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Galilei, Torricelli, Stahl: Zur Wissenschaftsgeschichte der Physik in der B-Vorrede zu Kants Kritik der reinen Vernunft

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Galilei, Torricelli, Stahl

Zur Wissenschaftsgeschichte der Physik in der B-Vorrede zu Kants Kritik der reinen Vernunft

In: Kant-Studien

107. Jg. 2016, Heft 3, S. 451-484

DOI 10.1515/kant-2016-0034

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Jens Lemanski*

Galilei, Torricelli, Stahl –

Zur Wissenschaftsgeschichte der Physik in der B-Vorrede zu Kants Kritik der reinen Vernunft

DOI 10.1515/kant-2016-0034

Abstract: In the second preface to the Critique of Pure Reason, Kant claims that Galileo Galilei, Evangelista Torricelli and Georg Ernst Stahl caused a scientific revolution in experimental physics (B xii). In this paper, I advance the histori- cal thesis that Kantʼs claim refers precisely to three passages from Discursus et demonstrationes mathematicae (Galilei), Lettera a Filaleti Di Timauro Antiate (Torricelli), and Beweiß von den Saltzen (Stahl). This historical thesis provides evidence for a newer systematic interpretation, which says that the topic of the second preface is not epistemological, but rather methodological.

Keywords: history of science, philosophy of science, physics, chemistry, induc- tion, deduction, scientific revolution, experiment.

Die Publikationen der letzten Jahre belegen ein neues historisches Interesse an der Vorrede zur zweiten Auflage (der sog. B-Vorrede) von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Als Beispiel seien hier nur drei Studien erwähnt, die jeweils repräsentativ für einige Detailfragen und -probleme in Bezug auf die B-Vorrede stehen: 1) Shi-Hyong Kim hat darauf hingewiesen, dass die Erwähnungen Francis Bacons in der B-Vorrede größere Interpretationsschwierigkeiten im Detail aufwei- sen als bislang bekannt waren.¹ 2) Dieter Schönecker, Dennis Schulting, Niko Strobach haben darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht nur Interpretations- schwierigkeiten mit dem Satz aus der B-Vorrede gibt, der als sog. ‚kopernikani- sche Wende‘ bekannt geworden ist, sondern auch mit einer daran anknüpfenden

1 Vgl. Kim, Shi-Hyong: Bacon und Kant. Ein erkenntnistheoretischer Vergleich zwischen dem Novum organum und der Kritik der reinen Vernunft. Berlin u.  a. 2008, bes. 4, 8–30.

*Kontakt: Dr. Jens Lemanski, Fern Universität in Hagen, Institut für Philosophie, Universitäts- str. 33, D-58084 Hagen; jens.lemanski@fernuni-hagen.de

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Fußnote, in der Kant Kopernikus mit Newton kontrastiert.² 3) Alberto Vanzo hat erstmals die Begriffe des Versuchs und des Experiments bei Kant systematisch in Beziehung mit den Begriffen ‚Hypothese‘, ‚Gesetz‘ und ‚Prinzip‘ gebracht und diese historisch mit den entsprechenden Konzepten bei Francis Bacon, Robert Boyle und Robert Hooke verglichen.³

Obwohl Kant selbst nicht mit der B-Vorrede zufrieden gewesen sein konnte, da er bereits zur 3. Auflage der KrV (1790) eine neue Vorrede geplant hatte, zu deren Verschriftlichung es allerdings nie kam,⁴ so teilen dennoch alle genannten Studien (1, 2, 3) explizit oder implizit die Auffassung, dass die B-Vorrede zum Kanon der abendländischen Philosophie gehöre. Gleichzeitig teilen sie aber auch die Auffassung, dass es im Detail vielerlei Interpretationsprobleme gibt. Beson- ders die Referenzen auf Autoren wie Bacon, Kopernikus oder Newton erweisen sich in der B-Vorrede als problematisch, da zum einen mit den Namen auch immer bestimmte systematische Positionen in Verbindung gebracht werden, die aber zum anderen heutzutage aufgrund einer nur noch schwer abzuleistenden Lektüre der Originalschriften und deren Rezeptionsgeschichte bis 1787 kaum die von Kant in der B-Vorrede intendierte Anschaulichkeit und Verdeutlichung seiner eigenen Position erfüllen.

Auch in der Kantforschung wurde in den letzten Jahren verstärkt darauf aufmerksam gemacht, dass es in der B-Vorrede mehrere mit Eigennamen in Ver- bindung stehende Satzkookkurrenzen gibt, durch die Kant auf bestimmte Text- abschnitte historischer Autoren referiert (siehe unten, Kap. 1). Diese Erkenntnisse haben meine Vermutung bestärkt, dass eventuell alle mit Anthroponymen ver- sehenen Satzteile der B-Vorrede auf derart konkrete historische Textabschnitte hinweisen. Obwohl ich zwar an dieser Stelle keinen vollständigen Beweis für alle in der B-Vorrede genannten Personen erbringen kann, so möchte ich dennoch im Folgenden diese Hypothese anhand des bekannten Satzes zur Wissenschaftsge- schichte der Physik aus der B-Vorrede überprüfen, in dem nacheinander Galileo Galilei, Evangelista Torricelli und Georg Ernst Stahl erwähnt werden (d. i. KrV, B XIIf.).⁵

2 Vgl. Schönecker, Dieter, Schulting, Dennis und Strobach, Niko: „Kants Kopernikanisch-Newto- nische Analogie“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011 (4), 497–518.

3 Vgl. Vanzo, Alberto: „Kant on Experiment“. In: Rationis Defensor. Essays in Honour of Colin Cheyne. Hrsg. von James Maclaurin. Dordrecht 2012, 75–96.

4 Vgl. Förster, Eckart: „Die Vorreden“. In: Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Georg Mohr und Marcus Willaschek. Berlin u.  a. 1998, 37–57, hier: 38.

5 Um meine Paraphrasen und Interpretationen von einzelnen Satzteilen und begrifflichen Wen- dungen genau belegen zu können, sind im Folgenden auch die Seiten- und Zeilenangaben der Akademie-Ausgabe zur KrV (AA 03) genannt.

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Die Überprüfung meiner Hypothese dient nicht allein dem historischen Nachweis, dass Kant direkt auf bestimmte Textabschnitte der genannten Autoren anspielt, sondern steht auch systematisch im Zusammenhang mit einer Neu interpretation der B-Vorrede, die vor allem von Reinhard Brandt begrün- det wurde.⁶ Ganz allgemein lassen sich drei Interpretationsarten der B-Vor- rede benennen: (a) Eine erkenntnistheoretische Interpretation, die bspw. von B. Russell, M. Miles, L. M. Palmer u.  a. vertreten wurde, und die den Fokus auf die Unterscheidung ‚Erscheinung/Ding an sich‘ bzw. ‚Subjekt/Objekt‘ legt; (b) eine hermeneutische Interpretation, die bes. von F. Kaulbach und ferner V. Gerhardt begründet wurde, und die in der B-Vorrede vor allem das Problempaar ‚Freiheit/

Notwendigkeit‘ sieht; (c) eine wissenschaftstheoretische bzw. -geschichtliche Interpretation, zu der man u.  a. Interpreten wie N. R. Hanson oder R. Brandt zählen kann. Diese Neuinterpretation (c) besagt, dass die B-Vorrede nicht primär ein erkenntnistheoretisches Thema verfolgt, sondern ein wissenschaftstheore- tisches bzw. methodologisches Thema behandelt. Zu diesem historisch-syste- matischen Zweck skizziere ich zunächst in Kapitel 1 die allgemeine Beziehung zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in der B-Vorrede und zeige dann (Kap. 2) am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte der Physik, dass Kant diese durch konkrete Anspielungen auf historische Texte von Galilei (2.1), Torricelli (2.2) und Stahl (2.3) zu illustrieren versucht. In einem abschließen- den Fazit (Kap. 3) resümiere ich kurz die Ergebnisse dieser Studie und skizziere weitere Probleme und Fragestellungen der B-Vorrede, die mit den Resultaten der vorliegenden Studie einher gehen.

