größten griechi- sehen Alchimisten haben d o rt gelebt: Zosimus und O lym piodorus.27 A u ß e rd e m beriefen sich schließlich auch die Freim aurer au f Ä gypten.28 U n d so h ä lt Strém ooukhoff es fü r durchaus möglich, d a ß Solov’ev h ie rv o n aus Büchern habe erfahren können o d er auch durch Rosen- K re u tz e r, die nach London gekommen w aren, um d o rt eine Loge zu e rö ffn e n .29
O b w o h l Solov’ev das nicht fand, um dessentwillen er, wie er glaubte, den R u f nach Ä gypten erhalten hatte, zw eifelte er doch nie- m als an der W ahrhaftigkeit jener geheimnisvollen inneren Stimme.30 Sie blieb zeit seines Lebens von großem Einfluß au f ihn.
D ie hier geschilderten Ereignisse dürfen w ir als die wichtigsten im Leben Solov’evs betrachten.31 Die Studien d er mystischen D enker h a tte n ihn gleichsam vorbereitet au f jene Visionen in London und in Ä g y p te n , die ihn zu derjenigen In tu itio n gelangen lassen sollten, welche zum Zentrum seiner Philosophie geworden ist. Diese Studien u n d visionären Erlebnisse w urden seinem D enken zu einer positiven G ru n d lag e, auf der er sein theosophisches System errichten konnte,
in dessen Zentrum die In k a rn a tio n der S o p h i a steht.32
D a Solov’ev alles, was a u f diesem G ebiet geschrieben w orden ist, kennenlernen wollte, begann er die G nostiker und vornehmlich die Böhmesche M ystik zu studieren. Im Jah re 1877 b e fa ß t er sich m it den Böhmisten, er findet seine eigenen G edanken bei diesen M ystikern vielfach bestätigt, jedoch kein neues Licht. G. Gichtei, G. A rnold und J. P o rd ag e hält er für unbedeutend; sie interessieren ihn nur vom S ta n d p u n k t der Analogie zwischen ihrer und seiner eigenen mystischen E rfah ru n g . Dagegen w erden Paracelsus, Böhme un d Swedenborg als
״ w ahre Menschen“ bezeichnet.33
Paracelsus steht Solov’evs Ansicht nach unter kabbalistischem Ein- fluß; un d auch die Lehre Swedenborgs zeige einige Analogien zur K abbala. D ie Tatsache, d aß Solov’ev Analogien zwischen der swe- denborgschen und der kabbalistischen Lehre findet, gibt Strém ooukhoff A nlaß zu der Ansicht, daß dadurch die W ichtigkeit der paracelsischen und swedenborgschen Einflüsse verm indert w ürde, die ohnehin auf
die sophianische Lehre Solov’evs n u r gering sein könnten.34 V o r allem seien es Böhme und dessen Epigonen gewesen, durch welche So- lo v ’ev beeinflußt w orden sei.35
W ährend dieser Z eit bildet Solov'ev seine Sophienlehre sehr äh n - lieh derjenigen d e r Böhmisten.3® Im Z entrum des Böhmeschen Systems steht ״ die G ö ttlid ie Ju n g frau S ophia“. Sie ist die M anifestation G o t- tes, die O ffenbarung Seiner göttlichen Idee, d er himmlischen Mensch- heit. H ie rzu ä u ß e rt sich K oyré: ״ L a Vierge céleste s’incarne, ou, si l’on veut, le corps de Dieu incarne la Vierge céleste. O n p o u rra it dire aussi que Dieu s’incarne lui-même dans la S o p h i a 37.״
F ü r Solov’ev identifiziert sich ebenso wie fü r Böhme die göttlidie Weisheit m it der Idee un d m it d e r idealen Menschheit.38 Doch tren n e ihn, wie Strém ooukhoff betont, tro tz seiner o ft gebrauchten böhm e- sehen Form ulierungen ein psychologischer Unterschied von dem d e u t- sehen M ystiker: die Solov’evsche Weisheitslehre entbehre nicht eines gewissen Erotism us.3* Gleichermaßen ä u ß e rt sich Berdjaev; leider könne m an von Solov’ev nicht sagen, d aß seine Sophienlehre so v o ll- kommen rein und abgeschieden sei wie die Böhmesche Lehre tro tz all seiner• großen V erdienste im- Hinblick, a u f die P roblem stellung.40.
Berdjaev macht es Solov’ev zum V orw urf, d a ß sein S ophienkult ein kosmischer K u lt des Ewig-Weiblichen gewesen sei. Ih n h ä tte n an d e r Sophia die Züge des weiblichen C harm es gereizt.41 Z w a r sei es unbe- streitbar, d aß in d er weiblichen Schönheit ein A bglanz d er göttlichen W elt liege, dodi beruhe bei Solov’ev das Unglück darin, d a ß sich bei ihm das Bild der Sophia verdoppelt habe und ihm trügerische B ilder erschienen seien.42 Berdjaev gibt d er Lehre Böhmes den V orzug v o r derjenigen Solov’evs, weil sie sich auszeichne durch ״ große R einheit (čistota) und Abgeschiedenheit (otrežennost’) “ ; sie zeige, wenn auch nicht immer logische K larheit, so doch ethische K larh eit.43 ״ D ie ganze Sophiologie Böhmes ist entstanden aus seiner himmlischen göttlichen Vision der himmlischen Reinheit und Jungfräulichkeit, sie ist ver- bunden m it d er In tu itio n der göttlichen W elt. D ie irdische A p h ro d ite trü b t keinen Augenblick die göttliche Sophia. D ie i r d i s c h e Sophia aber ist fü r ihn die Ju n g frau M aria. D ie Sophienlehre Böhmes ist eine vollkom m en reine und tief christliche, in ih r sind keine heidnischen Elem ente.44״
A uf eine weitere Unterscheidung d e r Solov’evschen L ehre von den Böhmisten weist Strém ooukhoff hin, indem er sagt, d a ß d e r M ystizis-
m us Solov’evs a k t i v e n C h a ra k te r trage, welcher den Böhmisten bei d e r In k a rn atio n der W eisheit fehle.45 So ru ft — nach Pordage — d ie Weisheit ״ einen leydenden und unw ürksam en W illen“ des Men*
sehen z u r L äuterung auf.46
Im übrigen zeigt Solov’ev eine ganz auffallende Ähnlichkeit zu d e r Lehre Franz von Baaders w äh ren d einer Zeit, da er B aader offen- b a r noch nicht kannte. E r definiert nämlich ebenso wie B aader die W eisheit als M a y a - M a g i e , als I d e e und schließlich als kon- k re te Idee oder S O P H IA .47
B aad er h a tte im X IX . J a h rh u n d e rt die Lehre Böhmes wieder auf- genom m en; dabei erw äh n t er, d aß den In d e rn die Weisheit u n te r dem N a m e n M aya bekannt w ar, den Griechen unter demjenigen der Idee u n d den H ebräern unter dem d er Sophia. Wie K oyré glaubt, ist es F. v. Baader, dem Solov’ev seine Lehre von der Weisheit entlehnt.48 Zu dieser Ansicht Koyrés bem erkt Strém ooukhoff, d a ß diese H y p o - these z w a r sehr bestechend sei, da sie nicht n u r Solov’evs sophianische Lehre erklären w ürde, sondern auch seine Logoslehre sowie überhaupt die Synthese der mystischen Theosophie m it dem deutschen Idealis- m us;49 doch spreche gegen die V erm utung des Baaderschen Einflusses zu jener Zeit die Aussage von Solov’evs Freund L. M. Lopatin, wel- eher zufolge Solov’ev erst nach völligem Abschluß seiner eigenen An- sichten F ranz von B aader kennengelernt habe.50 Tatsächlich nennt Solov’ev 1877 Baader nicht bei d er A ufzählung d er ״ Weisheitsspezia- listen“, wie er es später tun w ird .51 Diese Tatsache lä ß t Strém ooukhoff zu dem Schluß gelangen, d aß Solov’evs Sophienlehre die K abbala und die Geheimschriften (les écrits hermétiques) als erste Q uelle zuzu- schreiben sind.52
Dieser Ansicht, die dahin geht, d aß es sich im Hinblick au f die H er- kunft d e r sophianischen Lehre Solov’evs nicht in erster Linie um die deutsch-mystische Q uelle handeln könne, steht N ik o ła j Berdjaevs Ver- m utung entgegen. E r erblickt in d er Sophienlehre Böhmes den U r- sprung der russischen sophiologischen Ström ung, die im Bereich der russischen Religionsphilosophie und Theologie m it V ladim ir Solov’ev, wie er sagt, ihren A nfang genommen h at.58
Andererseits aber sahen w ir w eiter oben, d aß ihm (Berdjaev) der Unterschied zwischen der Lehre Böhmes und derjenigen Solov’evs keineswegs entgangen ist.54 E r w irft sogar selbst die Frage auf, ob in der russischen sophiologischen Ström ung, welche nach Berdjaev m it
V ladim ir Solov’ev begonnen hatte, der Geist Böhmes erstorben sei.