1  Wissenschaftstheorie und Wissenschafts- geschichte in der B-Vorrede

Die allgemeine Struktur der Anfangspassagen der B-Vorrede ist folgende: In Absatz  1 skizziert Kant seine gesamte Wissenschaftstheorie,⁷ in den folgen- den Absätzen überprüft er diese Wissenschaftstheorie an der Wissenschafts- geschichte.⁸ Diese Wissenschaftsgeschichte beginnt in Absatz 2 mit der Logik.⁹ Daraufhin kündigt Kant die Überprüfung seiner Theorie in Absatz 5 an der Wis-

6 Vgl. bes. Brandt, Reinhard: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007.

7 Vgl. KrV, B VII (AA 03: 07.02–14).

8 Vgl. KrV, B VIII–XV (AA 03: 07.15–11.20).

9 Vgl. KrV, B VIII–X (AA 03: 07.15–09.02).

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senschaftsgeschichte der Mathematik und Physik an,¹⁰ bespricht zunächst die Mathematik (Absatz 6),¹¹ dann die Physik (Absatz 7 und 8)¹² und kommt inner- halb seiner Wissenschaftsgeschichte zuletzt auf die Metaphysik zu sprechen (Absatz 9).¹³

Im Detail lassen sich diese Absätze wissenschaftsphilosophisch wie folgt interpretieren: In dem ersten Absatz, der die Wissenschaftstheorie skizziert, verwendet Kant das antike Bild eines Y-förmigen Scheideweges bzw. „Triho- dos“ (τρίοδος)¹⁴, um den Erfolg oder Misserfolg einer Wissenschaft zu bestim- men.¹⁵ Erfolgreiche Wissenschaften zeichnen sich dadurch aus, den „sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen“ zu haben.¹⁶ Nicht erfolgreich ist eine Wissenschaft dann, wenn sie einen anderen Weg geht, auf dem sie „in Stecken geräth“¹⁷. Kants Prämisse in beiden Vorreden lautet, dass es viele Wege gibt, die ins Stecken geraten, aber immer ein Weg übrig bleiben muss, welcher Erfolg ver- spricht.¹⁸ Insofern muss eine ins Stecken geratene Wissenschaft „zurückgehen und einen andern Weg einschlagen“¹⁹ – und zwar so lange, bis der richtige Weg gefunden wurde. Besonders Kants Charakterisierung der nicht erfolgreichen Wissenschaft impliziert nicht nur das Bild des Scheideweges, sondern trägt auch die Züge des mit diesem Bild eng verknüpften antiken methodologischen Drei- schrittes ‚1) Aporie, 2) Krise, 3) Methode‘, den man sowohl in einer herodotischen als auch in einer pyrrhonischen Variante findet: Herodot erklärt bspw., dass es vorkommen kann, dass man in einem Geflecht aus Seestraßen (Trihodoi) den fal- schen Weg nimmt, so dass man mehrfach 1) ins Stecken gerät (ἀ-πορία), 2) sich entscheidet, zurückzufahren (κρίσις) und 3) einen anderen Weg einschlägt (μέθ- οδος),²⁰ Kant könnte aber auch auf die pyrrhonische Szene anspielen, die heute

10 Vgl. KrV, B X (AA 03: 09.03–06).

11 Vgl. KrV, B X–XII (AA 03: 09.07–36).

12 Vgl. KrV, B XII–XIV (AA 03: 10.01–34).

13 Vgl. KrV, B XIV  f. (AA 03: 11.01–20).

14 Vgl. Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Den- kens bei den Griechen. 3. durchges.  u. erw. Aufl. Hamburg 1955, 322–330; Harbach, Andrea: Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur. Heidelberg 2010, bes. 95–134.

15 Vgl. KrV, B VII (AA 03: 07.04): „aus dem Erfolg beurtheilen“.

16 KrV, B VII (AA 03: 07.03; 07.10  f.).

17 KrV, B VII (AA 03: 07.05).

18 Vgl. KrV, A X (AA 04: 08.22  f.), A XII (09.17), B VII (AA 03: 07.12  f.).

19 KrV, B VII (AA 03: 07.06  f.).

20 Vgl. bspw. Hdt. Hist. IV 179; ferner: I 75; I 79. – Vgl. dazu Fleischhauer, Thomas: „Das Bild des Weges in der antiken griechischen Literatur. Drei Streiflichter“. In: Symbolik von Weg und Reise.

Hrsg. von Paul Michel. Bern u.  a. 1992, 1–17.

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unter dem Stichwort „Chrysippus’s Dog“ bekannt ist.²¹ Ein jagender Hund kommt 1) an einen Trihodos (Aporie) und nachdem er das Wild auf zwei Wegen nicht auf- spüren konnte, 2) entscheidet er sich scheinbar intuitiv (Krise), den dritten Weg zu nehmen, 3) welcher der richtige sein muss (Methode).²²

Ab dem zweiten Abschnitt illustriert Kant diese durch die Scheidewege veranschaulichte Methodologie an der Wissenschaftsgeschichte und erklärt zunächst, dass „die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten Zeiten her gegangen“²³ und dass sie seit Aristoteles kaum verändert worden sei. Die Mathe- matik ist zwar bereits seit den „Griechen den sichern Weg einer Wissenschaft gegangen“²⁴, allerdings gab es zur Zeit der Ägypter nur ein „Herumtappen“²⁵, d.  h. keine sichere Wissenschaft. Die Tatsache, dass es eine „Revolution“ der Wis- senschaft gegeben hat, die die Wissenschaft vom unsicheren zum sicheren Weg gebracht hat, erfolgte dadurch, dass wohl Thales der „glückliche Einfall“ kam;²⁶ ihm „ging ein Licht auf“,²⁷

denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte, (durch Construction) hervorbringen müsse […].²⁸

Wenn wir davon ausgehen, dass in diesem Zitat die Revolution des Thales, also vom unsicheren zum sicheren Weg, in concreto ausgedrückt wird, so finden wir jeweils eine Charakterisierung beider Wege. Der unerfolgreiche Weg besteht darin, von der Figur oder deren Begriff etwas ‚abzulernen‘, diesen ‚nachzuspü- ren‘. Der erfolgreiche Weg besteht darin, ‚durch Konstruktion hervorzubringen‘.

21 Vgl. Sext. Pyrrh. I 69. – Vgl. dazu bspw. Sorabji, Richard: Animal Minds and Human Morals.

The Origins of the Western Debate. Ithaca, N. Y. 1995, 21  ff.

22 Die Entscheidung (Krise) ist nur ‚scheinbar intuitiv‘, denn nach Kants eigener Terminologie dürfte dieser Hund wohl zu einem disjunktiven Vernunftschluss per modum tollentem fähig sein (vgl. Log, AA 09: 130.01–05).

23 KrV, B VII (AA 03: 07.15  f.).

24 KrV, B X (AA 03: 09.09).

25 KrV, B XI (AA 03: 09.13). Kant bezieht sich hier wahrscheinlich auf den palpatio-Begriff bei Francis Bacon (vgl. Kambartel, Friedrich: Erfahrung und Struktur. Bausteine einer Kritik des Empi- rismus und Formalismus. Frankfurt a. M. 1968, 78  f.).

26 Eckhart Förster („Die Vorreden“. In: Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Georg Mohr und Marcus Willaschek. Berlin 1998, 37–57) bestätigt mehrere syntaktische Anspie- lungen Kants auf Bacon und erklärt, dass sich die Thales-Textstelle der B-Vorrede auf Diog. Laert.

I 24 bezieht.

27 KrV, B XI–XII (AA 03: 09.15–30).

28 KrV, B XI–XII (AA 03: 09.30–34).

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Anders gesagt: Der unsichere Weg ist impressiv, der sichere Weg expressiv; der unsichere Weg hebt von der Erscheinung (‚Figur‘) oder dessen Begriff a posteriori an; der sichere Weg entspringt a priori aus dem ‚Selbst‘, von der menschlichen Konstruktion und dem Hervorbringen. Thales revolutionierte die Mathematik, indem er die sichere Deduktionsmethode an die Stelle der unsicheren Induk- tions methode setzte.²⁹ Anstelle des schon bei Bacon oder Descartes ähnlich ver- wendeten Begriffspaars ‚Induktion/Deduktion‘ könnte man auch moderner die Methodenbegriffe ‚data-driven/theory-driven‘ verwenden.³⁰

Genau diese Behauptung finden wir auch in dem darauffolgenden Abschnitt über die Physik. Im Vergleich zur Logik und Mathematik ging es „[m]it der Natur- wissenschaft […] weit langsamer zu, bis sie den Heeresweg der Wissenschaft traf“,³¹ da Francis Bacon den sicheren Gang „theils veranlaßte, theils, da man bereits auf der Spur derselben war, mehr belebte“.³² Welche „Spur“ Kant hier meint, kann der Leser an dieser Textstelle noch nicht wissen, da ein inhaltlicher oder sprachlicher Bezugspunkt bislang fehlt. Kant kommt dann aber auf Galilei, Torricelli und Stahl zu sprechen (siehe unten, Kap. 2), die den sicheren Gang einer Wissenschaft getroffen hätten. Die Kennzeichen für diesen sicheren Weg der Physik sind dieselben wie in der Mathematik: Kant spricht wieder davon, dass ihnen ‚ein Licht aufging‘, ein „Einfalle“ geschah,³³ wodurch die „Revolu-

29 Vgl. bspw. Trudeau, Richard J.: Die geometrische Revolution. 2. überarb. Aufl. Basel u.  a. 1998, 1–7. Die hier und im Folgenden benutzen Begriffe ‚Induktion‘ und ‚Deduktion‘ beziehen sich nicht auf den Begriffsgebrauch, wie man ihn in der KrV findet, sondern auf die in der Neuzeit durch bes. Bacon (bspw. Nov. Org. I, 19 u. 104) und Descartes (bspw. Regulae I–XI) konnotierten Bedeutungen. Vereinfacht gesagt: Die Induktion geht (1) bottom-up von der Empirie, Erfahrung und den Tatsachen oder Daten aus und stellt dann (2) die Theorie, Grundsätze oder Hypothe- sen auf; die Deduktion verläuft hingegen top-down in umgekehrter Reihenfolge, also von (2) zu (1). Kant selbst verwendet zwar die Methodenbegriffe ‚analytisch/synthetisch‘, allerdings ist mir eine Studie zur genauen Bedeutung und Verwendungsweise dieses Begriffspaars nicht bekannt.