Jedoch verm ag er seine Frage nicht m it einem einfachen ,Nein* zu beantw orten. E r sagt: ״ Unm erklich w irkte hier u n b ew u ß t der Geist Böhmes, denn Böhme ist die Q uelle der Lehre von der S ophia.“ E r geht m it dieser A n tw o rt, die den Nachdruck au f das u n b e w u ß t e W irk en legt, geschickt einem offenen ,Ja* auf die Frage, ob der Böh- mesche Geist erstorben sei, aus dem Wege und h ä lt d a m it an der Ü berzeugung fest, d aß die russische religionsphilosophische Sophien- lehre ihren U rsprung in der deutsch-mystischen Q uelle habe.55
D ie gleiche Ü berzeugung herrscht auf orthodox-kirchlicher Seite.
Auch hier glaubt man, d aß die sophianische Lehre das P ro d u k t einer E inw irkung der deutschen M ystik, der deutschen Theosophie und der deutsch-idealistischen Philosophie sei.5® G erade diese Ü berzeugung ist es, derzufolge Bulgakov als Priester in heftigen K onflikt m it der orthodoxen Kirche seiner theologischen Schriften wegen geriet, in denen er die androgyne Idee m it seiner Sophienlehre darlegte. Es w ird Bulgakov und somit auch Solov’ev und Berdjaev vorgew orfen, die Sophienlehre habe nichts m it der orthodoxen L e h rtra d itio n zu tun.57 Im G ru n d e seien Solov’ev, Berdjaev und Bulgakov Schüler Böhmes, Schelfings und F ranz vön Baaders.58 Wie E rńst Benz schreibt, w u rd e ־
״ der W iderstand gegen die spekulative Sophienlehre un d die andrò- gynen Ideen Bulgakovs . . . nicht nur von den Bischöfen d e r russischen Kirche in der Sovjetunion ausgeübt, sondern auch von Theologen der russischen Em igration, so v o r allem von Professor G eorge Fio- rovskij.“5®
In Übereinstim m ung m it Berdjaev hören w ir auch von E m s t Benz, daß die Sophienlehre m it d er androgynen Idee zu A n fan g des X IX . Jah rh u n d e rts von Deutschland nach R u ß lan d gekommen sei, d a ß die Ideen Jak o b Böhmes, O ettingers, St. M artins, F ranz vo n Baaders und Michael H ah n s in die mystischen Zirkel und Freim aurerkreise eingedrungen seien und zum Teil auch E inlaß in orthodox-geistliche Kreise gefunden hätten au f dem Wege über die von Z a r A lexander I.