Darüber hinaus zeigt die aktuelle begriffsgeschichtliche Untersuchung von Wohlers, Christian:

Einleitung. In: Descartes, René: Entwurf der Methode. Hamburg 2013, bes. XXVI–LXIII, dass das Begriffspaar ‚analytisch/synthetisch‘ zwar einerseits häufig in der Geschichte mit induktiv/

deduktiv gleichgesetzt wurde, andererseits aber ‚analytisch/synthetisch‘ keine so durchgängig bestimmte methodische Semantik aufweist wie ‚induktiv/deduktiv‘.

30 Zur systematischen Verwendungsweise und Gleichsetzung von ‚data-driven/theory-driven‘

mit ‚induktiv/deduktiv‘ in der modernen Wissenschaftstheorie und dessen historische Anknüp- fung vgl. bspw. Mainzer, Klaus: Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data. Mün- chen 2014, bes. 19, 269  ff.; Brigitte Falkenburg: Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Berlin u.  a. 2012, bes. 57  ff.

31 KrV, B XII (AA 03: 10.01  f.).

32 KrV, B XII (AA 03: 10.04  f.).

33 KrV, B XIII (AA 03: 10.14, 10.29).

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tion der Denkart“³⁴ ausgelöst wurde. Auch die Charakteristika der erfolgreichen Wissenschaft sind wieder deduktiv (theory-driven bzw. hypotheses-driven), die der nicht-erfolgreichen Wissenschaft dagegen induktiv (data-driven): Denn der Physiker soll sich nicht von der Natur „nöthigen“ oder am „Leitbande gängeln lassen“,³⁵ Vielmehr müsse er mit einem „vorher entworfenen Plane“, mit „Princi- pien“ und „Experiment […] an die Natur gehen“.³⁶

Während nun Logik, Mathematik und Physik Wissenschaften waren, die es früher oder später geschafft haben, einen sicheren Gang der Wissenschaften ein- zuschlagen, so ist die Metaphysik hingegen ein Beispiel für eine Wissenschaft, die „continuirlich in Stecken“ gerät und deren Verfahren „ein bloßes Herumtap- pen […] gewesen sei“.³⁷ Mit dieser Feststellung schließt Kant zwar nicht seine Wis- senschaftsgeschichte ab, da man mindestens die Erwähnungen von Kopernikus noch zu dieser hinzuzählen muss, aber Kant wechselt nun in den Absätzen über die Metaphysik die Perspektive: Denn er benutzt die Faktizität der erfolgreichen Wissenschaftsgeschichte, um daraus eine Normativität für die bislang noch nicht erfolgreiche Metaphysik abzuleiten. Die erfolgreiche Wissenschaftsgeschichte der Logik, Mathematik und Physik wird zum nachahmenswerten Beispiel für eine mögliche neue Wissenschaftszukunft der Metaphysik. Interessant ist dabei, dass Kant nun nicht mehr auf Aristoteles, Thales, Bacon, Galilei, Torricelli und Stahl zurückgreift, sondern mit Kopernikus eine neue Person aus der Wissenschafts- geschichte der Physik heranzieht.

Der einschlägige Satz, der als ‚kopernikanische Wende‘ bekannt geworden ist, scheint syntaktisch eine übersetzte Parallelkonstruktion zu einem zentralen Satz aus Bacons ‚Praefatio‘ zur Instauratio Magna (bekanntlich zitierte Kant diese als Motto für die B-Vorrede) zu sein, in dem Bacon selbst einen Methodenwechsel von der Deduktion zur Induktion ankündigt.³⁸ Viel aufschlussreicher als diese syntaktische Parallele ist aber, dass Kant semantisch eindeutig mit den unge- wöhnlichen Metaphern ‚Sternenheer‘ und ‚Zuschauer‘ auf eine um 1780 popu- läre Textstelle aus Johann Heinrich Lamberts Cosmologischen Briefen anspielt.³⁹

34 KrV, XII (AA 03: 10.06), B XIII (AA 03: 10.28  f.).

35 KrV, B XIII (AA 03: 10.17  f.).

36 KrV, B XIII (AA 03: 10.19  f., 10.21–24).

37 KrV, B XII–XIII (AA 03: 11.09, 11.19).

38  Bacon: Distributio Operis Kant: B-Vorrede

Adhuc enim res ita geri consuevit; ut Bisher nahm man an, alle unsere Erfahrung asensu et particularibus primo loco ad müsse sich nach den Gegenständen richten;

maxime generalia advoletur […]. […].

39 Vgl. die ausführliche Darstellung in Lemanski, Jens: „Die Königin der Revolution. Zur Ret- tung und Erhaltung der Kopernikanischen Wende“. In: Kant-Studien 103, 2012, 448–472.

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Lambert, der Kants Metaphorik von ‚Sternenheer‘ und ‚Zuschauer‘ bekannt gemacht hatte, bezieht sich dort nicht primär auf den Wechsel vom Geo- zum Heliozentrismus, sondern fasst populärwissenschaftlich die Methodenrevolution in der Astronomie zusammen, wie man sie in den ersten 9 Kapiteln von Koper- nikus‘ De revolutionibus vorfindet: Das seit der Antike bestehende Problem der Retrogradationen habe Kopernikus dazu veranlasst, von der induktiv vorgehen- den aristotelisch-ptolemäischen Sternenkatalogisierung (data-driven)⁴⁰ zur theo- rie geleiteten Hypothesendeduktion überzugehen (theory-driven).⁴¹ Nach Kants Meinung in der B-Vorrede wurden die Hypothese und deren Ableitungen des Kopernikus aber erst mit Newtons Zentralgesetzen verifiziert.⁴²

Mit diesen Versatzstücken lässt sich nun auch Kants Wissenschaftsgeschichte der Physik in der B-Vorrede chronologisch sinnvoll rekonstruieren: Kopernikus war der erste, der diese Methodenrevolution vollführte, ohne sie aber wissen- schaftstheoretisch zu reflektieren. Erst die Methodenrevolution in der Astrono- mie führte zu einer Inhaltsrevolution, d.  h. der methodische Wechsel von der Induktion zur Deduktion resultierte in der inhaltlichen Neubestimmung weg vom Geo- und hin zum Heliozentrismus; Bacon nahm nun diese methodische „Spur“

von Kopernikus auf und „belebte“ durch seine theoretischen Reflektionen diese Methodenentdeckung, die Kant dann an der „schnell vorgegangene[n] Revolu- tion der Denkart“ bei Galilei, Torricelli und Stahl noch einmal zu belegen und zu veranschaulichen versucht.

40 Zur historischen datenorientierten Sternenkatalogisierung vgl. Blumenberg, Hans: Lebens- zeit und Weltzeit. Frankfurt a. M., 2001, 99–141. Noch im heutigen Big-Data-Zeitalter wird die datenorientierte Induktion in der Astronomie mit ihren historischen Vorläufern in Verbindung gebracht, vgl. bspw. Alexander S. Szalay u.  a.: „Designing and Mining Multi-Terabyte Astronomy Archives. The Sloan Digital Sky Survey“. In: Proceedings of the 2000, 451–462; Eastman, Timothy E.: „The Observational-Inductive Framework for Science“. In: AIP Conference Proceedings 822, 2006, 166–170.

41 Vgl. Lambert, Johann Heinrich: Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues.

Augspurg [= Augsburg], 1761, 280 [Hervorh. v. mir]: „Die einfache Ordnung ist die scheinbare [sc. am Firmament]. In der That, was kann ordentlicher scheinen, als der tägliche Umlauf, Auf- und Untergang der Sonne und jeder Fixsterne. Mit einem male dreht sich der ganze Himmel um die Erde herum, und des Nachts scheint der Mond der Anführer des ganzen Sternenheeres zu seyn. Läßt man sich Zeit und Weile, dieser Scene genauer nachzuschauen, so fangen kleine Abweichungen an, sich herfür zu thun. Der Mond wandelt von Stern zu Stern rückwärts, und die Planeten fangen auch an, zu zeigen, daß sie ihrem eigenen Sinne folgen, so sehr sie auch der allgemeine Strom mit sich fortreißt. Diese Unordnung zu heben, fängt der Zuschauer an, Copernicanisch zu denken, und bringt Planeten und Cometen in eine solche Ordnung, die nicht auserlesener seyn könnte.“

42 Vgl. dazu die ausführlichere Darstellung von Kim, Shi-Hyong: Bacon und Kant, 12, 23, 24, 258, 262.

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2  Kants Wissenschaftsgeschichte der Physik

Halten wir kurz fest: Die Logik war spätestens seit Aristoteles eine sichere Wis- senschaft, die Mathematik wurde es durch Thales, die Revolution der Naturwis- senschaft erfolgte anfangs unreflektiert durch Kopernikus, dann reflektiert durch Bacon, so dass Galilei, Torricelli und Stahl praktisch dasselbe für die Mechanik, Hydraulik und Chemie leisten konnten wie Kopernikus für die Astronomie; zudem war es chronologisch möglich, dass Galilei, Torricelli und Stahl durch Bacons reflektierte Wissenschaftstheorie motiviert wurden. Obwohl wir nun aufgrund der Chronologie (Kopernikus, Bacon, Galilei etc.) schon sagen können, was Kant (im 7. Abschnitt der B-Vorrede) bei Bacon mit „Spur“ meinte – nämlich die nur praktisch umgesetzte, nicht wissenschaftstheoretisch reflektiere Methodenrevo- lution bei Kopernikus –, so bleiben dennoch viele weitere Fragen offen: Warum werden ausgerechnet diese Personen (Galilei, Torricelli, Stahl) für die Physik genannt? Gerade der heutige Wissenschaftshistoriker muss sich wundern: Warum nennt Kant 1787 nicht Otto von Guericke anstelle von Torricelli oder Lavoisier anstelle von Stahl, da jene eine z.  T. viel wegweisendere Position innerhalb der Geschichte der Naturwissenschaften einnehmen und Kant – wie wir gleich noch sehen werden – die Leistungen beider bereits in anderen Schriften vor 1787 gewür- digt hat?