gegründete Bibelgesellschaft.60 Auch lasse sich literarisch nachweisen, wie stark der direkte Einfluß der W erke Böhmes, Baaders und Schei- lings a u f Solov’ev, Berdjaev und Bulgakov gewesen sei.61
Doch hält es E rnst Benz für falsch, die Lehre von d er Sophia und A ndrogynie als einen westlichen F rem dkörper in d er O rth o d o x ie zu erklären; er weist ausdrücklich d a ra u f hin, d a ß gerade dieser Ideen
bereich östlicher H e rk u n ft ist und erst w ährend der Z eit d er karo- lingischen Kirche aus dem O sten übernom m en w urde.62 D ie M ystik u n d Theosophie des A bendlandes sei diejenige Geistesrichtung der westlichen Christenheit, die über Ja h rh u n d e rte hinweg den stärksten Z usam m enhang m it dem östlichen C hristentum b e w a h rt habe. Franz v o n B aader habe m it Recht d a ra u f hingewiesen, d aß die Sophienlehre sow ie die androgyne Idee nicht a u f abendländischem Boden erwachsen seien u n d sich bei dem karolingischen mystischen Theologen Scotus E riu g en a finden, dessen Geist am stärksten durch den großen östlichen M y stik e r Dionysios A reopagita geprägt w orden sei.63 Auch habe F ra n z von Baader schon d a ra u f hingedeutet, d aß bei G regor von N y ssa die androgyne Spekulation vorkom m e. U n d E rnst Benz ist der Ü berzeugung, daß die A ufhellung d er Geschichte der Sophienlehre in n e rh alb des Gesamtbereichs der orthodoxen Theologie — von der die russische ja nur einen Ausschnitt bilde — die von B aader aufge- stellte Behauptung bestätigen w ürde, d aß nämlich gerade zwischen d e r theosophisehen T ra d itio n des A bendlandes und der mystischen T ra d itio n des M orgenlandes ein enger Zusam m enhang bestehe.64
Indessen ist nun erwiesen, d a ß nicht nur Dionysios A reopagita im neunten Jah rh u n d e rt E inlaß im A bendland gefunden hat, sondern auch d e r große M ystiker-M etaphysiker des Ostens M aximos Confes- sor. D e r H ofphilosoph K arls des K ahlen, Scotus Eriugena, übertrug die a u f den Westen überkom m enen W erke dieser beiden östlichen D en k er in die lateinische Sprache. Dionysios und M aximos sind gleichsam die östlichen Schlüsselfiguren, die — in d er M itte stehend
— den Weg zurückweisen z u r Philosophie der A lexandriner und v o rw ärts deuten bis zum deutschen Idealismus. N eben Scotus Eriu- gena sehen w ir in Meister E ckhart eine der westlichen Hauptschlüssel- figuren, durch welche die östliche M ystik im A bendland w eiterw irken sollte: Dionysios A reopagita bedeutet die H au p tq u elle Eckharts65 neben Proklos66, dem letzten großen N euplatoniker, a u f welch letz- teren Dionysios allem Anschein nach selbst zurückgeht.67 U n d von Meister Eckhart führt die Linie d irek t über Tauler, Böhme und O etin- ger bis zu Schelling.6*
Eine weitere westliche Schlüsselfigur begegnet uns in N ikolaus von Kues. Ihm ist der w ertvollste Eckhart-K odex zu d a n k en ;69 aber ab- gesehen davon, daß er die Prinzipienlehre Eckharts in sein System einbaute,70 kannte er nicht n u r Johannes Scottus Eriugena,71 den Ü bersetzer der Areopagitischen und Confessorschen Schriften, sondern
auch Proklos7* und d arü b er hinaus M arius V iktorinus.7* In gebroche- ner Linie fü h rt auch d er K usaner bis zum deutschen Idealismus.74 Im Osten konnte die alexandrinisch-byzantinische metaphysische M ystik unm ittelbar w irksam w erden, ohne jene nahezu pantheistische A bw andlung erfahren zu haben wie im Westen durch Johannes Scot- tus Eriugena.75 D ie P hilokalia bedeutete den direkten Zugang, auch fü r R u ß lan d .7* D en Forschungen H an s U rs von B althasars zufolge ist die sophianische Lehre alexandrinisches G edankengut, das au f dem Wege über Byzanz seinen Eingang in R u ß lan d gefunden h a t: ihm zu- folge ist es das origenistische W eltgefühl, welches kaum v erän d ert übernommen w urde von M aximos Confessor und von diesem w eiter- w irkend das byzantinische M ittelalter ebenso bestim m t h a t wie die neuere russische Religionsphilosophie, nämlich den Sophianismus:
״ Die ,Sophia‘, die Bulgakov a b ein seltsam schillerndes M ittelwesen zwischen G o tt und W eltn a tu r erblickt, das eine A n tlitz z u r Ewigkeit gew andt als ewige K reatürlichkeit, als überwesentliche un d doch sdion passive weibliche Ideenw elt, das andere A n tlitz z u r W elt ge- kehrt, als deren G ru n d und W urzel: diese ,Sophia‘ m ag freilich ihre unm ittelbare Quelle• in •Solov.’ev,. Eranz von Baade.r,. Schelling und Böhme besitzen, ihre l e t z t e n Q uellen, aus denen auch die deut- sehen G nostiker schöpften, fließen doch w ieder vo n B yzanz un d zu- letzt von A lexandrien h e r.“77
Es handele sich hier um einen D oppelaspekt: einerseits um die überweltliche mystische G ottförm igkeit und andererseits um die N a - tu r a b Sünde. Dieser D oppelaspekt erscheint H . U. v. B alth asar als
״ letzter form aler R hythm us östlicher R eligiosität“. D ieser R hythm us, dem w ir in den W erken Dostoevskijs ( ״ B rü d er K a ra m a z o v “, ״ D ä- m onen“) begegneten, sei bereits unm ittelbar in Origenes sowie in den beiden G regor un d in M aximos vorgebildet.78 U n d w enn die ur- sprünglichste A nalogie zwischen G o tt und Geschöpf, die jeden Bezug zwischen beiden a u f dem G ru n d riß der gegenseitigen D istan z auf- baue, durchbrochen w erde zugunsten einer ״ Id en titätssp h äre' uTTJfcr sophianischen M itte “, so führe diese Durchbrechung zu jener ״ gnosti- sehen D äm onisierung des Geschöpfs“ , deren Spuren im östlichen Den- ken nie ganz verwischbar seien.79
Dieser D oppelaspekt aber ist es, der schon Berdjaev a b wesens- unterscheidendes M erkm al zwischen d er Sophienlehre Böhmes und derjenigen Solov’evs aufgefallen w ar.80 W ir wiesen bereits d a ra u f
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hin, daß Berdjaev unserem Philosophen die V erdoppelung seines f Sophiabildes zum V o rw u rf machte. ״ ,Das Bild der weiblichen Schön- heit* im Kosmos, in d er geschaffenen W elt k ann nicht n u r aus einem oberen A bgrund (iz verchnej bezdny) kommen, sondern auch aus einem unteren A bgrund (iz bezdny nižej) und ein T rugbild (obman) sein, eine unw ahre Verlockung (ložnoe p rel’ščenie), es k ann sich als eine vom Logos losgerissene un d d en Logos nicht aufnehm ende Sophia erweisen, d. h. als nicht-weise W eiblichkeit.81״
Doch räu m t Berdjaev an dieser Stelle ein, d aß V ladim ir Solov’ev in seinem ״ hervorragenden“ A ufsatz ״ D e r Sinn der Liebe“ die größte Weltabgeschiedenheit erreicht habe.82 U n d w ir d ü rfen hier erwei- te rn d hinzufügen, d aß er auch in seinem W erk ״ L a Russie et l’Église U niverselle“ und in seinem V o rtra g ״ D ie Idee d e r Menschheit bei Auguste C om te“ diese Abgeschiedenheit erreicht hat. H ie r trifft ihn auch nicht Berdjaevs früher ausgesprochener V orw urf, d a ß seine So- p h ia keine direkte Beziehung z u r D reifaltigkeit gehabt habe, daß sie ganz und gar kosmisch gewesen sei, nicht aber die Schau d er gött- liehen Weisheit. (A uf die W andlung des Solov’evschen Sophienbildes w erden w ir später genauer eingehen.)
Wenn w ir bereit sind, uns der Ansicht H . U. v. B althasars anzu- schließen, so dürfen w ir sagen, d a ß dasjenige, was Berdjaev an der sophianischen Lehre Solov’evs ablehnt, nämlich ihre Verdoppelung, dieses Schillernde, Zwielichtige nicht Böhmescher H e rk u n ft ist, son- d e m alexandrinisch-byzantinischer; ״ das u n au sro ttb are M ißtrauen gegen eine eigenständige, gegenständige und aller G nadenteilhabe vorausliegende leibseelische N a tu r, gegen die w urzelhafte Analogie des Seins m ußte die V äter im Gefolge Origenes’ immer w ieder dazu verführen, die ״ W ahrheit“ d e r K re a tu r in ihrer G ottim m anenz zu suchen, — was sich in d er absoluten Id e a litä t und Ungeschichtlichkeit des U rstands äußert — , ihre faktische R ea litä t dagegen in eine offene oder geheimere Verbindung m it dem Sündenfall zu bringen.“83
D aß es sich schon bei den Slavophilen um östlichen Einfluß gehan- delt hat, d arau f weist P. G . Florovskij hin in seinem A ufsatz ״ N o v y ja knigi о Vladimire Solov’eve“ .84 H ie r sagt er, das slavophile Ideal der vollkommenen Erkenntnis gehe zurück a u f die kontem plative M ystik der Mönche vom Athos: diese mystische Lehre sei im fünfzehnten Jah rh u n d ert vom heiligen N il Sorskij in R u ß lan d eingeführt und im achtzehnten Jah rh u n d e rt durch Paisij Veličkovskij erneuert worden.