Ich glaube in der folgenden Untersuchung zwei Hauptgründe für Kants

‚eigenwilliges‘ Vorgehen in der Wissenschaftsgeschichte der Physik angeben zu können: Erstens scheint mir, dass für Kants Nennung der drei Naturforscher, ebenso wie bei Kopernikus, nicht allein die jeweilige Entdeckung oder Erfin- dung ausschlaggebend war, sondern die jeweils deduktive und experimentelle Methode (hypothesis-driven), mit Hilfe derer die drei Naturforscher und Koper- nikus überhaupt ihre Wissenschaft revolutionierten. Zweitens glaube ich, dass Kant sich in dem einschlägigen Satz auf bestimmte Textpassagen aus den Werken Galileis, Torricellis und Stahls bezieht, die diese experimentell-deduktive Metho- dologie versinnbildlichen. Bevor im Folgenden chronologisch diese Textstellen bei Galilei, Torricelli und Stahl dargestellt und auf ihre Methodologie hin analy- siert werden sollen, muss hier noch der einschlägige Galilei-Torricelli-Stahl-Satz (im Folgenden GTS-Satz) bei Kant im Ganzen angeführt werden:

Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab:*) so ging allen Naturforschern ein Licht auf. [Anm: *) Ich folge hier nicht

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genau dem Faden der Geschichte der Experimentalmethode, deren erste Anfänge auch nicht wohl bekannt sind.]⁴³

Es sei zudem darauf hingewiesen, dass wir in den Negativen Größen (1763) eine Art Parallelsatz zum einschlägigen Zitat der KrV finden, der für die folgenden Untersuchungen nicht unwichtig sein wird:

Die schiefe Fläche des Galilei, der Perpendikel des Huygens, die Quecksilberröhre des Torri- celli, die Luftpumpe des Otto Guericke und das gläserne Prisma des Newton haben uns den Schlüssel zu großen Naturgeheimnissen gegeben.⁴⁴

2.1 Galilei

Galileis Kugelexperiment gilt als weitestgehend bekannt, obwohl moderne Wis- senschaftsgeschichten dieses selten aus Originalquellen rekonstruieren, sondern meistens aus bekannten Geschichtsdarstellungen tradieren. In Hinblick auf unsere Hypothese, dass Kant sich in dem GTS-Satz auf ganz bestimmte Textstel- len der genannten Autoren bezieht, ist es ein Versuch Wert, die entsprechende Textstelle bei Galilei mittels der einschlägigen Begriffe aus dem GTS-Satz zu finden (Kugeln, schiefe Fläche, selbst gewählte Schwere, herabrollen). Auffäl- lig an Kants Formulierung ist zunächst die sowohl in der KrV als auch in den Negativen Größen vorkommende Kollokation „schiefe Fläche“, die sich zwar für den Galilei-Kenner semantisch sinnvoll zuordnen lässt, aber im 18. Jahrhundert als Ausdruck nicht allein in die Begriffssphäre der Mechanik subsumiert werden muss.

Schlägt man nun bspw. in Christian Wolffs Mathematischem Lexicon nach, so stößt man unter dem Schlagwort „Schiefliegende Flaͤche“ auf den lateinischen Ausdruck „planum inclinatum“.⁴⁵ Obwohl der lateinische Ausdruck als termi- nus technicus eindeutig eine einfache Maschine (heute meist: ‚schiefe Ebene‘) bezeichnet, die zu den ältesten Erfindungen der Menschheit gehört, verweist Wolff in seinem kurzen Artikel explizit auf „Galilæus […] Dialogo de Motu“⁴⁶ als

43 KrV, B XII–XIII (AA 03: 10.09–14).

44 NG, AA 02: 188.03–06.

45 Zur Geschichte der schiefen Ebene vgl. bspw. Roux, Sophie, Festa, Egidio: „The Enigma of the Inclined Plane from Heron to Galilei“. In: Mechanics and Natural Philosophy Before the Scientific Revolution. Hrsg. von Walter Roy Laird und Sophie Roux. Dordrecht 2008, 195–221.

46 Wolff, Christian: „Schiefliegende Flaͤche“ (Art.). In: Vollständiges Mathematisches Lexi- con, […] Erster Theil. Leipzig 1747, Sp. 1157  f.

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ausgezeichnete Referenz, also auf das dritte Colloquium aus Galileis Discorsi e dimostrazioni matematiche. Da auch Kant an mehreren Stellen im Gesamtwerk zum Begriff „schiefe Fläche“ den lateinischen Ausdruck „planum inclinatum“

hinzusetzt,⁴⁷ deutet dies darauf hin, dass Kant den deutschen Ausdruck eindeu- tig im technischen Sinne verstanden wissen will und dass dieser eine eigenwil- lige Übersetzung des lateinischen Fachterminus darstellt.

Sucht man zudem in Arthur Wardas Verzeichnis der Bücher Kants nach Schriften Galileis, so findet man in Abschn. V, Nr. 11 folgenden Besitzvermerk:

Galilaei Galilaei, systema cosmicum. Accessit altera hac editione […] ejusdem tractatus de motu. […] Lugduni Batavorum. 1699. Ejusdem discursus et demonstrations mathematicae circa duas novas scientias pertinentes ad mechanicam et motum localem. […] Lvgdvni Bata- vorvm. 1699.⁴⁸

Aufgrund dieses Besitzvermerks können wir zwei Fakten als gesichert ansehen:

1) Kant hat die zwei Hauptwerke Galileis Dialogo sopra i due massimi sistemi (1632) und die Discorsi e dimostrazioni matematiche (1638) besessen und konnte somit zumindest die in zeitgenössischen Sekundärschriften vorhandenen Infor- mationen zu Galilei mit den Originalschriften abgleichen; 2) Allerdings sind mit

‚Originalschriften‘ die lateinischen Übersetzungen der genannten italienischen Werke gemeint. Daraus lässt sich nun folgern: Wenn sich bei Kant eigenwillige deutsche Übersetzungen lateinischer Fachtermini Galileis finden (wie „planum inclinatum“, „schiefe Fläche“), und wenn Kant auch nachweislich privaten Zugriff auf die lateinischen Übersetzungen der Originalschriften Galileis hatte, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Kant eine eigenständige Galilei- Interpretation auf Grundlage der beiden genannten Hauptwerken angestrebt hat und dass der Galilei-Satz bei GTS nicht eine deutschsprachige Sekundärquelle referiert. Wenn zudem der GTS-Satz nicht auf eine deutschsprachige Sekundär- literatur, sondern auf die lateinischen Übersetzungen der Galileiwerke hindeutet, so scheint es sinnvoll zu sein, Wolffs Referenz auf die Discorsi III als mögliche Quelle für den GTS-Satz nachzugehen.

In den von Wolff genannten Discursus III wird man auch hinsichtlich der von Kant angedeuteten revolutionären Rolle Galileis sofort fündig. Galilei selbst kündigt nämlich bereits in der Einleitung zum Colloquium de motu locali seine wissenschaftlich revolutionäre Leistung an:

47 Vgl. bspw. OP, AA 22: 198.08  f., 245.11  f.

48 Die genannten Galilei-Ausgaben werden auch hier als Quellen verwendet.

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Über den ältesten Untersuchungs- gegenstand bringen wir die neuste Wissenschaft. Vielleicht ist nichts älter in der Natur als die Bewegung, und über diese werden weder wenige noch kleine Schriften der Philosophen vorgefunden. Nichtsdestotrotz habe ich deren Eigenschaften, in großer Menge und davon durchaus wissens- werte, welche aber bislang weder ent- deckt und auch noch nicht bewiesen wurden, in Erfahrung gebracht. Einige leichtere werden angegeben: wie zum Beispiel, dass die natürliche Bewe- gung fallender schwerer Körper eine kontinuierlich beschleunigte sei. Aber in welchem Verhältnis diese Beschleu- nigung geschieht, ist bisher nicht ver- raten worden; denn soviel ich weiß, hat niemand bewiesen, dass die Stre- cken in gleichen Zeiten von fallenden Körpern aus der Ruhe zu einander in demselben Verhältnis stehen wie der Fortgang ungerader Zahlen beginnend mit der Eins.

De subjecto vetustissimo novissimam promovemus scientiam. Motu nil forte antiquius in Natura; & circa eum volu- mina nec pauca, nec parva à Philoso- phis conscripta reperiuntur, Sympro- matum tamen, quæ complura, & scitu digna insunt in eo adhuc inobservata, nec dum indemonstrata comperio.

Leviora quædam adnotantur: ut gratia exempli, naturalem motum gravium descendentium continue accelerari.