Im neunzehnten J a h rh u n d e rt h a tte diese Lehre ein Z en tru m in O p tin a Pustin. U n d tatsächlich h a t I. Kireevskij die V ollkom m enheit des gläubigen Geistes in der slavisdien Übersetzung von Isaak dem Syrer gefunden, wie aus einem Brief Kireevskijs an den Starec M akarius hervorgeht.85 Auch äußerte Fedor Stepun schon 1929 die Ansicht, d aß es sich im Falle des Slavophilentum s nicht um einen vorw iegen־
den Einfluß d er deutschen R om antik handele, sondern — o hne jedoch den Einfluß Schellings schmälern zu wollen — vielm ehr um eine Be- gegnung dieser R om antik m it dem religiösen russischen Leben, das sich in der Lehre d er Slavophilen seiner selbst b ew u ß t gew orden se׳i.86 U n d Solov’ev selbst h a t offenbar Schelling nicht als deutschen Philo- sophen em pfunden, sondern als einen zu r östlichen T ra d itio n gehö- renden: so sieht es L udolf M üller fü r bezeichnend an, d a ß Solov’ev über Schelling an einigen Stellen in seinem W erk schweigt.87 L. M üller erw ähnt, d aß Solov’ev in den ״ Vorlesungen über das Gottmenschen- tu m “ (III, 163) sich dahin äußert, das Wesen der deutschen Philoso- phie sei, den ganzen In h a lt des Wissens (vse soderžanie znanija) a priori aus der reinen V ern u n ft (iz čistago razum a) abzuleiten: ״ naiv bei Leibniz und W olff, bew ußt, aber bescheiden bei K an t, entschieden ' erklärt' b'ei'Fichte un d ־mit* vollem Selbstbew ußtsein und vollem N ichts
erfolg durchgeführt bei H egel.“88
D a ß Schelling an dieser Stelle von Solov’ev nicht genannt w ird, deutet L. M üller dahin, d aß der Schellingsche ״ A n tirationalism us“ und sein ״ metaphysischer Empirismus“ nicht in die ״ G enerallinie“ der deutschen Philosophie passen: ״ . . . die Russen können Schelling gewis- sermaßen als den ihren betrachten. Die Nichtbeachtung Schellings in Deutschland gibt ihnen in d er T a t ein gewisses Recht d a z u .“89
A n anderer Stelle lä ß t Solov’ev Schelling die höchste A nerkennung zukom m en, die er je einem Philosophen gezollt h a t: ״ U m den Sinn d er christlichen D ogm en im Gebiete höherer sp ek u lativ er V ernunft zu begreifen, m uß m an Philosoph platonischer oder schellingscher Richtung sein.“90 Ein weiteres Bekenntnis zu Sdielling finden w ir in einem Brief, den Solov’ev im Jah re 1881 an KLreev schreibt. E r be- richtet darin, d aß der Theologieprofessor R oždestvenskij von den eigentlichen religiösen Fragen seiner D issertation nicht befriedigt ge- wesen sei, da seine Anschauungen denjenigen Schellings und Schleier- machers ähnlich seien und in pantheistischem Sinne verstanden wer- den könnten. D arau fh in machte Solov’ev den Professor a u f den U n- terschied aufm erksam , der zwischen dem spekulativen Pantheismus
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des ersten Schellingschen Systems (Identitätsphilosophie) besteht und d e n K onstruktionen des zw eiten Schellingschen Systems (der söge- n a n n te n positiven Philosophie); ״ d er D o k to ra n d erkannte die Ver- w andtschaft seiner Ansichten n u r m it diesem letzten System Schellings an, in welchem dieser Philosoph sich schon von dem falschen Pantheis- mus seiner früheren Theorien befreit h a t “ (Briefe II, 100),91
A ber trotz dem Selbstbekenntnis zu Schelling und der auffallenden Ähnlichkeit des Schellingschen und Solov’evschen trinitarischen Pro- zesses unterscheiden sie sich doch insofern voneinander, als Schelling die androgyne Sophienlehre nicht in sein System übernom m en hat.92 Unsere Untersuchungen über die H e rk u n ft des Sophienbegriffes Solov’evs zeigten uns, d aß seine kabbalistischen Studien (London 1875, Ägypten 1876) denjenigen d er deutschen M ystik vorausgingen:
die Lehre Böhmes und seiner A nhänger studierte er erst 1877.93 U n d er selbst äußerte, d aß er keine neue Erleuchtung durch diesen mystischen Kreis em pfangen habe.94 Das Studium der westlichen M y- stiker lief vielmehr au f einen Vergleich hinaus zwischen ihren Visiorten un d den seinen. Dabei soll keineswegs bezweifelt werden, d aß — wie Berdjaev verm utet — der Böhmismus u n b ew u ß t95 bereits in Solov'ev w eitergew irkt hatte, noch bevor er an die erw ähnten Studien geriet.