Verum juxta quam proportionem ejus fiat acceleratio, proditum hucusque non est: nullus enim, quod sciam, demonstravit, spatia à mobili descen- dente ex quiete peracta in temporibus æqualibus eam inter se retinere ratio- nem, quam habent numeri impares ab unitate consequentes.⁴⁹

Im Unterschied zum ersten Buch des Systema cosmicum, in dem bereits ebenfalls Bewegungsgesetze ausführlicher diskutiert wurden, zeigen die Discursus, dass der Prozess der Inquisition gegen Galilei und sein Hausarrest nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sind: In der kosmologischen Abhandlung hatte sich nämlich Galilei nicht davor gescheut, die Irrtümer des Aristoteles auch hinsichtlich der Fallgesetze explizit zu benennen. Hier, in den Discursus, wird hingegen die Aus- einandersetzung Galileis mit Aristoteles nur angedeutet: Das älteste Thema wird mit neuester Wissenschaft revolutioniert. Aristoteles hatte behauptet, dass die Schwere eines Körpers die Geschwindigkeit seiner natürlichen Bewegung beein- flusse und dass ein Körper in seiner natürlichen Bewegung sofort seine von der Schwere abhängige Maximalgeschwindigkeit erreiche, was eine konstante Fall-

49 Galilei, Galileo: Discursus, 135.

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geschwindigkeit impliziert (vgl. Phys. IV 8, 216a13  ff.). Simplicius, der Aristote- liker der galileischen Dialoge, weist mehrfach darauf hin, dass Aristoteles diese und andere naturwissenschaftliche Theorien aus der sinnlichen Gewissheit alltäglicher Beobachtungen entnommen habe und es in der Physik nicht nötig sei, derartige Theoreme mit mathematischer Strenge (accuratio Geometrica) zu beweisen.⁵⁰ Dagegen setzt Galilei bzw. seine Dialogfigur Salviati seine experi- mentelle Methode, mit deren Hilfe er die Richtigkeit der Fallgesetztheorien, die bislang „weder entdeckt und auch noch nicht bewiesen wurden“, in den Dis cursus überprüft. Kant hatte aufgrund der zitierten Eingangspassage jegliches Recht, Galilei als Revolutionär der naturwissenschaftlichen Denkart und Methode in seine Wissenschaftsgeschichte zu integrieren.

Dass Galilei aber mit seiner Methoden- auch eine Inhaltsrevolution der Physik bewirken konnte, deutet dieser in dem zitierten Beispiel an: Galilei setzt nicht nur anstelle der kontinuierlichen Fallgeschwindigkeit eine kontinuierliche Fallbeschleunigung (continue accelerari) schwerer Körper, sondern bestimmt diese sogar genau durch den Vergleich eines „Fortgangs ungerader Zahlen begin- nend mit der Eins“ (numeri impares ab unitate consequentes). Diese numerische Progression finden wir dann tatsächlich konkret ausgedrückt im Corollarium I des zweiten Teils der Discursus III. Galilei folgert dort aus den vorhergehenden Bestimmungen, dass sich vom Ruhepunkt der Bewegung aus die Fallstrecken in gleichen Zeiten verhalten wie „die Reihe der ungeraden Zahlen beginnend mit der Eins, d.  h. wie 1, 3, 5, 7“ (ut numeri impares ab unitate, scilicet ut 1, 3, 5, 7).⁵¹ Simplicius, der Aristoteliker des Dialoges, ist über diese neueste wissen- schaftliche Entdeckung verwundert, fordert aber, um überzeugt zu werden, einen Versuch (experientia).⁵² Salviati entgegnet Simplicius mit einem kurzen wissen- schaftstheoretischen Exkurs, in dem er betont, dass fast alle „Wissenschaften ihre Prinzipien durch sinnliche Experimente bestätigen“ (sensibilius experientiis sua principia confirmant); und mittels dieser möglichst oft (quam sæpissime) wie- derholten Experimente werde er den „Eingang und das bisher den spekulativen Geistern verschlossene Tor öffnen“ (ingressum, & occlusam hucusque portam specalutavis aperuisse sufficit ingeniis).

50 Vgl. bspw. Galilei, Galileo: Systema cosmicum I, 7; 24  ff. Simplicius beruft sich dabei auf Arist.

Met. 995a14  ff.; De gen. anim. 760b31  ff.

51 Galilei, Galileo: Discursus, 155.

52 Dieses und die folgenden Zitate beziehen sich auf Galilei, Galileo: Discursus, 157.

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Auf einer Leiste, oder eher auf einem kleinen Balken von 12 Ellen Länge, der eine Breite von einer halben Elle und eine Dicke von drei Finger hatte, war auf dieser schmalen Seite ein Kanal von etwas mehr als einem Finger Breite ausgehöhlt. Dieselbe war sehr gerade gezogen, und um sie gut poliert und glatt zu haben, war darin eine mög- lichst glatte und polierte Membrane befestigt; in diesem Kanal wurde eine sehr harte, gut gerundete und polierte Bronzekugel herabgeschickt. Nach Aufstellung der Leiste, indem diese eine und dann zwei Ellen gehoben wurde, wurde die Kugel (wie gesagt) durch den Kanal herabgeschickt und wir notierten die Laufzeit für die ganze Strecke in der hier beschriebenen Weise: wir wiederholten diese Aktion häufig, um über die Quantität der Zeit größere Gewissheit zu erlangen, und fanden gar keine Differenz, nicht einmal die eines Zehntels eines Puls- schlags.

In linea quadam aut potius trabe- cula lignea duodecim circiter cubitos longa, cujus unum latus dimidii cubiti, alterum veto trium digitorum habebat latitudinem, in minori hac latitudine canaliculus excavatus erat paulo latior uno digito; quam rectis- sime protractus, & cui, ut bene politus esset & lævis, intus adglutinata erat membrana, quantum fieri potest lævi- gata & polita. In hoc ad descensum demittebatur durissima pila ænea bene rotunda & polita. Constituta jam dicta regula, eaque supra planum horizontale uno aut duobus, ad arbi- trium, elevata cubitis, ad descensum (ut dixi) dimittebamus istam pilam, eo quo postea dicemus modo, tempus notantes quod ei toti transcurrendæ impendebat: & eundem sæpe repe- tebamus actum, ut de temporis quan- titate quam maxime essemus certi: in quo nulla unquam deprehendebatur differentia, imo ne decimæ quidem partis unius ictus pulsus.⁵³

Galilei bzw. Salviati führt diesen Versuch im Folgenden noch weiter aus und erklärt, dass das Kugelexperiment die Bestätigung für das im Corollarium I ange- gebene Verhältnis ist, das in der oben zitierten Einleitung zu den Discursus III als Beispiel der revolutionären Leistung herausgestellt wurde. Kant dürfte daher in der B-Vorrede der KrV darauf anspielen, dass Galilei ein Licht aufgegangen sei, nicht wie Aristoteles aus der sinnlichen Gewissheit der wiederholten All- tagsbeobachtung von der Natur etwas abzulernen (data-driven), sondern mit dem vorher entworfenen Fallprinzip in Corollarium I und mit dem Experiment an die Natur zu gehen (theory-driven). Galileis Vorgehensweise war somit nicht induktiv, sondern deduktiv, da er nicht von der sinnlichen Natur zu theoretischen Grundsätzen aufstieg, sondern von dem vorher entworfenen Plan eines Grund-

53 Galilei, Galileo: Discursus, 157  f.

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satzes zur empirisch überprüfbaren Natur herabstieg und aufgrund der oftmals wiederholten und nachprüfbaren Übereinstimmung zwischen Grundsatz und Natur das Fallprinzip zum Fallgesetz erhob.

So eindeutig Kant also auf das Kugelexperiment anspielt, so schwierig ist es, eine wortgenaue Übereinstimmung zwischen dem GTS-Satz und Galileis Corolla- rium I zu finden. Die Leiste bzw. der kleine Balken wird zwar auch im galileischen Folgetext noch manchmal als „planum inclinatum“ bezeichnet, aber nicht an der zitierten Stelle, in der das berühmte Kugelexperiment beschrieben ist. Galilei spricht hier auch nicht wie Kant von „Kugeln“, sondern nur von einer Kugel (pila); zudem bleibt Kants Ausdruck „von ihm selbst gewählte Schwere“ bzgl.

des Kugelexperiments im GTS-Satz rätselhaft: Wählt Galilei selbst die Schwere der schiefen Ebene (was grammatikalisch naheliegt, aber keinen Sinn ergibt), oder doch die Schwere der Kugeln oder die Schwere des Herabrollens? Auf keine dieser Fragen und Probleme kann allein Galileis Kugelexperiment oder m. W.

eine der daran anschließenden Untersuchungen im Corollarium I eine Antwort liefern.