A ber die Tatsache, d aß er selbst sidi nicht gern au f Böhme bezogen sah90 und daß sèine Lehre sich von der Böhmes durch die Zwielichtig- keit seiner Sophia unterscheidet,97 spricht dafür, d aß er nicht direkt von Böhme kom m t. D aß es sich tatsächlich bei den russischen Reli- gionsphilosophen um ein sich von Böhme unterscheidendes Sophien- bild handelt, w ird bekräftigt durch Berdjaev selbst, der d a ra u f hin־
weist, daß O. P. Florenskij und O . S. Bulgakov sich bew ußt von Böhme entfernt haben.98
Ferner sahen w ir bei unseren Untersuchungen, d aß auch die abend- ländische M ystik sich zurückverfolgen lä ß t über B yzanz bis nach Alexandrien au f dem Wege über M eister Eckhart, Scotus Eriugena, Dionysios A reopagita und M aximos Confessor. Auch w irkte in Böhme der nyssenische G edanke der androgynen Christologie fo rt; Gregor von Nyssa aber gehört zu jenen in der alexandrinischen T radition stehenden Meistern, die von M aximos Confessor in seinen ״ G nosti- sehen C enturien“ zu einem einzigen orthodoxen System zusammen- gefaßt w urden.99 Aber auch westlicherseits fü h rt der W eg zu G regor von Nyssa.100 U n d darüber hinaus w a r dem G ö rlitzer Theosophen
auch die K abbala nicht u nbekannt: es findet sich eine seltsame V er- Schmelzung jüdisch-kabbalistischer und christlich-mystischer T rad itio - nen bei Böhme.101 Noch deutlicher jedoch als bei ihm t r i t t bei O etin - ger die V erbindung der trinitarischen christlich-mystischen Spekula- tionen über ״ die innere Selbstbewegung G ottes“ m it den kabbalisti- sehen Spekulationen über ״ die K rä fte G ottes“ (Sefiroth) h erv o r.102 Einer der wichtigsten Q uellen d er Oetingerschen Lehre begegnen w ir in der C abbaia D e n u d a ta des Baron K n o rr von R o sen ro th ;103 es 1st dies das gleiche W erk, an welches Solov’ev etw a a n d erth alb J a h rh u n - derte später in L ondon geraten sollte und das ihn tief beeindruckte.104 D ie Tatsache aber, d aß O etinger105 und Solov’ev auf eine und die- selbe kabbalistische Q uelle zurückgehen, könnte beitragen z u r Erhel- lung der auffallenden Ähnlichkeit des Solov’evschen un d des B aader- sehen Systems, welches Solov’ev ganz offensichtlich erst kennen lernte, nachdem er sein eigenes System aufgestellt h a tte .10® F ranz von B aader aber übernahm das Oetingersche Erbe.107
D a ß dem G ö rlitzer M ystiker die jüdische K ab b ala nicht frem d w a r und d aß O etinger sie in ein verchristlichtes System brachte, au f wel- dies F ranz von Baader, ja auch Schelling zurückgriffen,108 zeigt uns, d aß die W urzeln der deutschen spekulativen M ystik.sich nicht, n u r au f . dem Umwege über Byzanz, sondern d irek t bis nach A lexandrien er- strecken.