Geht man aber im galileischen Text zurück und sucht nach weiteren Text- stellen zu den Fallgesetzen, so stößt man in den Discursus I auf eine Textstelle, die m. M. alle Probleme und Fragen lösen kann. Dort streifen die drei Disputan- den mehrfach die Frage nach den Bewegungsgesetzen, und Salviati erklärt, dass diese Theorie „vollkommen neu und auf den ersten Blick gleichsam fern von der Wahrheit“ (adeo est novum, & in prima apprehensione à similtudine veri adeo remotum) sei, die beweisenden Experimente und Überlegungen aber an anderer Stelle nachgeholt werden müssen (minime omittendam duco experientiam aut rationem, quæ illud corroborare queat).⁵⁴ Damit weist diese Textstelle aus den Discursus I schon sowohl deutlich auf die Einleitung der Discursus III als auch auf deren Corollarium I. Dieser Textbezug lässt sich nochmals dadurch unterstrei- chen, dass zum einen Salviati bzw. Galilei als einer der Erneuerer der Wissen- schaften (scientiis novatorum) vorgestellt wird und zum anderen dadurch, dass die Schwierigkeiten von Experimenten mit fallenden Körpern im Folgenden dar- gestellt werden. In dieser Textpassage finden wir nun eine vorweggenommene Erklärung für den Sinn und die Funktion des Kugelexperiments aus D. III, C. I:

54 Galilei, Galileo: Discursus, 75.

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Das Experiment mit zwei an Gewicht möglichst verschiedenen Körpern, die man aus einer bestimmten Höhe fallen lässt, um zu beobachten, ob sie die gleiche Geschwindigkeit erlangen, bietet einige Schwierigkeiten, weil bei großer Höhe das Medium, welches durch die Vorwärtsbewegung sichtbar und zur Seite gedrückt werden muss, größeren Einfluss auf einen leichten Körper als auf die starke Kraft eines schweren Körpers ausübt, weshalb bei weiterer Entfernung der leichtere gegenüber dem schwereren zurück- bleibt; und bei geringer Höhe könnte man zweifeln, ob eine Differenz wirk- lich vorhanden sei, da sie nicht beob- achtet werden kann. […] Außerdem:

Um Bewegung so langsam wie möglich zu beobachten, bei welcher solange die Veränderung verringert wird, wie der Widerstand des Mediums auf die einfache Schwere wirkt, habe ich die Körper über eine nicht viel von der Horizontalen angehobenen schiefen Ebene geschickt; auf einer solchen kann wie beim freien Fall beobachtet werden, wie sich Körper verschiede- nen Gewichtes verhalten; und zudem verschaffte mir dies die Möglichkeit, mich von dem Hindernis zu befreien, welcher von dem gegenseitigen Kontakt der Körper und der schiefen Ebene herrühren kann.

Illud Experimentum, quo duo Mobilia pondere quantum fieri potest diversa, ad observandum utrum eorum velo- citates sint æquales, ex certa quadam altitudine demittuntur, difficultati cuidam subjecta est: quoniam alti- tudine existente magna, medium, quod à cadentis impetu aperiri debet

& versus latera propelli, exiguo isti mobilis levioris momento obstabit magis, quam gravioris violentiæ, quare in longioro spatio levius à gra- viori post tergum relinquetur: & in exigua altitudine dubitari posset an revera nulla esset differentia, an vero aliqua, sed inobservabilis. […] Præte- rea, ut observationi subjicere possem motus etiam quantumvis tardos, in quibus resistentia medii minus ope- ratur quoad mutationem effectûs, qui à simplici gravitate dependet, Mobilia super plano declivi supra horizontale non multum elevato demittere consti- tui: super hoc enim non minus quam in perpendiculari deprehendi poterit id quod gravia ista pondere diversa sint factura: & ulterius progrediendo, ut à quodam impedimento adhuc me liberum præstarem, quod ex mutuo istorum mobilium & plani declivis con- tactu suboriri posset;⁵⁵

55 Galilei, Galileo: Discursus, 75  f.

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Im Kontext des Zitats wird ersichtlich, dass die unbestimmten Körper, von denen Galilei hier spricht, Kugeln („pilas“) sind. Damit bietet das Zitat zusammen mit der Kenntnis über die galileischen Errungenschaften in den Discursus III alle Bestandteile, um den ersten Teil des GTS-Satzes zu verstehen: 1) Wir haben Kants

„Kugeln“ als „zwei an Gewicht möglichst verschiedene Körper“, 2) wir haben Kants „schiefe Fläche“ nun explizit als „planum inclinatum“ und wir haben 3) die „von ihm selbst gewählte Schwere“, mit der Galilei die Kugeln herunterrol- len ließ. Mit Schwere (gravitas) ist bei Kant wie bei Galilei in dem angegebenen Zitat eigentlich die Gewichtskraft der Masse gemeint. Galilei hat diese „Schwere“

insofern „von ihm selbst gewählt“, d.  h. mittels der Neigung der schiefen Fläche angepasst, um die Fallgesetze der Kugeln verlangsamt beobachten zu können. Da man – wie Galilei im ersten Satz des angeführten Zitats auf Aristoteles anspielt – zweifeln könnte, ob bei rein sinnlicher Fallbeobachtung „eine Differenz wirk- lich vorhanden sei“, so verlangsamt er mittels der schiefen Ebene die natürliche Bewegung und überprüft daher mit „vorher entworfenem Plane“ die Prinzipien an gemachten Beobachtungen. Dabei stellt Galilei nicht nur fest, dass Aristoteles sich bzgl. der konstanten Fallgeschwindigkeit irrt, sondern dass auch die These, der zufolge die Schwere eines Körpers seine Fallgeschwindigkeit beeinflusse, falsch ist, da die Falldifferenz nicht von der Schwere, sondern vom Medium abhängt. Die Methodenrevolution, weg von der induktiven und hin zur deduktiv und experimentell arbeitenden Physik, führt somit zu der inhaltlichen Revolu- tion der Bewegungsgesetze. Neue Methoden bringen neue Erkenntnisse hervor.

2.2 Torricelli

Kants Referenz auf Torricelli weist vielerlei Schwierigkeiten auf: Ohne Zweifel spielt Kant im GTS-Satz auf die hydrostatische Leistung Torricellis an, wenn er davon spricht, dass dieser der „Luft ein Gewicht […] tragen ließ“. Unklar und pro- blematisch erscheint aber zunächst der Nebensatz: „was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte“. Obwohl man zu Kants Zeiten Luft als flüssiges Element klassifizierte und daher manchmal ‚Wassersäule‘

auch im Sinne von ‚Luftsäule‘ benutzt wurde,⁵⁶ so zeigen doch die einschlägi- gen Stellen in Kants naturphilosophischen Schriften, dass er deutlich zwischen Wasser- und Luftsäule unterschied. Da nun Torricellis berühmtes Experiment, das die Schwere der Luft nachwies, nicht primär mit einer Wassersäule, sondern mit einer Quecksilbersäule durchgeführt worden sein soll – so die herrschende

56 Vgl. bspw. Eberhard, Johann Peter: Erste Gründe der Naturlehre. Halle 1763, 256 (§ 228).

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Meinung in der Wissenschaftsgeschichte –, muss der Nebensatz als problema- tisch angesehen werden. Hinzu kommt, dass sogar noch heute in einschlägigen Wissenschaftsgeschichten das berühmte Experiment Torricellis in dem Kapitel De motv aqvarvm der Opera Geometrica (1644) falsch verortet wird, da das eigent- liche Experiment erst durch einen 1663 posthum veröffentlichten Brief an Miche- langelo Ricci bekannt geworden ist.

Hinweise, die zum Verständnis des Nebensatzes beitragen, findet man sowohl in Kants Danziger Physik als auch in einer zwar unautorisierten, aber sachlich zu Kants Vorlesungen passenden Textpassage aus Vollmers Physischer Geographie:⁵⁷

Johann Baptista Torricelli, Mathematiker am Hofe zu Florenz, fand das [sc. das Barome- ter] zuerst, und den leeren Raum über dem Queksilber nennt man den Torricellischen Raum. – Er fand auch dadurch die Schwere der Luft. – Er kam darauf, daß da der Grosher- zog Pumpen hatte anlegen lassen um Wasser auf Thürme in Bassins springen zu lassen;

der Gärtner sagte daß das Wasser wenn es aus der Pumpe 33 Fuß käme nicht höher steigen wollte. Er frug daher warum steigt überhaupt das Wasser? Die Alten sagten und alle vor ihm: die Natur abhorrirt vorm leeren Raum – horror vacui. Denn wenn der Kolben in die Höhe gezogen wird so würde ein leerer Raum entstehen. – horror vacui zeigt an, daß die Natur keinen leeren Raum läßt, sondern immer andre Körper eindringen. – Aber das erklärt nicht warum die Körper eindringen. – Nun fand er daß die Luft ein Gewicht habe und daß sie soviel wiegt als 33 Fuß Höhe einer Waßer Säule.⁵⁸

Wieviel dieser Druck [sc. der Luft] betrage, hat eigentlich zuerst ein Gaͤrtner in Florenz gefunden, der befremdet war, mit einer gemeinen Pumpe (Saugewerk) das Wasser nicht uͤber 30½ Fuß heben zu können. Er zeigte es dem Galilaͤi an, der nach einigen Versuchen fand, daß es sich nicht uͤber 32 Fuß heben lasse […].⁵⁹

Vergleicht man nun die zwei zu untersuchenden Texte (KrV, Negative Größen) mit den angeführten Zitaten (Danziger Physik, Physische Geographie) miteinander, so stellen sich mindestens drei Fragen: 1. Warum spricht Kant in der KrV von einer Wassersäule, in den Negativen Größen und der Danziger Physik aber von einem

57 Kant hat bekanntlich die Ausgabe von Vollmer nicht nur nicht autorisiert, sondern auch nicht als die seine anerkannt (vgl. Br, AA 12: 372). Der im folgenden Haupttext zitierte Abschnitt stimmt aber sachlich teilweise mit § 198 von Karstens Anleitung zur gemeinnützlichen Kenntniß der Natur überein, die Kant ab Sommer 1785 für seine Vorlesung verwendet hat. Aufgrund dieser sachlichen Übereinstimmung erkenne ich behelfsmäßig das Gärtner-Zitat aus Vollmers Ausgabe als kantisches an und verzichte im Folgenden auf den Hinweis, dass evtl. nicht Kant, sondern Vollmer der eigentliche Autor der Textpassage war.