Solov’ev selbst h a t m it Nachdruck d a ra u f hingewiesen, d a ß seine sophianische Lehre biblischen U rsprungs sei und d aß bereits im Buch des Ekklesiasten von d er Sophia gesagt werde, sie habe schon vor der W elt bestanden un d G o tt habe sie im A n fan g Seiner Wege ge- h a b t.10® A ußerdem aber betont er, d aß seine Sophienlehre eine rus- sisch-mystische Weltschau ausdrücke. Als bildlichen Ausdruck dieser russisch-mystischen Weltschau beschreibt er die Ikone des 11. J a h r- hunderts in d er Sophienkathedrale zu N o v g o ro d .110
A uf dieses Selbstzeugnis Solov’evs weist F. Stepun ausdrücklich hin wegen der noch heute andauernden A ngriffe a u f den Solov’evschen Sophienbegriff.111
Wenn w ir dies alles überdenken, so sehen w ir, d a ß die orth o d o x e Kirche zuunrecht den V o rw u rf erhoben hat, die Sophienlehre im Sinne Solov’evs, Berdjaevs, Bulgakovs bedeute einen deutschen F rem dkör- per in der orthodoxen L eh rtrad itio n : das R u ß la n d d e r sophianischen Epoche stellt sich uns somit als derjenige Bereich dar, in welchem die
aus derselben Q uelle kom m enden Ströme, die sich nach O sten und Westen verzw eigt hatten, w ieder zusammenfinden. Es schließt sich in R u ß la n d gleichsam d er Kreis. U n d w enn w ir nun noch einmal die Frage aufw erfen nach der H e rk u n ft d er Solov’evschen Sophienlehre, so können w ir sagen, d aß — sowohl im Hinblick au f ihre erste Quelle, die tatsächlich die jüdische K ab b ala zu sein scheint, als auch im H in- blick au f die deutsch-mystische Q uelle sowie au f indirekte Einflüsse —
Solove’vs Sophienlehre letztlich aus dem Osten stammt.
Das Chalcedonische Christusbild und die Menschenlehre des Ostens
Es w ird unser Anliegen sein, die W andlung des Solov’evschen W elt- seelen-Begriffes zu untersuchen. Bevor w ir uns jedoch dieser Aufgabe unterziehen, b ed arf es eines kurzen Überblicks über die. Entw icklung der christologischen A nthropologie des Ostens vom II. bis ins V II. J a h rh u n d e rt n. C hr., bis zu dem großen abschließenden Meister d er östlichen M etaphysik, zu M aximus Confessor; denn ״ das reli- giöse Bewußtsein Solov’evs h a t sich im wesentlichen aus d er V er- Schmelzung zw eier geistig-religiöser W elten gebildet: d er russisch-ost- kirchlichen Fröm m igkeit .mit. Auferstehungsglaqben, W eltverklärung und esdiatologischem Messianismus au f der einen und der abendländi- sehen theosophischen Philosophie (Böhme, Baader, Schelling) au f d er anderen Seite.“ 1
Letztlich w ird fü r V ladim ir Solov'evs Menschenlehre ebenso wie fü r die östliche C hristenheit die chalcedonische Entscheidung bestim- mend, nach welcher Christus der Gottmensch ist m it einer Person und zwei N atu ren , d. h. m it einer göttlichen Person, einer göttlichen N a tu r und einer menschlichen N a tu r. In seinem W erk ״ La Russie et PEglise universelle“ (Paris 1889) bekennt sich Solov’ev zu dieser Entschei- dung, die 451 bei dem K onzil zu C halcedon durch P a p st Leo, den Nachfolger des heiligen Petrus, au f der christologischen Ebene fiel.2 Solov’ev äu ß ert hierzu, d aß es dabei um die wesentliche W ahrheit des Christentum s gegangen sei, nämlich um die W ah rh eit des G o t t - m e n s c h e n . P apst Leo habe d e r neuen monophysitischen Häresie, nach welcher n u r eine göttliche N a tu r in Christus a n e rk a n n t werden sollte, seine D arlegung des apostolischen Bekenntnisses entgegenge- stellt. In d er monophysitischen Lehre sieht S olov’ev eine versteckte V erneinung sowohl der O ffenbarung als auch d e r dauernden In k a r- nation; denn der B ehauptung zufolge, Jesus C hristus sei nach der