58 Danziger Physik, AA 29.1,1: 137.

59 Kant, Immanuel: Physische Geographie. 1. Abt., Bd. 3: Die Beschreibung der Fluͤsse, Seen und der Atmosphaͤre. Mainz/Hamburg 1803, 148.

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Quecksilberexperiment bei Torricelli? 2. Warum schreibt Kant in der Danziger Physik die biographische Gärtner-Geschichte Torricelli, in der Physischen Geo- graphie aber Galilei zu? 3. Woher nimmt Kant die in der Danziger Physik und der Physischen Geographie leicht voneinander abweichenden Zahlen?

1. Nehmen wir an, dass Kant die Edition von Carlo Dati (Pseudonym:

Timaurus Antiates) kannte, in der Torricellis Brief an Ricci erstmals veröffent- licht wurde:⁶⁰ Dati weist darauf hin, dass Torricellis Experiment durch Galileis

„primo Dialogo della Resistenza de’corpi solidi“ motiviert wurde – damit ist der erste Dialogtag von Galileis Discursus gemeint. Tatsächlich findet man dort das von Kant geschilderte Wasserpumpenproblem (s.  u., Punkt 2), inkl. der von Dati angegebenen maximale Hubhöhe von „18. braccia“⁶¹. Nach Dati ist also Torricel- lis berühmtes Quecksilberexperiment vor allem eine Antwort auf das eigentliche Wasserpumpenproblem bei Galilei, so dass die in Frage 1 benannte scheinbare Diskrepanz zwischen der KrV und den Negativen Größen sowie der Danziger Physik wegfällt.

2. Die biographische Gärtner-Geschichte ist dagegen viel schwieriger histo- risch einzuordnen, da sich diese m. W. weder bei Torricelli noch bei Galilei findet.

In Galileis Discursus I spricht die Dialogfigur Sagredo nur davon, dass er einmal eine Pumpe gesehen habe, mittels derer „jemand“ Wasser aus einem Brunnen befördern wollte; da diese aber ab einer bestimmten Höhe (determinatam alter- tudinam) nicht mehr arbeitete, fragte Sagredo den Handwerker („Fabrum“) um Rat, der ihm versicherte, dass Wasser auch mit mechanischer Kraft höchstens 18 Ellen („octodecim cubitos“) hochsteigen könne.⁶² Hier ist weder die Rede von einem „Grosherzog“ noch von einem „Gärtner“⁶³ und auch die von Kant benutz- ten Kompendien von Erxleben, Karsten und Eberhard geben nicht ausreichend Infor ma tio nen, um das ‚Gärtner-Problem‘ (2.) oder auch das ‚Wasser-Quecksilber-

60 Zur Text- und Rezeptionsgeschichte vgl. Hellmann, G[ustav]: „Zum 250jährigen Jubiläum des Barometers“. In: Meteorologische Zeitschrift 12, 1894 (4), 445–450.

61 Lettera a Filaleti Di Timauro Antiate Delia Vera Storia delta Cicloide, E della Famosissima Esperienza dell’ Argento Viuo. Florenz 1663, 20.

62 Galilei, Galileo: Discursus, 15: „Observavi Cisternam, in qua ad extrahendam aquam const- ructa erat Antlia cujus ope minori cum labore eandem aut majorem aquæ quantitatem, quam urnis communibus, forsan (sed frustra,) attolli posse credebam. […] Ego, cum prima vice accidens istud observarenn, instrumentum iractum esse credens, Fabrum accersivi, ut illud repararet.“

63 M. W. besitzt die Textstelle aus den Discursus zwar einen biographischen Hintergrund, den man in Galileis Briefwechsel mit Giovanni Battista Baliani im Jahr 1630 herauslesen kann, aber auch dort spricht Galilei nur davon, dass er dasselbe Problem bzgl. der maximalen Hubhöhe von Wasser „vor langer Zeit entdeckt“ habe (6. Aug. 1630: un mio problema, più tempo fa esaminato) wie Belini es ihm im Brief vom 27. Juli 1630 schilderte.

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Problem‘ (1.) zu lösen.⁶⁴ Glücklicherweise gibt Kant aber bereits einige Sätze vor der zitierten Stelle aus der Physischen Geographie Descartesʼ Briefwechsel mit Mersenne⁶⁵ als Referenz für die These der Schwere der Luft und für die Antwort des Quecksilberexperiments auf das Wasserpumpenproblem an. In den ange- gebenen Briefen findet man tatsächlich nicht nur diese Themen, sondern auch ein biographisch anmutendes Problem bewässerter Gärten (T II, Ep. XCIV, 304:

rigandos hortos), so dass man vermuten kann, dass Kant sich über den Descartes- Mersenne-Briefwechsel Galileis Discursus und Torricellis Brief an Ricci erschlos- sen haben könnte. Die Gärtner-Geschichte wurde aber schon vor Kant in der deutschen Literatur tradiert⁶⁶ und müsste intensiver von der aktuellen Galilei- Forschung untersucht werden, als es hier getan werden kann.

3. Auch die Zahlenangaben bleiben zunächst rätselhaft: In der Physischen Geographie soll laut Kant der Gärtner eine maximale Hubhöhe von 30½ Fuß angegeben, Galilei dagegen auf 32 Fuß korrigiert haben. Die Umrechnung der „18.

braccia“ (Dati) bzw. „octodecim cubitos“ (Galilei) auf Fuß dürfte Kant von Erx- leben übernommen haben, der in § 214 der Anfangsgründe der Naturlehre beim Quecksilber(!)-Experiment von „mehr als 32 rheinländischen Fuß“ spricht. Da Kant nun auch in der Danziger Physik das Resultat von Torricellis Quecksilber- experiment mit den Worten zusammenfasst, dass „Luft ein Gewicht habe und daß sie soviel wiegt als 33 Fuß Höhe einer Waßer Säule“, erschließt sich jetzt nun auch der zweite Teil des problematischen GTS-Satzes sinngemäß: Mit der

„ihm bekannten Wassersäule“ ist Galileis bestimmte Hubhöhe von „octodecim cubitos“ gemeint. Kant behauptet also in der KrV, dass Torricelli die von Galilei in Discursus I angedeutete antiaristotelische Theorie – also Luft drückt mit einem Gewicht, nicht Natur zieht aus Furcht vor dem Vakuum – als Hypothese mit Hilfe der bestimmten Hubhöhe von Wasser zu verifizieren versucht. Damit ist es wahr- scheinlich, dass Kant 1. diese revolutionäre Umänderung der Denkart von der sinnlichen Zug- zur ‚unsinnischen‘ Drucktheorie wahrscheinlich nur aus Torricelli

64 Erxleben kontrastiert in § 214 der Anfangsgründe der Naturlehre das Quecksilberexperiment, das er richtig auf das Jahr 1643 datiert, mit dem Wassersäulenproblem. Die Anleitung zur gemein- nützlichen Kenntniß der Natur von Karstens verweist zwar in § 54 auf Torricelli, beschreibt aber nur kurz das Quecksilberexperiment. Eberhard, dessen Erste Gründe der Naturlehre Kant wohl schon ab 1755 verwendete, beschreibt zwar in § 230 das Torricelli-Experiment sowohl mit Was- ser als auch mit Quecksilber, erwähnt aber Torricelli nur flüchtig (§ 253). M. W. reicht somit kein Kompendium, das Kant seiner Physikvorlesungen zu Grunde gelegt hat, aus, um die Torricelli- Abschnitte aus der KrV und der Danziger Physik ausreichend zu rekonstruieren.

65 Kant verweist auf: „Renati Des Cartes epistolae Amstelod. 1863. 4. T. II. ep. 91. p. 277. 278 ep.

94. p 304 ep. 96. p. 311. T. III. ep. 102. p. 297–399. ep. 105. p. 402. f. 404. [sic]“.

66 Einschlägig ist bes. Neumann, Caspar: Chymia medica dogmatico-experimentalis, tom. I, pars I. Zuͤllichau 1749, 188 (= Abschn. V, Cap. 2, § 16).

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selbst herausgelesen haben kann und 2. dass er Torricellis Quecksilberexperiment meint, obwohl er in dem Nebensatz von GTS nur von einer Wassersäule spricht.

Die Wahrscheinlichkeit dieser Interpretation erhöht sich, wenn man Torricel- lis Brief an Ricci genauer examiniert:

Ich [sc. Torricelli] habe Ihnen [sc. Ricci]

gegenüber bereits kurz erwähnt, dass man einige philosophische Experimen- te über das Vakuum durchgeführt hat, nicht bloß um ein Vakuum zu erzeu- gen, sondern um ein Instrument herzu- stellen, das die Veränderungen der Luft anzeigen würde, welche bald schwerer und dicker, bald leichter und dünner wird. […] Ich habe so gedacht: wenn ich eine handfeste Ursache finden würde, aus welcher die Resistenz entstünde, die man beim Erzeugen eins Vakuums fühlt, so würde ich vermuten, dass man vergeblich versuchen würde, dem Vakuum diese Wirkung zuzuschreiben, welche offensichtlich aus einer anderen Ursache entsteht; vielmehr [würde ich vermuten], dass bei bestimmten ganz einfachen Kalkulationen, ich doch finden würde, dass die von mir ange- gebene Ursache (nämlich das Gewicht der Luft) an sich und allein einen grö- ßeren Kontrast bewirken sollte, als sie es macht, wenn jemand versucht ein Vakuum zu erzeugen.

Le accennai già che si staua facendo non sò che esperienza filosofica intorno al vacuo, non per fare sem- plicemente il vacuo, ma per fare uno strumento, che mostraste le mutazioni dell’aria, ora più graue, e grossa, & ora più leggiera, e sottile. […] Io discor- reua così; se trouassi una causa mani- festissima, dalla quale deriui quella resistenza, che si sente nel voler fare il vacuo, indarno mi pare si cercherebbe di attribuire al vacuo quella operazi- one, che deriua apertamente da altra cagione, anzi che facendo certi calcoli facilissimi io trouo, che la causa da me adattata (cioè il peso dell’aria) doue- rebbe per se sola far maggior contrasto, che ella non fà nel tentarsi il Vacuo.⁶⁷

In diesen einleitenden Passagen erklärt Torricelli, dass es bei diesem Experiment ursprünglich nicht seine Intention war, ein Vakuum zu erzeugen; vielmehr wollte er ein Baroskop entwickeln; er erklärt im Folgenden aber, dass es Schwierigkei- ten bei der Vakuumerzeugung gebe, die seiner Meinung nach allerdings nicht vom Vakuum selbst verursacht würden, wie es die herrschende Meinung sei,

67 Torricelli, Lettera a Filaleti Di Timauro Antiate, 20.

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sondern die vom Gewicht der Luft abhängen. Nun greift Torricelli zunächst auf Galileis Erkenntnisse zurück:

Wir leben versunken auf dem Boden eines aus elementarer Luft bestehen- den Meeres, welche durch unzweifel- hafte Experimente als schwer erkannt wurde  – und [zwar] so schwer, dass diese dichteste Luft nahe der Erdober- fläche ungefähr ein Vierhunderstel des Wassergewichtes wiegt.

Noi viuiamo sommersi nel fondo d’vn pelago d’aria elementare, la quale per esperienze indubitate si sà che pesa, e tanto, che questa grossissima vicino alla superficie terrena pesa circa una 400. Parte del peso dell’ acqua.⁶⁸

Torricelli bezieht sich bei dieser Verhältnisangabe auf die gali- leischen Ballonexperimente aus den Discursus I, die interessan- terweise kurz vor der von uns in Kap. 2.1 besprochenen galilei- schen Textpassage dargestellt werden.⁶⁹ Alle bislang genannten Angaben stellen die Rahmenbedingungen und Prämissen für die nun folgenden Experimente und für die daraus gezogenen Schlüsse dar. Um seine Experimente zu beschreiben, greift Tor- ricelli auf eine Zeichnung zurück und erklärt, dass er mehrere Glasgefäße mit einer Halshöhe von zwei Ellen (di collo lungo due braccia) hergestellt habe, deren Hälse zum unteren Ende geschlossen, zum oberen mit einer Öffnung versehen waren.⁷⁰ Zunächst füllte er einige vollständig mit Quecksilber, legte den Finger (dito) auf die Öffnung (bocca), drehte das Glasgefäß und tauchte dann die Öffnung in ein weites Gefäß, dass – bis zum Punkt C in der Zeichnung – ebenfalls mit Quecksilber gefüllt war. Als Torricelli den Finger losließ, glaubte er, dass nichts in dem Becken unterhalb geschehen könne (e non succeder niente, nel vaso che si votava). Allerdings senkte sich immer der Meniskus im Hals (A, B) auf eine Höhe von etwas weniger als zwei Ellen (il collo però AD restava sempre pieno all’altezza d’un braccio, e un quarto, e un dito di più).

Um nun zu zeigen, dass in AE tatsächlich ein Vakuum sei (per mostrar che il vaso fusse perfettamente voto), entwickelt Torricelli ein zweites Experiment:

68 Torricelli, Lettera a Filaleti Di Timauro, 21.

69 Vgl. Galilei, Galileo: Discursus, 72.

70 Diese und die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Lettera a Filaleti Di Timauro Anti- ate, 21.

(24)

Er füllt das untere Becken bis zu D mit Wasser und hebt das Glasgefäß nach und nach an. Als die Öffnung mit dem Wasser in Berührung kommt, schießt das Quecksilber aus dem Gefäß herab mit „grauenerregender Kraft“ (impeto orribile), das sich dann gänzlich mit Wasser bis zum Zeichen E (fino al segno E) füllt. Nur beide Experimente zusammen bestätigen Torricellis Hypothese, dass die grauen- erregende Kraft, die das Wasser im Hals höher als das Quecksilber drückt, nicht vom horror vacui angezogen, sondern vom Druck der Luft verursacht wird – dies, und nicht die Erzeugung des Vakuums, war ja sein Hauptanliegen: Obwohl von den drei Elementen Luft das geringste ‚Gewicht‘ aufweist, drückt doch die Luft- masse der Atmosphäre (pelago d’aria elementare) das Quecksilber als schwers- tes Element zwar nicht vollständig (nur bis A), aber hingegen das etwas leich- tere Wasser vollständig im Glasgefäß nach oben (bis E). Erst höhere Glasgefäße zeigen, dass sich der Wasser- mit dem Quecksilbermeniskus relativ zum spezifi- schen Gewicht der beiden ‚Elemente‘ ausgleicht, wie der Experimentator im wei- teren Brief schreibt. Torricelli muss insgesamt ein ‚Licht aufgegangen sein‘, dass nicht die induktive Beobachtung eines ziehenden und sich somit selbst eliminie- ren wollenden Vakuums die unterschiedlichen Quecksilber- und Wassersäulen erklären kann (vgl. Arist. Phys. 213a22  ff.; Probl. phys. 914b9  ff.), sondern dass sich beide Experimentresultate nur mit Hilfe der Hypothese der drückenden Luft erfolgreich vorhersagen lassen. Diese Revolution der Denkart, auf die Kant in der KrV anspielt, finden wir letztendlich in der Auswertung Torricellis:

[…] hinsichtlich dieser Kraft, welche das Quecksilber  – entgegen seine Naturveranlagung, hinunterzufallen – festhält, wurde bis jetzt geglaubt, dass sie sich innerhalb des Gefäßes AE befände und entweder auf das Vakuum oder auf eine sehr verdünnte Substanz zurückzuführen sei; aber ich asseriere, dass sie extern sei und dass die Kraft von außerhalb komme. Auf der Ober- fläche der Flüssigkeit, welche in der Schüssel ist, lastet das Gewicht von der Höhe von 50 Meilen Luft. Warum sollte es also verwundern, wenn innerhalb des Gefäßes CE  – in der

[…] questa forza, che regge quell’argento viuo contro la sua naturalezza di ricader giù[,] si è creduto fino adesso[,]

che sia stata interna nel vaso AE, o di Vacuo, o di quella roba sommamente rarefatta; ma io pretendo, che la sia esterna, e che la forza venga di fuori.

Su la svperficie del liquore, che è nella catinella gravita l’altezza di 50. miglia d’aria; però qual maraviglia è, se nel vetro CE, doue l’argento viuo non hà inclinazione, ne anco repugnanza per non esserui nulla, entri, e vi s’innalzi fin tanto, che si equilibri cō[l]la grauità dell’aria esterna, chelo spigne?⁷¹

71 Torricelli, Lettera a Filaleti Di Timauro Antiate, 21.

(25)

das Quecksilber keine Neigung, noch irgendeine Repugnanz hat, da selbst nichts da ist – sie [sc. die Luft] eintritt und soweit nach oben steigt, dass sie sich mit dem Gewicht der Außenluft ausgleicht, welche sie antreibt?

In den Worten der ‚kopernikanischen Wende‘ behauptet Torricelli somit: Bisher nahm man an, alle unsere Erklärungen über die Quecksilber- und Wassersäulen müsse sich nach einer inneren Kraft (horror vacui) richten; aber alle Versuche über die maximale Hubkraft der spezifischen Elemente gingen unter dieser Vor- aussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Kraft müsse von außen (Gewicht der Luft) kommen. Die Erklärungsaporie führt somit bei Torricelli zu der Krise, sich für eine neue Methode zu entscheiden. Torricelli schließt gegen Ende seines Briefes dann auch mit der von Kant bekannten Wegmetapher, die die sichere Wissen- schaft der Hydrostatik diagnostiziert:

Ich habe dann versucht, mit diesem Prinzip alle Arten des Widerstandes zu lösen, welche man in den verschie- denen, dem Vakuum zugeschrieben Effekten erfährt; wobei ich bis jetzt kein Element gefunden habe, mit dem es nicht so gut geht.

Ho poi cercato di saluar con questo principio tutte le sorte di repugnanze, che si sentono nelli varij effetti, attri- buiti al Vacuo, ne vi hò fin’hora incon- trato cosa che non camminì bene. ⁷²

Die Revolution der Denkart – gegen ein von der Natur wiederholt abgelerntes horror vacui (data-driven) und für eine selbst angenommene und konstruierte Schwere der Luft (theory-driven)  – hat den sicheren Weg der Wissenschaft in der Hydrostatik begründet, die sich durch die unfehlbare Anwendung auf alle bekannten Effekte experimentell als erfolgreiche Methode bewährt hat.

2.3 Stahl

Sucht man in den Werken Georg Ernst Stahls nach Parallelen zu Kant, so wird man bereits in der Vorrede zum Beweis von den Saltzen fündig. Denn die dort

72 Ebd., 21.

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